Donnerstag, 14. Dezember 2017

Der Höhepunkt im "Hohlspiegel" 2017.


Die wohl, wenn man es so nennen möchte, schönste Meldung aus dem Hohlspiegel des Jahres 2017, abgedruckt im "Spiegel" 32/2017, stammte ursprünglich vom Internetauftritt der Konkurrenz focus.de und produzierte eine Stilblüte, aus der Edgar Allan Poe eine wunderbare Geschichte gemacht hätte - klingt sie doch eigentlich selbst schon wie der Plot in Kurzfassung einer seiner Erzählungen:
 
 
"Auf einer Kreuzfahrtreise in Alaska artete ein Ehestreit aus: Ein Amerikaner aus dem Bundesstaat Utah soll seine Frau umgebracht und dann versucht haben, die Leiche über Bord zu werfen - weil sie nicht aufhörte zu lachen." 
 
 
Spiegel 32/2017
 

Dienstag, 5. Dezember 2017

Lektüremonat November 2017.


Der Literaturrückblick für den Monat November, wie gewohnt beschränkt auf die fiktionalen Lesefrüchte.

Paul Léautaud: Literarisches Tagebuch 1893-1956.

Léautaud (1872-1956), jahrzehntelanger Redakteur und vor allem Theaterkritiker des „Mercure de France“, war ein eigenwilliger Kauz, der am Rande von Paris in einem kleinen Anwesen mit teils über fünfzig Tieren lebte – sie im Erdgeschoss, er im ersten Stock –, zunehmend das Aussehen eines Clochards annahm und je älter, desto schroffer in seinen Urteilen wurde. Die Veröffentlichung seines Tagebuchs, teils noch zu Lebzeiten, war eine Sensation. Der Band aus der legendären rowohlt-Reihe „das neue buch“ versammelt eine Auswahl, deren Reiz vor allem das Wiederbegegnen mit vielen Größen der französischen Literatur von Huysmans über Apollinaire, von Gide bis Bréton, von Claudel bis Valéry ist, begleitet von den wenig zurückhaltenden Beobachtungen Léautauds. Für LiebhaberInnen der französischen Kultur.

Heliodor: Die äthiopischen Abenteuer von Theagenes und Charikleia.

Der gebildete Römer schätzte natürlich seinen Vergil und Ovid, aber wenn er etwas zur Entspannung lesen wollte, griff er sicher lieber zu Autoren wie Heliodor, über den wir wenig wissen, außer seiner typischen Multikulti-Herkunft: er war ein Phönizier, der im Römischen Reich auf griechisch schrieb – über Ägypten und Äthiopien zur Zeit der Perser. Deshalb hieß sein Abenteuerroman ursprünglich schlicht „Aethiopica“ und bietet alles, was von so einem Werk in der Spätantike erwartet wurde: Das Liebespaar Charikleia und Theagenes gerät von Beginn an (der prompte Einstieg sind die Überreste eines Gemetzels) von einem Schlamassel ins nächste: Raubüberfälle, Entführungen, Intrigen, Verwechslungen, Gefangenschaft, Folter, Todesurteile – um am Ende dann doch glücklich zu enden. Die kolportagehafte Aneinanderreihung von Schicksalsschlägen, gemischt mit subtiler Erotik und sehr viel Exotik hat auch gut 1700 Jahre später nichts von Ihrem Reiz verloren.    

Aelian: Die tanzenden Pferde von Sybaris. Tiergeschichten.

Und gleich noch ein äußerst beliebtes Genre der Römer, Anthologien von Anekdoten, denn Aelian (um 170 – 230), eigentlich Claudius Aelianus, schrieb keine Fabeln, sondern sammelte „Eigenheiten der Tiere“, wie das Buch im Original hieß – er veröffentlichte auch ein Pendant mit „Bunten Geschichten“ über Menschen. Das verwundert vielleicht, denn Aelianus war ein stadtrömischer Philosoph, der sophistischen Richtung angehörend, andere Werke widmen sich der Vorsehung oder klagten Kaiser Elagabal an, doch auch aus dem Wissen über Tiere sollten die Mitmenschen ihre Lehren ziehen. Und so reihte Aelianus Kurioses und Erstaunliches, Bizarres und Wunderliches aus der Tierwelt ungeordnet aneinander, noch heute ein absolutes Lesevergnügen und Schmuck für jedes Partygespräch – und wenn sich der Zuhörer an Geschichten wie zum Beispiel derjenigen vom Seeigel stört, den man laut Aelianus in seine Einzelteile zerlegen und dann ins Wasser werfen kann, wo er wieder von allein zusammenwächst, dann antworte man ihm einfach mit dessen eigenen Worten: „Es ist meine Eigenheit, dass ich nicht Sklave des Urteils oder des Gutdünkens anderer bin.“  
 


Hans Fallada: Der eiserne Gustav.

Wer Fallada (1893-1947) schon lange kennt, wundert sich noch immer, dass er erst über das Ausland vermittelt endlich auch in Deutschland reichlich spät die verdiente Anerkennung der Kritik erhält. Ein großes Publikum hatte er schon immer, was vielleicht zu früheren Fehlurteilen beitrug. Der Klappentext der Taschenbuchausgabe von 1979 nennt Falladas Roman „volkstümlich“ und verweist auf die Verfilmung mit Heinz Rühmann (1958), beides symptomatisch für die Verkennung. Denn der eiserne Gustav ist keineswegs ein jovialer Kutscher mit Berliner Schnauze, sondern das Portrait eines starren Überlebten, der vom Mythos seiner preußischen Militärzeit nicht loskommt und damit seine Familie und das Glück seiner Kinder zerstört. In seiner unübertrefflichen Art schildert Fallada illusionslos das Leben der Kleinbürgerschicht am unteren Gesellschaftsrand zwischen 1914 und 1928, deren Sicherheiten ebenso verschwinden wie Gustav Hackendahls Droschkengewerbe. 

George Orwell: Mein Katalonien. Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg.

Sechs Monate kämpfte George Orwell (1903-1950) auf Seiten der Republik im spanischen Bürgerkrieg, nach einer Verwundung kehrte er zurück nach England und verfasste – was den besonderen Reiz des Buches ausmacht – 1938 seinen Bericht über das Erlebte, noch bevor das demokratische Spanien untergegangen war. Eine der üblichen Kriegsmemoiren darf man von Orwell nicht erwarten, nicht nur fehlt jeglicher Heroismus, die meiste Zeit ist geprägt von Langeweile und Verdruss: über die mangelnde Ausrüstung, Planung, die Streitereien der Republikaner in der Etappe. Es wird kaum gekämpft in diesem Buch und wenn, dann recht erfolglos. Orwell war beeindruckt von der Solidarität der Miliz an der Front, aber enttäuscht von den Zerwürfnissen der Politiker in Barcelona. Detailliert beschreibt er die Machtkämpfe, die letztlich von den Kommunisten initiiert, jede Aussicht auf den Sieg gegen Franco verunmöglichen sollten. Orwell zog daraus die Konsequenz, vor dem Stalinismus genau so zu warnen wie vor den europäischen Faschismen. Er blieb ein mahnender Außenseiter – der im Buch immer auch die Subjektivität seiner Beobachtungen hervorhob. Sollte wieder und wieder gelesen werden.  

Egon Erwin Kisch: Geschichten aus sieben Ghettos.

Ein Band aus einer der verdienstvollsten Buchreihen überhaupt, Fischers „Bibliothek der verbrannten Bücher“, die viele Schätze der Exilliteratur gehoben und bewahrt hat. Kisch (1885 – 1948), der unerreichte Meister der literarischen Reportage, reiht Erzählungen über jüdisches Leben aus vielen Jahrhunderten, in der tragikomischen Mischung aus Witz und Katastrophe, die sich bewusst zu sein scheint, dass noch viel Schlimmeres kommen würde – allein die Veröffentlichung des Bandes 1934, natürlich nur noch im Ausland möglich, war ein Statement des engagierten Schriftstellers Kisch, und unter der erzählerischen Leichtigkeit verbirgt sich bereits die Bedrohung – tatsächlich wird vieles, was Kisch hier schildert, wenige Jahre später vollends verschwunden sein.  

Sylvie Germain: Tobie des marais.

Tobie aus den Sümpfen ist der jüngste Spross einer Familie, deren verstorbene Mitglieder verschwinden – sie fallen ins Meer, in die Massengräber der Nazis, ihr Schicksal bleibt oft ungeklärt wie ihre Körper unauffindbar. Sarra ist dagegen mit einem anderen fatalen Problem konfrontiert: jeder Junge, der sie küsst, verfällt unweigerlich dem Tod. Der geheimnisvolle Raphael taucht auf, führt die beiden Gezeichneten zueinander und erlöst damit sie und ihre Familien. Angelehnt an biblische Vorbilder schreibt Sylvie Germain (geb. 1954) einen ziemlich ungewöhnlichen tragisch-melancholischen Gegenwartsroman in wechselndem drastischen und poetischen Realismus mit liebevoller Charakterisierung ihrer Figuren.    
 
Lektüremonat Oktober 2017.                    

 

Freitag, 24. November 2017

Das Zitat zum Freitag.


"Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muß den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat."
 
 
Erich Kästner (1899-1974) in seiner Rede zum 25.Jahrestag der Bücherverbrennung der Nazis - der er als einziger Schriftsteller, deren Texte dort ins Feuer geworfen wurden, als Zuschauer beigewohnt hatte.
Die Rede ist insgesamt sehr lesens- und bedenkenswert, wie der gesamte Band, in dem sie abgedruckt wurde:
 
Klaus Schöffling (Hg.): Dort, wo man Bücher verbrennt. Stimmen der Betroffenen. Frankfurt/Main: Suhrkamp: 1983.  

 

Dienstag, 7. November 2017

Lektüremonat Oktober 2017.


Ein kleiner Rückblick über die Lektüren des Monats Oktober, der Übersichtlichkeit halber beschränkt auf die fiktionale Literatur.


Anais Nin: Ein Spion im Haus der Liebe.

Die einstige Grande Dame der amerikanischen Literatur (1903-1977), die in Europa und den USA zuhause war, ist vor allem bekannt für ihre Tagebücher und den erotischen Klassiker „Das Delta der Venus“. Der kurze Roman entstammt ihren literarischen Anfängen und ist doch sehr charakteristisch: eine Frau nimmt sich das Recht auf Liebhaber, ohne ihrem Ehemann untreu sein zu wollen. Damals skandalös, hat das Buch mit dem ebenso symptomatischen wie genialen Titel, der den Beobachterstatus mit der Vorgaukelei verbindet, eigentlich nichts von seiner inhaltlichen Brisanz verloren: einerseits ist die Protagonistin emanzipiert selbstbewusst, andererseits voll verzweifelter Unsicherheit. Trotzdem wohl eher etwas für einen Leserkreis, der mit diesem Dilemma zu kämpfen hat. 

Marie NDiaye: Selbstportrait in Grün.

Die preisgekrönte französische Schriftstellerin (geb. 1967) berichtet in ihrem Roman von 2005 aus der Sicht einer jungen Mutter in der französischen Provinz von deren zunehmenden Begegnungen mit Frauen in Grün. Diese sind keineswegs irgendwelche Unbekannte, sondern Freundinnen, Bekannte, die Mutter und Schwestern, deren Farbenwechsel zugleich eine abrupte Wesensveränderung anzeigt, die zumeist einen dauerhaften Abschied vorwegnimmt. Das Problem: nur die Protagonistin nimmt dieses Changieren ins Grüne wahr, das Kleidung und Augenfarbe betrifft. Nicht zu vergessen: das Buch heißt Selbstportrait in Grün – unterliegt die Erzählerin folglich dem gleichen Phänomen? Ihr Bericht mit dem ironischen Unterton versucht eine Distanz zu dem unheimlichen Geschehen zu schaffen, nicht zu Unrecht fürchtet sie nämlich, dem Wahnsinn zu verfallen. Doch vielleicht ist dies längst schon geschehen. Sehr raffinierter Roman, der die Wahrnehmungen der Erzählerin und der Leserinnen und Leser in Frage stellt.

Arthur Koestler: Als Zeuge der Zeit. 

Ein echtes Selbstportrait eines der international bekanntesten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, der einen der politisch einflussreichsten Romane dieses Jahrhunderts verfasst hat: „Sonnenfinsternis“, seine Abrechnung mit dem Stalinismus, die den Mythos des Kommunismus literarisch entzaubert hat wie später nur noch Solschenizyns „Archipel Gulag“. Dass Koestler (1905-1983) ein berichtenswertes Leben geführt hat, steht ebensowenig außer Frage wie sein journalistisch ausgebildetes Talent, die seine Autobiographie zum großen Lesevergnügen macht. Freundlicherweise schickt er als Vorwort gleich seine Skepsis gegenüber diesem Genre voraus, an die man sich unbedingt auch bei ihm halten sollte: nicht nur war er ein großer Stilist, sondern ein nicht geringerer Selbststilist. Wirkt er in vielem zwar kritisch sich selbst gegenüber, muss man gleichwohl wissen, dass Koestler in vielem ein fragwürdiger Zeitgenosse war, dem das Manipulieren seiner Mitmenschen selbst nicht allzu schwer fiel. Folgerichtig zitiert der Klappentext ein vermeintliches Bonmot Albert Einsteins: „Der liebe Gott weiß alles, Arthur Koestler weiß alles besser.“ Was nichts ändert an seinem oft mutigen Verhalten, seinem aufregenden Dasein in vielen Welten, Ideologien und Zeiten, wobei er weit mehr war als nur Zeuge, sondern oft inmitten des Geschehens. Ein Buch, das mehr verrät über das vergangene Jahrhundert als manch Geschichtsbuch.

Bernhard Lassahn: Prima! Prima! Ein Beo im Eissalon.

Angelika und Hubert werden zu Anna Gina und Umberto und eröffnen in der schwäbischen Provinz eine kleine italienische Eisdiele. Doch leider hält sich der Erfolg in Grenzen, bis Anna Gina auf die Idee kommt, zur Belebung des Geschäftes einen sprechenden Beo anzuschaffen. Das hat, wie nicht anders zu erwarten, unvorhersehbare Folgen – oder wie der Beo sagen würde: Probleme! Probleme! Lassahns (geb. 1951) kurzer Jugendroman erschien in der legendären Rotfuchs-Reihe und wurde von der noch legendäreren Amelie Glienke illustriert, bestens bekannt durch ihre Zeichnungen des Kleinen Vampirs. Amüsant auch für Erwachsene, auch wenn man’s wohl nur einmal liest.

Anatol Feid: Keine Angst, Maria! Eine wahre Geschichte aus Santiago de Chile.

Und noch ein Buch aus der Rotfuchs-Reihe. Die Erzählung repräsentiert den aufklärerischen Anspruch der Reihe und berichtet von einem Vorfall aus der chilenischen Diktatur der Achtziger Jahre. Der Autor, Anatol Feid (geb. 1942), katholischer Priester mit befreiungstheologischem Hintergrund, berichtet vom Alltag in den Elendsvierteln ohne schwarz-weißen Betroffenheitskitsch. Am Beispiel des erschossenen Bruders der zehnjährigen Maria, eines Kleinkriminellen aus Not, zeigt Feid, dass Armut nicht nur unsolidarisch und korrumpierbar macht, sondern gerade dies von der Diktatur zur Erhaltung ihrer Macht perfide ausgenutzt wird. Eine Methode, die an ihre Grenze gerät, sobald die Slumbewohner zusammenhalten – wofür manche von ihnen allerdings mit dem einzigen bezahlen, was sie noch besitzen: ihrem Leben.  

Louis Malle: Au revoir, les enfants.

Frankreich war Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, passend dazu die Lektüre im Original des französischen Regie-Altmeisters Louis Malle (1932-1995). Das zur Erzählung aufbereitete Drehbuch des Films von 1987 berichtet eine autobiographische Episode aus der Kindheit Malles: im Klosterinternat zur Zeit Vichy-Frankreichs kommen drei neue Schüler an, der Protagonist freundet sich nach einigem Abtasten mit dem verschlossenen Ankömmling Bonnet an. Er wittert ein Geheimnis hinter dem introvertierten Jungen, nicht zu Unrecht, wie sich am Ende herausstellt. Bonnet und die beiden anderen Kinder sind Juden, die von den in der Resistance engagierten Patres versteckt gehalten werden. Durch einen Verrat jedoch kommt es zu einem tragischen Tod der Kinder und des Klostervorstehers. Auf seine stille zurückhaltende Art nichts weniger als ein Meisterwerk.
 
Eugene O’Neill: Long Day’s Journey into Night.

Die Mutter: eine verkappte Nonne, die nach dem Tod ihres zweiten Kindes aus Schuldgefühlen einen verspäteten dritten Sohn gebiert und durch einen ärztlichen Kunstfehler morphiumsüchtig wird. Der Vater: ein Schauspieler, der statt mit den geliebten Shakespearestücken durch rührselige Dramen zu Geld kommt, das ihn wiederum zu krankhaftem Geiz verleitet. Der ältere Sohn: ein erfolgloser Schauspieler und Säufer, der seinen jüngeren Bruder ebenso liebt, wie er ihn aus Neidgefühlen verachtet. Der jüngere Sohn: perspektivlos dahinlebend, wird bei ihm Tuberkulose diagnostiziert, Ausgang ungewiss. Typische konstruierte Situation eines Dramatikers? Weit gefehlt. O’Neills (1888-1953) langes Theaterstück von 1940 ist eine genaue Abbildung seiner eigenen Familie – er ist der jüngere Sohn – die er mit dem symbolhaften Titel auf die Bühne brachte;  mit Sperrvermerkt für die ersten 25 Jahre nach seinem Tod. Für LiebhaberInnen von Familienselbstzerfleischungen.
 

Marguerite Duras: Aurelia Steiner.

Noch eine Drehbuchadaption aus der Feder einer französischen Ikone, doch in ganz anderer Form. Marguerite Duras (1914-1996) erzählt das Schicksal der beiden Frauen namens Aurelia Steiner – Mutter und Tochter – in drei kurzen Berichten aus poetischen Versatzstücken. Zwei der avantgardistischen Stücke wurden verfilmt, was vermutlich so nur im Frankreich jener Jahre möglich war. Aurelia Steiner bringt im KZ mit 18 Jahren eine Tochter zur Welt: die andere Aurelia Steiner. Die kann ihr Schicksal und das ihrer Mutter, die die Geburt nicht überlebt, nur aufarbeiten, indem sie zu schreiben beginnt. Bewegende, aber nur schwer zugängliche Umsetzung eines kaum zu begreifenden Schicksals. 

André Georgi: Tribunal.

Thriller aus dem Hause Suhrkamp. Jasna Brandic ist Ermittlerin für das Den Haager Kriegsverbrechertribunal, das sich gerade um die Aufarbeitung des Bosnienkrieges bemüht. Leider kommt ihr der der mühsam aufgefundene Kronzeuge bei einem Attentat kurz vor seiner Aussage abhanden. Jasna selbst überlebt und bekommt eine zweite Chance, den berüchtigten Anführer der „Wölfe“ dank eines weiteren aussagewilligen Mitkämpfers doch noch zu überführen. Ihre Suche vor Ort in Serbien offenbart einiges mehr als ihr lieb sein kann. Mittelspannendes Genrewerk Georgis (geb. 1965) mit sanftem politischen Anspruch, teilweise überbrutal. 

Anna Katharina Hahn: Das Kleid meiner Mutter.

Vor gut zehn Jahren noch ein Geheimtipp, ist Anna Katharina Hahn (geb. 1970) inzwischen eine etablierte und zurecht hochangesehene Autorin. Was wie eine Zeitdiagnose beginnt, die das Leben der von Arbeitslosigkeit betroffenen spanischen Jugend – insbesondere der akademischen – nach der Finanzkrise schildert, wird zu einem verschachtelten Roman über die Geheimnisse der eigenen Eltern – die gleichzeitig sterben und sich in schrumpfende Puppen verwandeln –, einen mysteriösen deutschen Schriftsteller, Verwandlungen und das Verschwinden der Grenzen zwischen Realität und (Wunsch)Phantasie. Klingt kompliziert, ist aber sehr gut lesbar und nimmt mit jeder Seite an Fahrt auf. 

Franz Innerhofer: der Emporkömmling.

Innerhofer (1944-2002) schockte den Literaturbetrieb einst mit seinem heute legendären Anti-Heimatroman „Schöne Tage“ (1974), in dem er mit hartem Realismus und gewaltiger Sprachkraft das Leben eines geschundenen unehelichen Kindes als missbrauchter Knecht schilderte – ein Buch, das noch immer Pflichtlektüre sein sollte für alle Landliebe-Abonnenten und Dirndl-Fetischisten. Mit „Schattseite“ und „Die großen Wörter“ setzte Innerhofer seinen autobiographischen Emanzipationsbericht fort. Teil 4, „Der Emporkömmling“, schwankt dabei zwischen Scheitern und Erfolg. Der Protagonist hat die Uni vorzeitig verlassen, um wieder mit der Hand zu arbeiten, muss jedoch feststellen, dass er damit weder zu den einen – den Arbeitern – noch zu den anderen – den Akademikern – gehört. Am Ende warten auf ihn die Entlassung aus dem Betrieb und erste Ehrungen für seine Literaturversuche. Ausgang offen. 

Kathryn and Ross Petras (ed.): Very Bad Poetry.

Nein, es geht nicht um die Zeitungsannoncenverseschmiede à la „Kaum zu glauben, aber wahr: Heini wird heut 75 Jahr‘“. Die Anthologie „Very Bad Poetry“ sammelt VertreterInnen der Dichtkunst, die wesentlich ambitionierter und teils sogar erstaunlich erfolgreich waren. Falsche Metaphern, hilfloser Satzbau, nichtreimende Reime, dahinholperndes Versmaß, lächerliche Inhalte, Pathos, Schwulst und all die anderen Stolpersteine zurecht verkannter Genies reihen sich zur Verzweiflung selbst der gnädigsten Musen hier auf. Der Band versammelt Beispiele aus dem englischsprachigen Raum, doch die berühmteste Dichterin kruder Poesie deutscher Zunge, der „schlesische Schwan“ Friederike Kempter, stünde ihren KollegInnen in nichts nach. Zwei Gedichte aus dem Buch sind hier zu finden. 

Bruce Chatwin/Paul Theroux: Wiedersehen mit Patagonien.

Der englische (Chatwin, 1940-1989) und der us-amerikanische Reiseschriftsteller (Theroux, geb. 1941) berichten in einem Zwiegespräch über ihre persönlichen und familiären Erfahrungen, über historische Entdeckungsfahrten und zahlreiche Legenden der geheimnisvollen Landschaft an der Südspitze des amerikanischen Kontinents, einer Gegend, die vor allem durch ihre Leere bestach und dadurch immer wieder Abenteurer und zwielichtige Gestalten anlockte, aber auch von Armut und dem Aussterben der Ureinwohner geprägt ist. Viel zu kurzes Buch der beiden begnadeten Erzähler. 

Djuna Barnes: Saturnalien.

Erzählungen der etwas älteren Zeitgenossin von Anais Nin, die dieser nicht unbedingt auf literarischem Gebiet, aber in der Lebensführung an Exzentrität noch um einiges überlegen war. Barnes (1892-1982) Kurzgeschichten spiegeln ihre Weltgewandtheit wider, sowohl was die Geographie als auch die Einfühlung in verschiedene Stände an geht; ihr Spektrum reicht von alteuropäischen Adligen bis zu unterdrückten schwarzen Dienstboten im us-amerikanischen Süden. Dem zugrunde liegt zudem ein oft subtiler Feminismus, der sich auch in ihrer Biographie wiederfindet. 

Manès Sperber: Sein letztes Jahr.

Das kleine Bändchen versammelt Texte aus dem letzten Lebensjahr des österreichischen Schriftstellers (1905-1984), der in Frankreich lebte, aber auf Deutsch publizierte und dessen Biographie gewisse Parallelen mit Arthur Koestler aufweist. Enthält einen Bericht seiner Frau Jenka Sperber, Siegfried Lenz‘ Laudatio zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1983 und Sperbers Dankesrede, die damals für ziemliche Kontroversen sorgte sowie ein Interview mit dem gelernten Psychologen Manès Sperber, einem – abtrünnigen – Schüler Alfred Adlers. Hommage an eine große Persönlichkeit, an die zu erinnern sich lohnt.

 

 

 

Dienstag, 31. Oktober 2017

James McIntyre: Two Poems.


Für gewöhnlich würdigt dieser Blog herausragende Lyrik, die oftmals leider in Vergessenheit geraten ist - dieses Mal aber stellen wir zwei Gedichte eines kanadischen Dichters vor, der völlig zurecht und zum Glück keinerlei Aufmerksamkeit mehr genießt.   
James McIntyre (1827-1906) wählte als Gegenstand seiner Gedichte - er veröffentlichte insgesamt immerhin zwei Poesiebände - oft ziemlich Außergewöhnliches. Theoretisch eine gute Idee, doch ob tonnenschwere Käse (eines seiner Lieblingsthemen) und Holzbeine wirklich der Würdigung durch die Musen bedurft hätten, lässt sich zweifellos recht leicht beantworten: nein. Auch ansonsten pflegte McIntyre neben der verfehlten Themenwahl alle kennzeichnenden Eigenschaften eines sehr schlechten Dichters: falsche Metaphern, holprige Metrik und laue Reimkünste (balloon/noon/moon/soon, dig/leg). Aber lesen Sie einfach selbst:
 
Das erste Gedicht schrieb er zu Ehren eines Riesenkäses, der auf einer Landwirtschaftsausstellung in Toronto präsentiert worden war.

Ode on the Mammoth Cheese

Weighing over 7,000 Pounds

We have seen thee, queen of the cheese,
Lying quietly at your ease,
Gently fanned by evening breeze,
Thy fair form no flies dare seize.

All gaily dressed soon you'll go
To the great Provincial show,
To be admired by many a beau
In the city of Toronto.

Cows numerous as a swarm of bees,
Or as the leaves upon the trees,
It did require to make thee please,
And stand unrivalled, queen of cheese.

May you not receive a scar as
We have heard that Mr. Harris
Intends to send you off as far as
The great world's show at Paris.

Of the youth beware of these,
For some of them might rudely squeeze
And bite your cheek, then songs or glees
We could not sing, oh! queen of cheese.

We'rt thou suspended from balloon,
You'd cast a shade even at noon,
Folks would think it was the moon
About to fall and crush them soon.


Dieses Gedicht war zugegeben ziemlicher Käse (schlechte Lyrik bringt schlechte Wortspiele hervor!), aber McIntyre versuchte sich auch an ernsteren Themen, etwa der Trostspendung für Einbeinige - leider fällt sein gut gemeinter Rat ungewollt ziemlich zynisch aus, man kann sich nicht so recht vorstellen, dass bei den Betroffenen tatsächlich große Freude über ihr unverhofftes Glück, ein Holzbein tragen zu dürfen, im gewünschten Maße ausbricht.

Wooden Leg

Misfortune sometimes is a prize,
And is a blessing in disguise;
A man with a stout wooden leg,
Through town and country he can beg.

And the people in the city,
On poor man they do take pity;
He points them to his timber leg
And tells them of his poor wife, Meg.

And if a dog tries him to bite,
With his stiff leg he doth him smite,
Or sometimes he will let him dig,
His teeth into the wooden leg.

Then never more will dog delight
This poor cripple man for to bite;
Rheumatic pains they never twig,
Nor corns annoy foot or leg.

So cripple if he's man of sense,
Finds for ill some recompense;
And though he cannot d
ance a jig;
He merry moves on wooden leg.

And when he only has one foot,
He needs to brush only one boot;
Through world he does jolly peg,
So cheerful with his wooden leg.

In mud or water he can stand
With his foot on the firm dry land,
For wet he doth not care a fig,
It never hurts his wooden leg.

No aches he has but on the toes
Of one foot, and but one gets froze;
He has many a jolly rig,
And often enjoys his wooden leg.


Mehr von James McIntyre und anderen MeisterpoetInnen in:
Kathryn and Ross Petras (ed.): Very Bad Poetry. New York: 1997.
Siehe auch: Lektüremonat Oktober 2017.


 

Mittwoch, 4. Oktober 2017

Mit Fräulein Annika unterwegs...in der agilis 84246 von Donauwörth nach Ulm.


Mit Fräulein Annika unterwegs...in der agilis 84246 von Donauwörth nach Ulm.

 

Kennen Sie diese Abteilungen in den größeren Bahnhofsbuchhandlungen, wo reihenweise Bildbände lagern über Bahnstrecken, Bahngebäude und Lokomotiven? Die Aischtalbahn 1945-1975, Bahnhöfe des südlichen Hunsrück, Die Baureihe XYZ-Lilalu der Deutschen Reichsbahn? Wer kauft diese Bücher? Offenkundig sehr viele – und das können nicht nur pensionierte Bahnbeamte sein, die sich allerdings hinter der Mehrzahl der Autoren verbergen dürften. Und es sei diesen Kollegen und ihren Lesern – ob es auch Leserinnen gibt? – unbenommen, der morbide Reiz untergegangener Bahnstrecken, von denen es schließlich nicht allzuwenige gibt, ist durchaus nachvollziehbar, die Architektur mancher Bahnbauten auch, die Technik irgendwelcher Dampfrösser, naja, Geschmackssache. Dies Ganze nur als Vorwarnung, dass von alldem im folgenden rein gar nichts zu lesen sein wird, obwohl wir uns gemeinsam auf eine kurze Bahnreise begeben werden. Keine Ahnung, wie das Zugmodell heißt, es ist der typische hellgrüne kleine Regionalzug der agilis, der in Donauwörth bereits auf uns wartet, weshalb Fräulein Annika und ich uns wie gewohnt sputen müssen, um ihn zu erwischen – und wie gewohnt gelingt dies auch. Die Fahrt geht in gut einer Stunde – genau: 68 Minuten – vom genannten Donauwörth durch das nördliche Bayerisch-Schwaben mit der sogenannten Donautalbahn ins baden-württembergische Ulm. Die alte Reichsstadt an der Wörnitz mit ihrem Umsteigebahnhof, wo sich diese Strecke mit der von Nürnberg über Augsburg nach München kreuzt, ist ein Schmuckstück, von dem wir heute leider nichts mitbekommen als ein paar Quadratmeter Bahnhofsunterführung, was bedauerlich ist, uns an einem anderen Tage aber einen eigenen Bericht erlaubt. Denn der Zug rollt schon an, kaum dass wir eingestiegen sind. Fräulein Annika macht es sich bequem, ich hole erst mal Brotzeit – es ist mittags – und Notizbuch heraus.             

Vor dem ersten Halt nach nur wenigen Minuten sitzt gleich mal ein Reh im Gebüsch an der Bahntrasse, wir bewegen uns durch eine sehr ländliche Gegend. Und das unbeeindruckte Tier bleibt zu unser beidseitigem Glück auch friedlich sitzen. Derweil fahren wir in Tapfheim ein. Was gibt es über den Ort zu sagen? Fräulein Annika findet den Namen irgendwie schön, ohne dies erklären zu können. Ich gebe ihr recht. Ansonsten keinen Schimmer, wir waren noch nie dort, in Tapfheim. Für uns Zugfahrer kann er aber als Beispiel dafür dienen, wie man zu unverdienten Hass kommt. Denn als in umgekehrter Richtung letzter Ort vor dem Knotenpunkt Donauwörth, wo man etwa auf den Zug nach Nürnberg stets nur fünf Minuten zum Umsteigen hat, zieht es sich bei knapper werdender Zeit spätestens ab Schwenningen den allgemeinen stillen Groll des in terminliche Bedrängnis Geratenden zu, so dass die Ankündigung Nächster Halt: Tapfheim ein innerliches „Oaaaah nee, dieses Scheißtapfheim!“ und ein äußerliches Zucken und Seufzen hervorruft. Allerdings nur bei Bahnlaien, Profis bleiben durch jahrelanges Üben äußerst gelassen, außerdem fahren wir Richtung Ulm und drittens kann Tapfheim hierfür nun mal rein gar nichts.

Wir sausen folglich weiter nach Schwenningen und zwar mit zwischenzeitlich 132 km/h, wie die Anzeige verrät. Wieder ein Dorf, über das man nun eher wenig weiß und nicht weiß, ob dies für oder gegen einen oder das Dorf spricht. Immerhin sieht dieses Schwenningen äußerlich hübscher aus als sein größerer Namensvetter im Schwarzwald. Weiter geht’s.           

Der jeden vorpubertären Rotzlöffel sicher zu lustigem Kichern und frühkindlichen Scherzen anregende Name Blindheim steht für eine der interessanten Stationen unter den unbekannteren Orten an der Strecke. Denn hier wurde einst Weltgeschichte geschrieben, was man Dorf und Landschaft erst einmal eher nicht ansieht. Was man nämlich sieht vom Bahnfenster aus, vorausgesetzt man sitzt auf der richtigen – nördlichen Seite – ist ein großes Freiluftdepot zahlreicher ausrangierter Straßenbahnwagen, die der Farbe nach aus der bayerischen Landeshauptstadt München stammen dürften. Wie sie hier herkamen und warum sie nun ihren Lebensabend buchstäblich vor sich hingammelnd in Blindheim verbringen dürfen? Eine bislang ungeklärte Frage. Langsam durch Pflanzenbewuchs zuwuchernd hat die Nachbarschaft des Tramfriedhofes zum Bahnhof etwas von einem idyllischen Schrottplatz.
 

Man sitzt bequem in der agilis, egal wie groß man ist.
Jetzt aber zur Weltgeschichte. Auch da spielt die bayerische Landeshauptstadt eine – wie so oft unrühmliche – Rolle. Der dort sitzende Kurfürst hatte sich nämlich mal schnurstracks mit den Franzosen des Sonnenkönigs Louis XIV. verbündet, um auf Kosten des Reiches seine eigenen Machtpläne voranzutreiben. International bekannt wurde dieser schließlich gesamteuropäische Konflikt unter dem Namen Spanischer Erbfolgekrieg. Und es schien so, als hätte der Münchner Kurfürst – es war Maximilian II. Emanuel – aufs richtige Pferd gesetzt. Bis zu jenem 13. August 1704, an dem die vereinten kaiserlichen und englischen Truppen unter Prinz Eugen und John Churchill, dem Duke of Marlborough, dem Ganzen mit der Schlacht bei Blindheim ein Ende setzten. Der Krieg ging zwar noch bis zum Frieden von Utrecht 1713 weiter, aber die bayerischen Machtgelüste waren passé – die Franken kämpften übrigens, wie eigentlich immer, auf der Seite des Kaisers, woran unter anderem die nördlicher gelegene Weißenburger Schanzenlinie erinnert. So weit die Geschichtsbücher – nur wer da hineinschaut, wird überhaupt keine Schlacht von Blindheim finden. In Deutschland firmiert sie unter dem Namen Zweite Schlacht von Höchstädt, die Nachbarn heimsen also den Ruhm ein. Und wer ein englisches Werk aufschlägt, wundert sich völlig über eine Battle of Blenheim. Zieht man den Atlas (oder google maps) zurate, wird es nur noch kurioser. Blenheim liegt in Neuseeland, nicht Bayerisch-Schwaben. Erklärung, rückwärts aufgedröselt: das neuseeländische Blenheim wurde zu Ehren der Schlacht so benannt. Blenheim deshalb, weil die französischen Vortruppsoldaten, die auf Seiten der Engländer dienten (um unsere Verwirrung nur noch größer zu machen also Franzosen, die gegen Franzosen kämpften), den Namen Blindheim nicht recht aussprechen konnten. So kam es zur immerhin hübschen Alliteration Battle of Blenheim, die zugegeben auch mit Blindheim gut, aber mit dem benachbarten Höchstädt, das die ordnungsliebenden Deutschen einfach zum Durchnummerieren der Schlachten – insgesamt deren drei – nutzten und von dem man besser nicht wissen möchte, wie die Franzosen es aussprachen, gar nicht funktioniert hätte.

Nachdem wir an großflächigen Solaranlagen auf den Feldern, wo einst die Schlachten tobten, vorbeigefahren sind, zwischen denen, um die heutige Friedfertigkeit zusätzlich zu unterstreichen, auch noch Tradition mit Moderne verbindend Schafe grasen, kommen wir in Höchstädt an. Dazu fällt uns ein weiterer ebenfalls friedlicher Dreiklang ein oder auf: die drei folgenden Donaustädte besitzen – zumindest vom Zug aus betrachtet – eine gewisse äußerliche architektonische Ähnlichkeit. Der Bahnhof liegt eher am Stadtrand, das Häusermeer der Altstadt wird jeweils dominiert von einem charakteristischen Münsterturm, meist noch ein paar anderen Türmchen und einem vorbarocken Schlossbau. Man möchte gerne hier aussteigen, wenn man nicht weiter müsste. Nun kommt aber der junge, überaus freundliche Schaffner und kontrolliert unaufdringlich unsere Fahrkarte, fast so, als wäre es ihm unangenehm, uns stören zu müssen. Wir rollen weiter und sehen vom Fenster aus einen Sonderpostenmarkt – früher das, was man einen Ramschladen nannte, nur eben im Hallenformat –, der sich TOBI nennt, was, wie der Untertitel verkündet, nicht der Name des Besitzers ist, sondern eine Abkürzung für Total billig. Es verwundert immer wieder – und in diesem Fall besonders – wieso die Händler sich des doch sehr ambivalenten Wortes billig bedienen und nicht des doch reichlich eindeutigeren preiswert. Vielleicht, weil der Besitzer ein besonders ehrlicher Kerl ist. Fräulein Annika lacht. Zurecht.

Dillingen - Blick vom Schloss zur Studienkirche.
Am folgenden Bahnhof findet meist der größte Personenaustausch statt, kein Wunder, handelt es sich doch um eine Universitätsstadt: Dillingen an der Donau. Zugegeben, eine ehemalige Universitätsstadt, die glor- und lehrreichen Zeiten sind schon vorbei, auch wenn die Bauten der einstigen Jesuitenhochschule noch immer die Stadt prägen und einst zahlreiche Absolventen mit klingenden Namen hervorgebracht hatten. Dillingen, heute Kreisstadt, profitierte von der Reformation in der Reichsstadt Augsburg, die den dortigen Fürstbischof dazu veranlasste, einerseits seine Residenz hierher zu verlegen, weshalb die Stadt auf engem Raum von Kirchen und Klöstern sowie einem Schloss nur so strotz und er zweitens hier eine gegenreformatorische Universität gründen ließ, deren Lehre ebenso ausstrahlte wie die Architektur ihrer Bauten – eine Mischung aus Spätgotik und Renaissance, die noch immer sehr beeindruckend anzuschauen ist. Leider erkennt man all dies vom Zug aus nur in den Zipfelchen der zahlreichen Türme. Wenn nicht gerade der örtliche Landtagsabgeordnete in einen Skandal oder ein früherer Fußballnationaltorwart in einen medienträchtigen Auftritt verwickelt ist, ruht Dillingen etwas sanft im Gedächtnis der Menschheit – leider. Der Besuch dieser Stadt ist ein äußerst lohnenswertes Erlebnis.

Gelehrt geht es weiter in die nächste und letzte der drei ähnlichen Städte: Lauingen. Aus ihr stammt Albertus Magnus, schon namentlich als ein großer erkennbar und man darf davon ausgehen, dass seine Schriften im benachbarten Dillingen lange zur Grundlektüre gehörten. Philosophische Lehrer-Schüler-Gespanne auf Höchstniveau sind erstaunlicherweise gar nicht so selten. Der antike Klassiker Platon und Aristoteles als ewiges Vorbild, Hegel schickte gleich mehrere Schüler in die Welt, die mit und gegen ihn ihre Epoche und die Gegenwart prägten, von Marx bis Kierkegaard. Im Mittelalter waren Albertus Magnus und Thomas von Aquin solch ein Spitzenduo, heute in der Wahrnehmung, nicht unbedingt in ihrer Wirkung wohl etwas vernachlässigt, Philosophieseminare über Albertus dürften im Sommersemester 2017 vermutlich nicht allzu oft in den Vorlesungsverzeichnissen auftauchen. An seiner Bedeutung ändert dies jedoch nichts, die Lauinger dürften mit recht stolz auf den berühmten Sohn ihrer Stadt sein, auch wenn hier im Zug niemand sitzt, der scholastische Werke liest. Noch einmal blicken wir auf die nun geradezu vertraute Silhouette einer Stadt mit Münster, Schloss und Türmchen, bevor es auch schon weitergeht.

Und zwar nach Gundelfingen. Vielleicht liegt es daran, dass wir ab und zu in Bahnhofsbuchhandlungen eines von Disneys Lustigen Taschenbüchern mitnehmen, aber jedes mal drängt sich hier viel mehr als schlechte Scherze über Blindheim der Name Gundel Gaukeley auf. Was schließlich auch nicht viel über Pennälerniveau liegt. Und dem Ort nicht gerecht wird, denn Gundelfingen kann etwas sehr, sehr Seltenes aufweisen. Einen renovierten Bahnhof in dem noch dazu eine Fahrdienstleiterin sitzt – oder wie auch immer der offizielle Titel dieser Menschen in den Stellwerken heute heißen mag. Ein nichtheruntergeramschtes Bahnhofsgebäude auf dem Dorf in der Nachmehdornära! In der eine Bahnangestellte arbeitet! Ein Hauch von Achtzigerjahren der Bundesrepublik weht uns an – wirklich nur ein Hauch, denn unter dem ewigen Helmut Kohl säße dort im Kabuff höchstwahrscheinlich keine Frau. Man merkt schon, so ein ungewohnter Anblick verwirrt einem gleich die Sinne.

Zum Glück fahren wir nun durch die großen Gleisanlagen eines wieder liebevoll heruntergekommenen Bahnhofes namens Neuoffingen, der offenbar nur noch für den Güterverkehr angesteuert wird, von diesem aber immerhin recht zahlreich. Wir aber rauschen durch. Bald gesellt sich die träge – gegen unsere Fahrtrichtung – dahinfließende Donau zu uns, von nun an Begleitung nördlich der Strecke, manchmal näher, manchmal ferner. Dagewesen sein müsste sie schließlich schon länger, gesehen haben wir sie aber nicht.

Wir rollen in den bahntechnisch bedeutendsten Halt unserer Strecke ein, Günzburg. An diesem Knotenpunkt haben wir einen so genannten „planmäßigen Aufenthalt“, weil wir hier stets regulär von einem IC überholt werden. Dieser hält ebenfalls in Günzburg und wir müssen ihm für gewöhnlich noch dazu einen Vorsprung gewähren – obwohl wir früher hier waren, aber die Bahnhierarchie ist ungerecht. Doppelt ungerecht, denn im Gegensatz zu unserer agilis nimmt es der feine IC mit der Pünktlichkeit selten genau, weshalb wir von ihm unverschuldet ein paar zusätzliche Minuten aufgebrummt bekommen. Normalerweise steigen hier um diese Uhrzeit zahlreiche Schüler ein, aber dankenswerterweise – das werden beide Seiten so sehen – sind derzeit Ferien. Günzburg ist also ein IC-Halt, folglich überrascht der hier frisch renovierte Bahnhof nicht, auch dies ein Fall der seltsam gearteten Bahnhierarchie, denn in Dillingen etwa steigen sicher mehr Menschen täglich in die regional- und Bummelzüge als hier in Günzburg in den IC. Sei’s drum, die verrinnenden Minuten im Bahnhof kann man, wenn man ausnahmsweise kein Buch oder wie 85% der Mitfahrgäste ein Smartphone in der Hand hat, zum Abschweifen der Gedanken beim Blick auf die Altstadt nutzen. Die liegt südlich – links der Fahrtrichtung – auf einem Hügel, rechts die kanalisierte Donau. Man kann sich leicht vorstellen, dass die praktisch veranlagten Römer die Anhöhe für eines ihrer Grenzkastelle nutzten, um hier zudem einen wichtigen Übergang über den damals sicher nicht so glatt dahinfließenden Fluss zu errichten und zu überwachen. Der Überlieferung war dieses einer der letzten Außenposten, denn sie in der Spätantike hier an der Nordgrenze noch hielten. Eine Art Außenposten blieb Günzburg auch weiterhin, spätestens nachdem die Österreicher den Ort im Mittelalter zu einer kleinen Nebenresidenz ausbauten, die es gegen ständige bayerische Begehrlichkeiten zu verteidigen galt – interessant hierbei, dass die umliegenden Reichsstädte Günzburg stets gegen die Münchner Gelüste unterstützten. Noch beim Übergang 1806 soll der hiesige Stadtpfarrer die Übergabe an das neue Königreich als offenkundige Strafe für die Sünden der Günzburger gebrandmarkt haben. Den Österreichern verdanken die Günzburger in jedem Falle ihr schönes Stadtbild, das nicht mehr an die drei mehrfach erwähnten Donaustädte, sondern eher schon an Oberschwaben erinnert. Die Hauptkirche prangt hier in stattlichem Rokoko.

Noch eine historische Überlegung kann man anhand Günzburgs anstellen. Lauingen tut sich mit seinem Albertus Magnus leicht, aber was, wenn man die Geburtstadt eines Josef Mengele ist, der international für einen der wahrscheinlich widerwärtigsten Charaktere überhaupt steht? Für eine kleinere Gemeinde – die ja noch dazu durchaus andere Personen von weitaus anderer Bedeutung, unter anderem sei an Petra Kelly erinnert, hervorgebracht hat – ist dies stets eine Bürde. Wieviele Arschlöcher beispielsweise schon aus Hamburg hervorgegangen sind, interessiert keinen Menschen, aber der Name Mengele, dessen Vater, ein Industrieller, noch dazu Ehrenbürger der Stadt ist, wird stets mit Günzburg verbunden bleiben, so wenig diese für die Entwicklung ihrer Mitbürger kann. Das Klügste ist wohl, dies als Verpflichtung anzusehen und Aufklärung zu betreiben. Fräulein Annika und ich beschließen, dies bei einem Besuch einmal zu überprüfen, obwohl und gerade weil wir uns sicher sind, dass die Günzburger dies gut gelöst haben. Außerdem wirkt die Stadt einfach einladend.

Hier muss irgendwo auch das deutsche Legoland sein, aber Fräulein Annika meint, es sei schon recht so, dass man es nicht sehe, man könne es getrost ignorieren. Sie scheint gewisse Vorbehalte zu haben. Unsere nächste Station, Leipheim, nennt sich unglaublich aussagekräftig „Stadt an der Donau“, nun gut, beides dürfte nicht verkehrt sein, aber doch auch auf circa 1500 weitere Städte in Europa zutreffen. Doch geschenkt. Über Jahre haben wir sowieso immer Laup- und Leipheim verwechselt, wie es einem aus unerfindlichen Gründen manchmal so geht, noch dazu ist auch Laupheim eine Stadt ziemliche nahe an der Donau und gar nicht so weit weg. Um noch ehrlicher zu sein, wissen wir über Leipheim letztlich genauso wenig zu berichten (immerhin, ein Schloss lugt von einem Hügel über der Stadt hervor) wie über den Halt Nersingen, der als nächstes ansteht. Selbst der Zug schwingt sich zu angezeigten Höchstgeschwindigkeiten von 155 km/h auf, wahrscheinlich eher nicht, um schnell hier wegzukommen, sondern dank der leichten Verspätung – danke noch mal an den IC! – die er, dies sei vorweggenommen, bis Ulm fast wieder einholt: es wird letztlich eine Minute länger als geplant.

Denn da ist ja noch der allerletzte Halt auf bayerischem Boden: Neu-Ulm. Der Bahnhof dieser Stadt ist wie die Stadt – übrigens eine der größten im Bundesland Bayern, was einen doch jedes Mal überrascht, auch weil man Neu-Ulm für einen Vorort Ulms gehalten hat, der es letztlich ja auch ist. Aber wir haben ihr Harald Schmidt zu verdanken, weshalb wir einmal geflissentlich über all ihre architektonischen Mängel hinwegsehen, obwohl das sehr, sehr schwerfällt gerade in diesem Betonbahnhof, der ein bisschen nach S-Bahn in einem gelackten Berliner Neubauviertel aussieht. Aber vielleicht hat Neu-Ulm eher unser Mitleid statt Häme verdient und das der Vorort von seiner Metropole durch eine Ländergrenze getrennt wird, trägt sicher auch nicht zur Besserung bei.

Somit willkommen in Baden-Württemberg und dem Endbahnhof Ulm. Wie die Ausgangsstation Donauwörth ebenfalls einstige Reichstadt, wie diese ihren eigenen Bericht wert. Da wir mit dem Zug angekommen sind, soll ruhig noch erwähnt werden, dass Ulm eine der beklopptesten Gleisnummerierungen der nördlichen Hemisphäre aufweisen kann, die einerseits durch Auslassung eine enorme Anzahl vortäuscht – wir kommen zum Beispiel auf 28 an – andererseits aber auf einem Bahnsteig dann auch gleich mal völlig wirre mehrfache Gleisnummern verteilt und diese wiederum gerne in Nord und Süd unterteilt. Was tut man nicht alles, um die Passagiere zu verwirren – sie zum Beispiel durch eine unscheinbar kleine Tür zusätzlich durch das Hauptgebäude jagen...aber auch darüber kann der langerprobte Bahnprofi nur noch lässig die Schultern zucken. Und Fräulein Annika macht nicht mal das.                                                                      

 

        

                                                

Dienstag, 26. September 2017

Das Zitat zum Dienstag.

 
"Auf die Ebene literarischer Klugheit übertragen, ergibt sich daraus, dass aus guten Gefühlen schlechte Literatur entsteht."
 
Julio Cortázar, Rayuela
 
 
Mehr zu diesem Roman von Julio Cortázar demnächst hier.

Samstag, 23. September 2017

Fräulein Annika geht wählen.

 
 
Wie alle vernünftigen Menschen geht Fräulein Annika morgen nicht Wandern, sondern Wählen.

Ein Blick rundherum bei uns und in der Welt verrät, dass freie Wahlen alles andere als ein selbstverständliches Grundrecht sind, das einst schwer erkämpft werden musste - also Wählen gehen!
 
 
 

Donnerstag, 7. September 2017

Die 10 Päpste mit den kürzesten Amtszeiten.


Johannes Paul I. (1978), Papst für 33 Tage, hätte es nicht  in diese Liste geschafft: zehn Päpste hatten weitaus kürzere Amtszeiten. Hier die unglücklichen Sieger.

 

Für Johannes Paul I. hätte es somit knapp nicht gereicht, immerhin führt er diese Negativliste im 20. Jahrhundert an. Im Gedächtnis blieb er vor allem aufgrund seines Lächelns und der Tatsache, dass er nach dem Tod Pauls VI. 1978  nur 33 Tage regierte. Von einem Platz in den Top Ten trennen ihn jedoch seine Vorgänger Benedikt V. (964) und Innozenz V. (1276), beide konnten sich noch weniger, nämlich jeweils nur 32 Tage ihres neuen Amtes erfreuen. 

 
10. Leo V. (903)

 

Die V. hinter seinem Namen sollte auch diesem Papst kein Glück bringen. Leo., der völlig überraschend im August 903 auf den Stuhl Petri gewählt wurde, der einer unausgesprochenen Übereinkunft nach einem Stadtrömer vorbehalten war, stammte aus dem ländlichen Umland der ewigen Stadt. Der Klerus der Metropole war zu dieser Zeit stark zerstritten, was zwar die unverhoffte Wahl Leos begünstigte, jedoch gleichzeitig seinen Sturz nach nur 30 Tagen zur Folge hatte. Ein römischer Priester drängte ihn – angeblich sogar mit seinem Einverständnis, wogegen jedoch das folgende Geschehen spricht – zum Rücktritt und setzte sich als Papst Christophorus auf den Thron. Leo landete im Gefängnis. Dort fand sich als Zellennachbar bald Christophorus selbst ein, der nach gut vier Monaten selbst stürzte. Gemeinsam mit seinem Vorgänger Leo wurde er von seinem Nachfolger Sergius III. Anfang 904 ermordet.       

 
9. Pius III. (1503)

 
Pius III., Portrait eines unbekannten Künstlers.

600 Jahre später hievte das Konklave einen Mann auf die cathedra Petri, der gute und schlechte Voraussetzungen mitbrachte: einerseits war er ein hochgebildeter, reformfreudiger Mann, gewillt, das lang ersehnte Konzil zur Erneuerung der Kirche einzuberufen, andererseits war er bei seinem Amtsantritt am 22. September 1503 bereits alt und von Krankheit gezeichnet. Die Idee, nach der üppigen Regentschaft Alexanders VI. ein bescheideneres Oberhaupt zu erwählen, war gut gemeint, fand aber mit dem Tod des Papstes nach nur 26 Tagen ein vorzeitiges Ende. Sein Nachfolger wurde Julius II.   

 
8. Leo XI. (1605)

 

Wiederum gut hundert Jahre später spielte sich fast das identische Szenario ab, Allessandro de Medici, ein Neffe Leos X., nach dem er sich auch benannte, wurde zwar unter allgemeiner Zustimmung und als anerkannter Reformer zum Papst gewählt, war jedoch zum Zeitpunkt seiner Wahl bereits ordentliche 70 Jahre alt und nicht von bester Konstitution. So brachte ihn eine an sich harmlose Erkältung schon – wie Pius III. – nach nur 26 Tagen ins Grab. Ihm folgte Paul V. aus dem Hause Borghese.     

 
7. Marcellus II. (1555)

 

Das 16.Jahrhundert war offenkundig nicht nur für die gesamte Kirche, sondern auch für viele ihrer höchsten Vertreter ein sehr schwieriges. Das Muster wiederholt sich, sieht man vom Alter von erst 54 Jahren ab: Marcellus II. – der übrigens seinen Vornamen behalten hatte – war bekannt als Reformer, weshalb die Wahl des gebildeten Humanisten während der schwierigen Verhandlungen des Trienter Konzils große Hoffnungen weckte. Und tatsächlich nahm Marcellus das Reformwerk mit großen Eifer in angriff, zu viel Eifer, wie es im Nachhinein hieß, da man mutmaßte, er sei aufgrund von Überanstrengung einem Schlaganfall erlegen. Da war er nur 22 Tage Papst gewesen. Paul IV. setzte sein Reformwerk fort.    

 
6. Sisinnius (708)

 

Die Amtszeit des Sisinnius, eines gebürtigen Syrers, stand von Anfang an unter keinem besonders günstigen Stern. eigentlich war er – vermutlich – schon im Herbst 707 gewählt worden, doch aufgrund von politischen Querelen wurde er erst im Januar 708 tatsächlich offiziell zum Papst geweiht. Die Bewohner Roms erhofften sich viel von ihm, doch – man ahnt es bereits – Sisinnius war ein Greis, schwer von Krankheit gezeichnet. Hätte man seine Wahl früher bestätigt, wäre ihm ein Platz in dieser Aufzählung erspart geblieben, doch so brachte er es letztlich nur auf gerade einmal 19 Tage Papsttum, ihm folgte der einzige Träger des Namens Konstantin, ebenfalls ein Syrer.      

 
5. Coelestin IV. (1241)

 

Coelestins Wahl fiel in die Zeit der erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Kaiser Friedrich II. und den römischen Päpsten, zugleich – und aufgrund dessen – war sie ein Meilenstein der Kirchengeschichte: Coelestin ging aus dem allerersten Konklave hervor, das, allerdings erzwungenermaßen, stattfand. Daran beteiligt waren von den zwölf zu dieser Zeit noch verblieben Kardinäle nur zehn, die beiden anderen hielt der Kaiser gefangen, auch der Zweck ihrer Einschließung, eine möglichst schnelle Wahl, erfüllte sich nicht: erst nach sechzig Tagen traten die inzwischen nur noch acht Kardinäle wieder an die Öffentlichkeit. Einer war zwischenzeitlich verstorben, Coelestin war Papst geworden. Leider ein, das kennt man schon, sehr alter und angeschlagener Papst, der nur 16 Tage durchhielt. Sein Nachfolger Innozenz IV. erwies sich als robuster, er regierte über elf Jahre.      

 
4. Bonifatius VI. (896)

 

Die kurze Amtsdauer Bonifatius’ VI. mag manch strenggläubiger als Strafe für ein Kirchenoberhaupt ansehen, dass nicht nur einen zweifelhaften Charakter aufwies, sondern ebenso zweifelhaft an seinen Posten gekommen war. Einer seiner Vorgänger, Johannes VIII., hatte ihn abgesetzt und nach einer gnädigen Rehabilitierung ein weiteres Mal als Priester aus den Klerus entfernt. Trotzdem riefen ihn die Römer im April 896 zum Papst aus, wozu sie natürlich nicht befugt waren. Lange an seiner Würde konnte sich Bonifatius nicht erfreuen, er sah nicht einmal das Ende des Monats, nach nur 15 Tagen war es mit ihm selbst zu Ende, die einen sagen durch Gicht, die anderen durch Gift. Er eröffnete damit eine Reihe äußerst kurzlebiger Päpste, bis 900 folgten ihm Stephan VI., Romanus, Theodor und Johannes IX. Erst mit Benedikt IV. hielt ein Papst wieder einmal gut drei Jahre durch, dann kam Leo V. (siehe oben).          

 
3. Urban VII. (1590)

 

Urban VII.
Wie erwähnt, schien es nicht gerade ein verheißungsvolles Zeichen, im 16.Jahrhundert zum Papst gewählt zu werden. Dabei galt Urban VII., obwohl bereits 69, als Mann von robuster Gesundheit – dummerweise fing er sich am Tag seines Wahl eine Malaria ein, an der er schon nach zwölf Tagen verstarb. Ein Verlust, denn Urban, der schon am Tridentinum eifrig mitgewirkt hatte, stand im Ruf eines persönlich integren und reformfreudigen Klerikers, doch eröffnete auch er eine Folge von kurzlebigen Päpsten, sein direkter Nachfolger Gregor XIV. kam auf zehn Monate, Innozenz IX. nur auf zwei. Klemens VIII. jedoch schien den Fluch des 16. Jahrhunderts mit dreizehn Jahren Amtszeit zu überwinden, doch der ihm folgende Leo XI. schaffte es dann 1605 wieder in diese Liste (siehe oben).     

 
2. Stephan II. (752)

 

Der bedauernswerte Stephan hat bis in unsere Tage ein wankelmütiges Schicksal. Bereits ein alter Mann, wurde er am 22. März 752 zwar zum Papst gewählt, doch nach nur drei Tagen ereilte ihn ein Schlaganfall, an dem er tags darauf verstarb. Er brachte es folglich auf gerade einmal vier Tage als Oberhaupt der Kirche – oder auch nicht. Je nach Ansichtssache gilt nur als Papst, wer auch offiziell zum Papst geweiht wurde, doch Stephan verstarb vor der Zeremonie. Sein Nachfolger, ebenfalls ein Stephan trägt darum je Lesart manchmal die II., manchmal die III. Die Kirche selbst ist in ihren Ansichten geteilt, zeitweise erkannte sie Stephan als Papst an, zeitweise wieder nicht. Ausgang offen.       

 
1. Coelestin (II., 1124)

 

Ein ähnlich unschönes Schicksal erlitt Coelestin II. Ende des Jahres 1124. Ein zerstrittenes Kardinalskollegium einigte sich auf ihn als neues Oberhaupt, doch noch während der feierlichen Einsetzungszeremonie wurde die Versammlung überfallen, es kam zu einer bewaffneten Schlägerei, bei der auch der neue Papst schwer verletzt wurde. Der Gewalt weichend, erklärte er seinen Rücktritt. Ohnehin nicht mehr der Jüngste, erlag er bald darauf den Folgen seiner Verwundungen. Nachfolger Honorius II. verdrängte ihn nicht nur vom Thron Petri, sondern auch aus den offiziellen Papstlisten, wo Coelestin – ohne echte Grundlage – als vermeintlicher Gegenpapst geführt wird. Dabei gebührt allein ihm die zweifelhafte Ehre, für nur wenige Stunden Oberhaupt der römischen Christenheit gewesen zu sein.    

 

Rudolf Fischer-Wollhaupt: Lexikon der Päpste. Wiesbaden: 2004.

Christopher Hibbert: Rom. Biographie einer Stadt. München: 1995.

J.N.D. Kelly: Reclams Lexikon der Päpste. Stuttgart: 2005. 

Donnerstag, 24. August 2017

Adieu, schwarzes Loch! – Nekrolog auf meinen Rucksack.


 
Das war’s dann. Nach gut 15 Jahren. Manchem mag es übertreiben erscheinen, den Verlust seines Rucksacks zu betrauern, aber wer weiß, dass ich alle Dinge geradezu hasse, die es verunmöglichen, beide Hände frei und nutzbar zu haben, also Tüten, Koffer, Reisetaschen, Regenschirme sowieso, aber auch Handschuhe, obwohl die sich manchmal kaum vermeiden lassen, der wird zumindest nachvollziehen können, dass der Rucksack für mich das liebste Transporthilfsmittel war (und ist). Umhängetaschen sind für das kleine Zwischendurch ja ganz nett, aber jede Schulter wird sich nach einem Bibliotheksbesuch gründlich und einseitig beschweren. Passiert mit einem Rucksack nicht – da beschweren sich dann wenigstens beide Schultern – und das ist Demokratie!
Jetzt krümmt sich das gute Stück – der Rucksack, nicht die Schulter – hier in der Ecke, nachdem ich ihn komplett ausgeräumt habe für den allerletzten Gang, von dem ich noch nicht entschieden haben, wohin er führen soll. Dabei war es keine Liebe auf den ersten Blick, als er das erste Mal aufgetaucht ist. Ein Geschenk meiner Eltern, mitgebracht als Schnäppchen von einer Messe in Nürnberg (Touristik, nicht katholische). Das Ding sah irgendwie kubistisch und klobig aus, eher wie ein Tornister. Nicht zu vergleichen mit seinem Vorgänger, der noch im aktiven Dienst war, wenn auch ziemlich ramponiert. Aber einfach ersetzen wollte ich ihn deshalb noch keinesfalls. Schließlich hatte ich auch zu ihm eine innige Beziehung. Selbst gekauft anno 1997 in Cochem an der Mosel während eines Urlaubs, allein diese Erinnerung war hochzuhalten, dazu war das gute Stück komplett aus Leder und hatte echte Metallschließen, nichts Künstliches an sich. Auch sonst war er schnörkellos, machte dem Begriff RuckSACK alle Ehre, einfach ein großer Beutel zum Tragen auf dem Rücken, ohne Zwischenfächer, einfach rein das Zeugs – fertig. Ein Schulkamerad sagte mir viel später, das sei doch ein Mädchenrucksack gewesen. Also abgesehen davon, dass mir auch das herzlich wurscht gewesen wäre, ist mir nicht so ganz klar, warum ein großer schwarzer Rucksack ein Mädchenrucksack gewesen sein soll. Ein kleiner pinkfarbener mit „Hello Kitty“-Aufdruck womöglich ja, ein schwarzer Lederrucksack eher nicht. Ob für Jungs oder Mädchen, sein Manko bestand darin, nicht sonderlich beständig zu sein. Schon nach absehbarer Zeit war die Metallschließe Geschichte. Das war verkraftbar, das schwere Leder hielt die Abdeckung auch so unten. Dummerweise rissen öfter die Tragegurte, ein dann doch relativ essentieller Teil bei einem Rucksack. Gleichwohl darf sich glücklich schätzen, wer eine Heimatstadt hat, in der noch ein waschechter Schuster seines Amtes waltet und solches Malheur für damals noch Pfennigbeträge beseitigen konnte.
Aber irgendwann hat das schließlich auch nichts mehr genutzt. Und der Ersatz stand ja nun schon bereit. Der hatte allerdings rein gar nichts außer dem Namen Rucksack mit dem Vorgänger gemein und vermutlich wäre mein Klassenkamerad bei ihm nie auf die Idee verfallen, es könnte ein Mädchenrucksack sein. Das Material war ein undefinierbarer Kunststoff, die Form irgendwie, wenn auch nicht wirklich eckig, zum Großraumfach gab es allerlei dazu. An den Seiten unten hatte er rechts und links zwei kleine nicht verschließbare Fächer, in die man bestenfalls eine 0,5l-Flasche hineinstecken konnte. Das hab ich auch ab und zu gemacht, immer in der Angst, sie wurde irgendwann beim Laufen rausflutschen. Sind sie nie, aber das miese Gefühl, sie könnten, reichte schon. Darum war der einzige Nutzen dieser dem Regen ausgesetzten Seitenfächer, rechts eine Notfallplastiktüte reinzustecken und links eine Packung Taschentücher, die regelmäßig nach ein paar Jahren total durch die Feuchtigkeit verformt und verfärbt ausgewechselt werden mussten.
Nahaufnahme: Bepackt mit Büchern im Innern und Fräulein Annika oben drauf - eine der letzten Rucksackreisen.

Ähnlich hilfreich war das vorne angefügte mittlere verschließbare Fach. Es hätte durchaus nützlich sein können (zum Beispiel um separat die Brotzeit unterzubringen), wäre es nicht innerlich noch einmal in mehrere Sonderabteilungen unterteilt gewesen. Damals ein absoluter Clou – wie gesagt, dass Ding stammte von einer Messe, offenbar also ein innovativer Prototyp – war ein Handyfach, noch gedacht für klassische Nokiaknochen. Eine Vorrichtung, die nie ein Mensch je genutzt hat, ebenso wie die drei Fächerchen für Stifte. Der Idee des Erfinders getreu habe ich dort Kugelschreiber reingesteckt und dann jeweils nach ein paar Jahren der sanften Ruhe mit vertrockneter Mine weggeschmissen. Der Rest des Faches war immerhin gut für Pflaster und Ersatzbatterien, beides öfter mal gebraucht. Und dann gab es noch in der Vorderwand des Rucksacks das absolut unnützeste aller Fächer. Dort hätte man sinnigerweise ungefähr ein oder zwei Blatt Papier unterbringen können, alles darüber hätte nur in den Innenraum gedrückt und dort Platz weggenommen.
Klingt schlimm. Aber. Da war am mittleren Fach ganz vorne noch ein unscheinbares, aber unglaublich nützliches Teil: ein schmales Einsteckfach. Und da ging ein Buch rein (auch Karten aller Art, von Wander- bis Fahr-), egal wie dick, Lustiges Taschenbuch oder Ulysses, immer greifbar, schnell reingesteckt, schnell rausgezogen. Genial. Gut, allein deshalb wären wir wohl nie Freunde geworden, in der Bilanz nützliche zu unnützen Fächern steht es bislang eher ungleich 1-4. Aber da war ja noch das Hauptfach. Das hatte hinten innen auch noch ein großes Einsteckfach – das war nicht ganz so dumm, da gingen Zeitungen oder der Laptop rein. Und dann war da eben noch der Hauptstauraum. Ein Studienkollege, der des öfteren gemeinsam mit zum Einkaufen in den Supermarkt ging, verfolgte eines Tages den Weg der Waren vom Wagen in den Rucksack und meinte: „Ich wundere mich jedes Mal, was Du da immer alles reinkriegst, das ist ja das reinste schwarze Loch!“. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, das war mir so noch nie bewusst aufgefallen – ein typisches Phänomen – aber er hatte natürlich völlig recht. Ich hatte mir vor den Regalen noch nie Gedanken gemacht, ob ich die vier Tetrapaks zusätzlich noch unterbringe, das Ding schluckte einfach widerspruchslos alles und ich hatte ihm kein einziges Mal dafür gedankt. Bis zu jenem Tage. Wie gesagt, er war klobig, aber von außen nicht auffällig groß. Trotzdem verschwand alles in ihm, was man so reinschmiss – und es kam auch wieder raus, ohne Trümmerbrüche und schwere Quetschungen.
Und er musste wahrlich was er-tragen! Schließlich war er mit einem Besitzer geschlagen, der an keinem Bücherladen mit Ramschkiste, an keinem Bücherkasten, Bücherstand, an keiner Bibliothek vorbeigehen konnte, ohne stapelweise Papier in ihn reinzuschlichten. Ungelogen dürfte ich im Laufe der 15 Jahre mehrere Tonnen an Büchern von hier nach da geschleppt haben. Und im Gegensatz zu Nudelpackungen oder Gummibärchentüten sind die eher unflexibel. Ging alles irgendwie, so sehr der Rucksack dabei auch aufquoll. Das schon nach kürzester Zeit der Reißverschluss auf der einen Seite komplett versagte, hatte damit nichts zu tun, ebenso wenig wie die baldige Kapitulation des ohnehin beklopptesten Bestandteils überhaupt, des Bauchgurtes für Hochgebirgsgroßstädter von Rainer-Calmund-Format. Dessen Plastikschließe brach doch etwas arg früh auseinander, ließ sich aber weiterhin notdürftig zusammenstecken, nur dass das Band jetzt eben wie Gekröse vorne herumhing, was, wie mir irgendwann auffiel, viele mir begegnende Fußgänger irritierte. War mir aber wiederum wurscht.
Und so ging’s durch die Lande, im Laufe der Jahre lag der Rucksack im Ostseesand, auf Almweiden, in zahlreichen europäischen Ländern und trug oft die gesamte Ausrüstung für mehrere Tage. Proviant, Kleidung, Kulturbeutel und natürlich Bücher. Und dazwischen der übliche Alltagsdienst. Gelegentliche Katastrophen blieben nicht aus. So in Karlsruhe auf der Reise nach Paris, als mir dünkte, ich könnte mir hier am Bahnsteig sitzend doch ruhig einen Schluck aus der Pulle Orangensaft gönnen, die sich aber unglückseligerweise bereits vollends in meinen Rucksack ergossen hatte, der gerade anfing, eine hübsche Pfütze unter meine Bank zu tropfen. Hab ihn trotzdem in den TGV geschmuggelt, wo wahrscheinlich jetzt noch ein Fleck im Bodenbelag an Sitzplatz X prangt. Meine Klamotten waren gut durchtränkt, hatten vielversprechende orangene Punkte bekommen und waren vorerst eher nicht mehr zu gebrauchen. Ganz anders der gute Rucksack. Im Hotel ausgeräumt, geputzt und zum Trocknen aufgehängt, hat er anschließend weder geklebt noch gemüffelt. Ganz so glimpflich ging es nicht aus mit dem Kaugummi, den mir ein Arschloch – ich weiß nicht wann, wie und schon gar nicht warum – in das Innere des Rucksacks geklebt hatte. Der war eklig und hartnäckig und ging nie vollends raus. Aber man konnte ihn irgendwann ignorieren.
Und wie ein alter Elefant hat sich mein Rucksack wohl entschlossen, in der Heimat sterben zu wollen und im Frankenwald seine letzte Naht auszuhauchen. 15 Jahre unglaublich robust, ging am Ende alles ganz schnell. An einer ziemlich dummen Stelle bildete sich ein kleiner Riss, der täglich links und rechts gut 1 cm zunahm. Nach einer Woche klaffte folglich in dem Rucksack eine ziemlich große Wunde, von der man wusste, das ist das irreparable Ende. Und doch erwies er einen letzten Dienst, um die Übergabe an den Nachfolger reibungslos zu gestalten und reiste, mit Sicherheitsnadeln geklammert, noch einmal zurück an den Bodensee. Es hätte nicht regnen dürfen an dem Tag.
Und nun steht er da und harrt seines Schicksals. Sein Nachfolger bereits wartend daneben, der auf mich keinen guten Eindruck macht. Aber das kennt man schon.