Donnerstag, 13. April 2017

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (4) - Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel.


Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel. st 2572
 

Als Hermann Hesse (1877-1962) die Arbeit an seinem letzten großen Prosawerk nach zwölf Jahren abgeschlossen hatte, konnte Das Glasperlenspiel 1943 in seiner Heimat Deutschland längst nicht mehr veröffentlicht werden. Dass das Buch der deutschen Zensur entgehen würde, daran dürfte er keinen Augenblick lang gedacht haben – stellt der Roman doch einen einzigen Gegenentwurf zum Ungeist des Nationalsozialismus dar. Der Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften, so der Untertitel, bietet noch einmal einen Hermann Hesse in komprimierter Reinform. Die lange Entstehungszeit und der relative Umfang lassen kaum vermuten, dass sich Hesse in diesem Spätwerk als ein Meister der Andeutung erweist. Dies bezeugt schon das titelgebende Glasperlenspiel. Zwar werden dessen Geschichte, seine Funktion und seine Möglichkeiten scheinbar auf vielen Seiten beschrieben, sein Sinn und Zweck als theoretisch ließe mit diesem Instrument der ganze geistige Weltinhalt sich im Spiele reproduzieren (13) erklärt, doch nie wohnt der Leser seiner Durchführung bei, noch wird er jemals Konkreteres über den Ablauf erfahren. Das gesamte Weltwissen scheint in diesem Glasperlenspiel zusammenzufließen, besonders Elemente der Mathematik, der Musik und der Mystik, doch besteht das kluge Vorgehen Hesses darin, die Vorstellungskraft des Lesers nicht zu beeinträchtigen, der die Lücken selbst zu füllen hat – also selbst einen kreativen Akt der Phantasie vollzieht.

Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel.
            Das Glasperlenspiel ist buchstäblich ein Eliten-Projekt. Es ist ein Überbleibsel, hervorgegangen aus dem Schutt vergangener Tage – den Tagen Hesses, darf man vermuten –, dem sogenannten feuilletonistischen Zeitalter, wo das Abweichende, das Normwidrige und Einmalige, ja oft geradezu das Pathologische (10) das Interesse der Menschen bestimmte, sie sich von Geschichtsdeutern in den Untergang leiten ließen oder der völligen Ignoranz hingaben. Diesen Niedergang überlebten nur zwei große Institutionen, die durch Abgrenzung ihre geistige Unabhängigkeit bewahrten, nämlich die beiden Mächte in der Welt, deren geschichtliche Aufgabe die Erhaltung und Pflege des Geistes und des Friedens (193) ist, die Römische Kirche und der Orden der Glasperlenspieler. Als Randnotiz sei angemerkt, dass Hesse hier einerseits in einer kurzen Nebenbemerkung das Aussterben des Protestantismus erwähnt, und andererseits wie im angeführten Zitat die Religion als Aufgabe der Kirche gar nicht auftaucht.

            Hesse lässt nun seine Leserinnen und Leser am Aufstieg des Protagonisten Josef Knecht innerhalb des Glasperlenspielerordens teilhaben. Dies ist ein strenger, extrem elitärer Auswahlprozess, denn die große Mehrzahl aller Menschen auf der Erde lebte anders, als man in Kastalien wohnte, fader, primitiver, gefährlicher, unbehüteter, ungeordneter (104). Diese Züchtung einer abgeschotteten Elite, die nicht frei ist von Arroganz und Verachtung, die auf absoluter Einordnung in eine Hierarchie basiert, die nur dank ihrer strengen Disziplin funktioniert und nach Reinheit, nach Ordnung strebt, der sie alles unterordnet, ist von einer schwer erträglichen Borniertheit – ständig liegt in ihr die Gefahr des Snobismus der Genialischen. Hesse selbst weiß um diese Ambivalenz. Nicht nur ist der Weg Josef Knechts an die Spitze der Hierarchie als Magister Ludi – als Meister des (Glasperlen)Spiels – keineswegs geradlinig, die dabei auftretenden Zufälle und Undurchschaubarkeiten ironisieren subtil den steten Willen nach Klarheit als Höchstprinzip des Ordens; so auch Knechts Freundschaften mit dissidentischen Personen innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft – gerade Gegenspieler wie der katholische Pater Jakobus ziehen ihn an.

            Knechts letztendlich überraschender Rücktritt von seinem Amt, seine Erkenntnis, dass auch das Glasperlenspiel kein Ewigkeitswert ist, vielleicht sogar selbst Teil des Verfalls, treiben die Ambivalenz auf die Spitze. Auf Hunderten von Seiten schien uns gezeigt worden zu sein, dass nur die absolute Distanzierung von der Welt, der Rückzug ins rein Geistige, ein geradezu vollkommener Eskapismus die Rettung des Geistigen überhaupt möglich zu machen in der Lage sein würde – mit der Verachtung für Politik, Individualismus und der Philosophie der Aufklärung, die damit einhergeht. Doch damit nicht genug: Knecht verlässt diese geordnete Welt, womit seine Biographie plötzlich in die Legende übergeht. Am Ende stirbt er unspektakulär als Erzieher beim Schwimmen in einem eiskalten See – also an der Natur.

            Hesse unterläuft hierdurch auch die Passagen seines Buches, die den Leser bei der Lektüre anfangs zurecht erschrecken mögen, nicht nur wegen des Elitarismus, sondern auch, weil hier bis in die Sprache hinein – es ist zum Beispiel mehrfach von Entartung (24) die Rede – Denkweisen auftreten, die dem Faschismus ja keineswegs fremd waren: Verachtung für klassische Politik, Individualismus als (Nerven)Krankheit, im Grunde unheilbar (285), Befehlshörigkeit und Heranzüchtung einer Auslese der Besten. Zwar dringt der tatsächliche Zeithintergrund – und dies auf eine Weise, die von der Zensur niemals übersehen werden konnte – die Gegenposition einnehmend mehrfach an die Oberfläche, etwa bei der Rolle der Literaten (vgl. S. 381f), doch geschieht der Umbruch letztlich erst durch Knechts eigenes – eben individuelles – Handeln, seine Absage an Ein- und Unterordnung: Was ich begehre, ist das Gegenteil davon (362). Die Leserinnen und Leser sind Hesse in dessen eskapistische Romanwelt gefolgt, aus der sie ihre individuellen Schlüsse zu ziehen haben – vielleicht ist Hesse einfach selbst ein Magister Ludi des Glasperlenspiels und wir seine Schülerinnen und Schüler.     
 
Teil (3): Franz Kafka - Das Schloß