Dienstag, 31. Juli 2018

Das Zitat zum letzten Julitag.



"Nicht zu vergessen: Opfer werden unansehnlich. Es fällt immer leichter, sich nicht mit ihnen zu identifizieren, sie der eigenen Angst zu opfern. Alles wird möglich, wenn man Unrecht gesetzlich verankert. Und wenn man Unrechtsgesetze befolgt. Zum Schluss bleibt nur die Monotonie des Ungeheuerlichen, da Usus."
Peggy Parnass, Prozesse (1990)


Jeder dieser Sätze - insbesondere aber der zweite - ist aktueller denn je. Oder wohl einfach zeitlos gültig. Peggy Parnass, deren ungekürzte Gerichtsreportagen der Band versammelt, war - leider - ein Unikum in jenen Tagen (und ist es noch immer), eine Beobachterin, die sich für die Opfer und für das Unrecht in der Rechtssprechung, nicht für das Sensationelle und das Verurteilende interessierte. Und das in einer Zeit, von 1970 bis 1985, in der noch zahlreiche alte Parteigenossen über NS-Massenmörder milde Urteile fällten, während andererseits hysterische Politprozesse gegen vermeintliche linke Terrorsympathisanten wieder groß in Mode kamen, Polizeigewalt ein Kavaliersdelikt war und Homosexuelle und Abtreibungsgegner mit harten Strafen zu rechnen hatte. Manches hat sich geändert, manches verschärft. Parnass fühlte sich manchmal einsam und resigniert, wer die Reportagen liest, kann das gut nachvollziehen. Aufgegeben hat sie trotzdem nicht. Ein großes und mutiges Werk, dem man viele Leser*innen - und vor allem viele Nachfolger*innen wünscht!   



Montag, 23. Juli 2018

Mit Fräulein Annika unterwegs...zum Kloster Weppach.


 
Klöster sind am Bodensee, man weiß es spätestens seit Arno Borsts Klassiker Mönche am Bodensee, alles andere als eine Seltenheit. Doch Kloster ist nicht gleich Kloster und neben den Berühmtheiten wie Salem, St. Gallen, der Reichenau, Stein am Rhein oder der Bregenzer Mehrerau finden sich allerlei kleine Konvente, die nur den Einheimischen im Umkreis von zehn Kilometern und den Experten bekannt sind, von Bächen über Kalchrain, von Hermannsberg bis Tübach, von Langnau bis Grünenberg. Unser heutiges Ziel, Weppach, gehört, es wird niemanden überraschen, in die zweite Kategorie. Eine Umfrage hier in Konstanz, ob man schon einmal von Weppach gehört habe und wo dieses denn liege, ergäbe vermutlich desaströse Ergebnisse.

Nun, es liegt auf der anderen Seeseite – von Konstanz aus betrachtet – zugegeben gut versteckt im Wald zwischen Bermatingen und dem Deggenhausertal auf dem Gebiet der einstigen Herrschaft Heiligenberg. Fräulein Annika und ich machen uns folglich mit dem Seehänsele, dem Zug von Radolfzell nach Friedrichshafen, Teil der Bodenseegürtelbahn, auf nach Bermatingen, obwohl das eine Qual ist, wenn man vorher ständig mit der Schweizer Bundesbahn unterwegs war – aber das steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls kommen wir überraschenderweise doch irgendwann in dem Ort zwischen Salem und Markdorf an. Bermatingen gehörte seit 1390 zur benachbarten Zisterzienserabtei, da hatte das Dorf schon einige Jahrhunderte auf dem Buckel, erstmals genannt wurde es nämlich bereits 799, als der Herr Karl der Große auf dem Königsthron saß – Kaiser wurde er ja erst im Jahr darauf. Diverse Funde weisen darauf hin, dass Bermatingen allerdings noch um einiges älter sein dürfte, so fand man ein Grab vom Ende des 7. Jahrhunderts und zudem in der Kirche eine christliche Altarplatte, die in etwa auf 650 datiert wurde.

Die Kirche. Wenn man ins Zentrum des Ortes kommt, unzweifelhaft eines der schönsten im ganzen Linzgau, sucht man sie vergeblich. Tatsächlich liegt sie am Ortsrand, auf einem Hügelchen, früher ein eigener kleiner Ortsteil mit dem sprechenden Namen Pfaffenhofen. Auch diese Gebäudekombination fasziniert, denn hier steht neben einem sehr kräftigen spätgotischen Turm ein dreischiffiges Langhaus ebenfalls aus der Spätgotik, was für eine Dorfkirche sehr monumental ist. Kenner würden eine ehemalige Kloster- oder zumindest eine Wallfahrtskirche vermuten, doch hätten sie sich damit – ausnahmsweise – getäuscht. Bermatingen war weder das ein noch das andere, sondern schlicht die bedeutendste Pfarrei im Umkreis. Wie der Altarfund schon angedeutet hat, kann die Pfarrei – erst viel, viel später im 13. Jahrhundert urkundlich genannt – ein hohes Alter aufweisen. Lange Zeit war sie die Mutterkirche für Markdorf, Hagnau, Kluftern, Ahausen, Ittendorf, Kippenhausen, Immenstaad und Fischbach, kurzum für einen beträchtlichen Anteil des heutigen Bodenseekreises bis hinein ins Stadtgebiet von Friedrichshafen. Da kann man schon mal ein stattliches Kirchlein hinstellen, auch wenn die Pfarrei naturgemäß im Laufe der Jahrhunderte durch Auskopplungen immer mehr schrumpfte. Das Selbstverständnis der Urpfarrei Bermatingen repräsentiert auch in späterer Zeit noch das prächtige Pfarrhaus neben der Kirche, ein auffälliger Barockbau von niemand geringerem als Peter Thumb höchstpersönlich. Die nächste Überraschung erlebt, wer das Gotteshaus schließlich betritt: es ist über und über bemalt mit Fresken wiederum überwiegend aus der Spätgotik, in dieser Fülle – und dem teils sehr guten Erhaltungszustand – auch im an Fresken reichen Bodenseeraum eine Seltenheit. Auch der Rest der Ausstattung, darunter viele sehr schöne Marienstatuen, würde, neben dem Eindruck der Hallenkirche, den Besuch schon lohnen.

Obwohl das ja eigentlich gar nicht unser Ziel ist, woran mich Fräulein Annika erinnert. Wir sind also im Zentrum von Bermatingen, wo zwar die Kirche fehlt, aber dafür dem Fachwerkliebhaber alles geboten wird: die Sparkasse, das Rathaus, der gegenüberliegende Gasthof Zum Adler, große, geräumige Fachwerkbauten, umgeben von zahlreichen Wohnbauten mit nicht weniger Holzschmuck. Am auffälligsten sind naturgemäß das Rathaus mit seinem Dachreiter und dem in die Straße hineinragenden Säulengang sowie das erwähnte Gasthaus, am Wappen erkennbar als früherer Amtsitz des Salemer Verwalters. Die Gebäude sind alle frühneuzeitlich, denn 1590 wütete im Ort ein verheerendes Feuer, das wenig übrigließ von den Vorgängerbauten, was zum schmucken einheitlichen Gesamtbild beiträgt. Gestört wird dieser heimelige Eindruck aber durch den Auto- und LKW-Verkehr, der sich in nicht weniger Zahl und genau mitten durch das Ortszentrum hindurchschiebt. Selten hatte man so sehr das Gefühl, dass ein Ort eine Umgehung verdient hätte – und dafür gibt es noch einen zusätzlichen Grund. 1975 hat man im Autofahrerland – gemeint sind die Bundesrepublik im Allgemeinen und Baden-Württemberg im Besonderen – das Kunststück vollbracht, die spätbarocke Laurentiuskapelle im Ort, die 1780 eine Vorgängerin aus dem Spätmittelalter ersetzte, tatsächlich als Engstelle zu betrachten und kurzerhand abzureißen. Eine Umgehung wurde damals unter anderem mit der Begründung abgelehnt, dass im Süden bald ohnehin die neue Autobahn vorbeiführen würde. Nun, diese Autobahn wurde – zum Glück – nie gebaut, und, zweite abstruse Folge der Abrissaktion, die Ortsdurchfahrt blieb eng wie eh und je, denn auch noch das Rathaus abzubrechen oder zumindest durch Rückbau zu verstümmeln, hat man sich dann doch nicht getraut. Den Bermatingern darf man zugute halten, dass viele den Verlust der Kapelle damals wie heute betrauern. Zu Recht, nicht nur, weil, wie erwähnt, der einzig positive Nebeneffekt, der bessere Verkehrsfluss, nie eintrat, sondern weil man dafür sinnloserweise ein Schmuckstück geopfert hatte, wie jeder erahnen kann, der sich allein nur die in die Pfarrkirche geretteten Ausstattungstücke vor Augen führt.


Über dem Weppachbach
Es nützt ja nichts, die Kapelle ist auf immer perdu. Wir verlassen, sobald wir es über die Straße geschafft haben, den Schauplatz dieser Freveltat und genießen lieber die noch vorhandenen Fachwerkhäuser, die sich auch entlang der Straße ortsauswärts in Richtung Deggenhausertal aneinanderreihen. Besonders auffällig ist ein Gebäude kurz vor dem Ortsrand rechts, wo Fachwerk ringsum schon seltener geworden ist. Dem laienhaften Blick nach scheint es nicht nur ein hohes Alter zu besitzen, es sieht auch schwer nach einer Mühle aus. Auf den zweiten Blick bestätigt dies der an der Fassade angelehnte Mühlstein, doch fehlt noch immer eine grundsätzliche Voraussetzung: ein Bach. Eine Hinweistafel verifiziert zumindest schon mal, das es sich um die Salemer Mühle handelt – und auch der Bach taucht kurze Zeit darauf auf, beziehungsweise verschwindet er, da wir uns gegen die Fließrichtung bewegen, unter der Oberfläche, er wurde kanalisiert. Mit ihm verlassen wir Bermatingen und die Straße, kurz darauf verzweigen sich der Bach – genaugenommen fließen zwei Bäche ineinander – und mit ihnen teilt sich der Weg. Wir gehen rechts hoch in den Wald, denn dort liegt der Weiler Weppach.

Wie im Bodenseeraum üblich, schneiden sich die Gewässer, seien sie noch so klein, sehr tief in die Molasse, den weichen Sandstein der Region, ein, schnell geht es da gleich mal um mehrere zehn Meter hinunter. Für uns dagegen geht es an jenem engen Tal entlang bergauf in großer Kurve. Besagtes Gewässer hat übrigens den faszinierenden Namen Weppachbach, was einem ein bisschen redundant vorkommt und zu der Überlegung führt, ob der Wald um das Kloster Wald bei Pfullendorf Waldwald heißt oder die Seen um das Kloster Irsee bei Kaufbeuren Irseeseen. Der Weiher bei Marienweiher – noch ein Kloster, aber in Oberfranken – heißt jedenfalls nicht Marienweiherweiher, aber der Weppachbach Weppbachbach. Diesen trübseligen Gedanken nachhängend kommen wir schließlich, an ein paar freundlichen Waldarbeitern vorbei, die mit ihrem schweren Gerät den Weg ordentlich zermatscht haben – wovor immerhin gewarnt wird – auf die Lichtung des Weilers Weppach, dem Überbleibsel des einstigen Klosters.

Der Weiler Weppach
Dessen Ursprünge sind unbekannt, genauer: legendär. Ein Reisender soll sich hier verirrt, die heilige Anna um Hilfe gebeten und nach erfolgter Rettung an der Stelle, die er durch seinen Stock vorher gekennzeichnet hatte, einen Bildstock errichtet haben. Die heilige Anna als Nothelferin anzurufen ist recht ungewöhnlich, zumindest nicht unbedingt naheliegend, es sei denn man setzt einen persönlichen Bezug des Reisenden zu ihr voraus. Wie auch immer, das Kloster war später der Mutter Marias geweiht und womöglich liegt hierin die nachgetragene Erklärung. Die Gründungslegende, datiert auf das Jahr 1202, entspricht einem gängigen Muster, ihre Fortsetzung vermischt dann schon deutlicher Tatsächliches mit üblichen Motiven. Der Bildstock wurde ein beliebtes Pilgerziel, dazu fand sich bald in der Nähe eine Quelle mit vermeintlicher Heilkraft. Eine aussätzige Dame edler Abkunft habe sich dann dort niedergelassen, um – erfolgreich – von deren medizinischen Nebenwirkungen zu profitieren, ihr folgten andere Kranke. Um deren Betreuung kümmerten sich fortan Beginen, also fromme Frauen, die in einer ordensähnlichen Gemeinschaft lebten. Hier dürfte spätestens der historische Kern der Geschichte einsetzen, denn die Beginengemeinschaft existierte nachweislich und die Gründungslegende berichtet hier etwas, was gewöhnlich für diese Art Erzählung nicht zielführend ist, nämlich einen Misserfolg: das nachlassende Interesse der Kranken an der Heilquelle. Die Beginen aber blieben trotz fehlender Pilger vor Ort, der ihren Bedürfnissen entsprach: Abgeschiedenheit – wie noch heute der Fall – zur Kontemplation. 1384 ist die Sammlung, wie man solche Gemeinschaften nannte, urkundlich belegt, ab 1400 kommt es immer wieder zu Schenkungen. Die Beginen waren von der Kirche nie so recht anerkannt, jedenfalls beäugte man sie mal wohlwollend, mal – wesentlich öfter – misstrauisch. Selbständige Frauen waren immer verdächtig. Und so suchte man sie – in den besseren Zeiten – einer anerkannten Ordensgemeinschaft zuzuführen, in unserem Fall den Franziskanern aus dem nahen Überlingen. Dadurch wurden aus den Beginen sogenannte Terziarinnen, also „Drittordensschwestern“, zu unterscheiden vom anderen weiblichen Zweig des Franziskanerordens, den Klarissen. In schlechteren Zeiten wurden Beginen – und ihre männlichen Gegenstücke, die Begarden, noch mehr – auch als Ketzer verfolgt, hier im Bodenseeraum, wo sie sehr häufig waren und viele spätere Klöster auf Beginensammlungen zurückgehen, war dies zum Glück kaum der Fall.
Vor der ehemaligen barocken Klosterkirche.
Unter dem Kloster Weppach hat man sich keine prächtige Anlage wie im benachbarten Salem, auch keine große Ordensanlage wie im städtischen Überlingen bei den erwähnten Franziskanern vorzustellen, sondern eine kleine Kirche mit Ordenshaus, dazu später ein paar Ökonomiegebäude, beziehungsweise noch viel später ein Beichtvaterhaus. Solche Klöster existieren noch zum Beispiel auf der Schweizer Seeseite hoch oben in Grimmenstein oder Wonnenstein im Appenzeller Land – auch dort auf frühere Sammlungen frommer Frauen zurückgehend, später umgewandelt in Kapuzinerinnenkonvente. Die Weppacher Gründung gedieh recht gut, auch wenn – oder weil – hier nur jeweils an die zehn oder zwölf Nonnen wohnten. Selbst den Bauernkrieg scheint man gut überstanden zu haben, trotz der Nähe zu Bermatingen, dem Zentrum des „Bermatinger Haufens“. Aber der gab sich ja ohnehin je nach Standpunkt eher kompromissbereit oder kompromisslerisch, was nicht unbeträchtlich zum Scheitern des Bauernkrieges in der Region beigetragen hat. Ich solle nicht vom Thema abkommen, mahnt Fräulein Annika – und sie hat ja recht. Schlimm kam es für das Kloster erst im Dreißigjährigen Krieg, wo die Schweden mehrfach plünderten, dazu nahmen dann auch noch durchziehende bayerische Soldaten – an und für sich Verbündete – mit, was diese vergessen hatten. Die Schwestern flohen ins fürstbischöfliche Markdorf oder gleich hinüber nach Konstanz. Der Wiederaufbau gelang jedoch und wurde um 1780 mit dem Bau – oder der Renovierung – einer neuen Klosterkirche gekrönt. An der konnten sich die Klosterfrauen allerdings kaum mehr 25 Jahre erfreuen, 1803 wurde der Konvent vom neuen Landesherrn, dem Fürsten zu Fürstenberg, aufgelöst, die Nonnen dürften aber dort wohnen bleiben, bis die letzte von ihnen 1828 verstarb. Mit ihrem Ableben war auch das Schicksal der Gebäude besiegelt: das Ordenshaus wurde abgebrochen, das Beichtvaterhaus zum Bauernhof, die Kirche ausgeräumt und zur Scheune, später zum Wohnhaus umfunktioniert. Aus dem Kloster Weppach wurde das Einzel Weppach.



Deutlich sind die Abbruchkanten des Chores zu erkennen.


Und so ist es noch heute. Die Lage ist ein Idyll, damals wie jetzt. Dazu trägt das noch vorhandene Ensemble durchaus bei, auch dessen Gastfreundlichkeit – man bekommt hier auf Verlangen Getränke gereicht. Gleichwohl stimmt einen die profanierte Kirche – schon auf den ersten Blick als solche zu erkennen – natürlich etwas melancholisch. Versöhnlich immerhin, dass sie hübsch renoviert ist. Um das frühere Eingangsportal und die Fenster erkennt man noch Überreste von Zeichnungen und Einritzungen des barocken Dekors, das diese einst umgab. Im Innern, das wir leider nicht besichtigen konnten, soll es ebenfalls einige Spuren von Malereien geben. Wer um das Gebäude herumläuft, dem fällt auf der Rückseite der deutliche Mauerabbruch auf, der den früheren, abgebrochenen Chor markiert. Das also ist geblieben von über vierhundert Jahren Klosterleben auf der Weppacher Lichtung, und bevor uns die Wehmut gänzlich überfällt, flüchten auch wir wie einst die Nonnen ins benachbarte Markdorf. Fräulein Annika fragt sich mit gutem Grund, warum wir nicht ein lebendiges Kloster besuchen, schließlich wäre das ein vernünftiger Ausgleich, und da Grimmenstein und Wonnenstein ohnehin schon erwähnt wurden...? Wie immer hat sie natürlich recht – und wer wäre ich, ihr diesen Wunsch nicht zu erfüllen?

Donnerstag, 5. Juli 2018

Lektüremonat Juni 2018.

 
William Shakespeare: Sonette.

Kann man immer wieder und wieder lesen. Mehr braucht man nicht zu sagen. Sollte man jemals jemanden treffen, der Shakespeares Sonette doof findet, einfach aufstehen und grußlos gehen.  


Joachim Meyerhoff: Alle Toten fliegen hoch – Amerika.
Der Theaterschauspieler Joachim Meyerhoff (geboren 1967) zählt derzeit zu den erfolgreichsten Schriftstellern des deutschsprachigen Raumes. Lesungen seiner autobiographischen Romane füllen Säle, die Auflage des vorliegenden Taschenbuches ist die 29. (von 2015). Ersteres hat sicher auch mit der Vortragskunst – oder teils szenischen Umsetzung als Einmannstück – Meyerhoffs zu tun, doch könnte die die Leser*innen kaum über schriftstellerische Defizite hinwegtäuschen – wenn es sie denn gäbe. Meyerhoffs Berichte stehen deutlich in der Tradition jüngerer Erfolge wie denen von Sven Regener und dem ersten Buch dieses Jahres, Thommie Bayers „Das Herz ist eine miese Gegend“, und sind eben ähnlich lustig-melancholisch zu lesen. Im ersten Buch der noch nicht vollendeten Reihe befindet sich der Protagonist auf einem einjährigen Sprachaustausch – der kein Austausch ist – im ländlichen Amerika der 1980er Jahre. Das Bemerkenswerte ist allein hier, dass Meyerhoff nicht den überlegenen Europäer gibt oder unreflektiert US-Klischees abspult, auch nicht das Gegenteil überwältigter Begeisterung, sondern er sich die neugierige Aufgeschlossenheit des Jugendlichen erhält. Der seltsame Titel des Romans geht darauf zurück, dass der Aufenthalt in den USA durch ein schreckliches Ereignis in der Heimat unterbrochen wird.  
 
Inge Meyer-Dietrich: Plascha.
Die deutschsprachige Jugendliteratur hat insbesondere, wenn sie sich mit historischen oder zeitgeschichtlichen Themen befasst, zahlreiche viel zu wenig beachtete Meisterwerke hervorgebracht, die nicht nur in der Schule, sondern viel öfter und auch gerade von Erwachsenen gelesen werden sollten – mehr denn je. Genannt seien nur Willi Fährmanns „Es geschah im Nachbarhaus“, Hans Peter Richters „Damals war es Friedrich“, die drastischen Romane Gudrun Pausewangs wie „Die Wolke“, Ingeborg Engelhardts „Hexen in der Stadt“ und viele, viele mehr. In diese Tradition gehört auch der mehrfach mit Preisen aufgezeichnete Roman „Plascha“ (1988) von Inge Meyer-Dietrich (geboren 1944) über eine polnischstämmige Familie im Ruhrpott des Ersten Weltkriegs und der anschließenden Revolutionszeit – die Geschwister und ihre Nachbarn haben nicht nur mit der Abwesenheit des Vaters, Hunger und Not aufgrund der schlechten Versorgungslage, Anfeindungen als ‚Polacken‘ seitens der Nationalen und den schwierigen Arbeitsbedingungen der Kumpel zu kämpfen, ihnen bleiben auch die Hoffnung auf eine Verbesserung der Zustände durch die Republik, vor allem aber auf die Rückkehr des Vaters verwehrt.     
 
J.B. Priestley: Time and the Conways and other Plays
Hier wurden schon öfters Dramen aus der großen Zeit des britischen Theaters ab den 1960er Jahren besprochen – siehe Peter Shaffer, Tom Stoppard. Ihren Erfolg haben die einst jungen Theaterautoren gewissermaßen einem Mann zu verdanken, J.B. Priestley (1894-1984), der vor ihnen die Bühnen beherrschte und von dem sie sich abgrenzten. Priestley war ein ganz klassischer Bühnenautor, der noch die aristotelische Einheit von Zeit, Raum und Handlung einhielt und das bürgerliche Milieu bevorzugte. Handlung war an und für sich schon übertrieben – mehr als Gespräche fand kaum statt. Gleichwohl war ein Priestley ein geschickter Dramatiker mit Tiefgang, sein Erfolg kam nicht von ungefähr. Das titelgebende Stück hat eine raffinierte Struktur. Wir sehen die gleichen Menschen am gleichen Tag im ersten Akt – im zweiten Akt zwanzig Jahre später – und mit dem Wissen hierum noch einmal im dritten Akt. Mystisches vermischt sich mit Rationalem in „I have been here before“, in „The Linden Tree“ geht es um die Frage, wann der richtige Zeitpunkt kommt, um aufzuhören – und ob es diesen überhaupt gibt. Das vielleicht stärkste Stück „An Inspector Calls“ verhandelt die Schuld jedes Einzelnen an seinen Mitmenschen und wie man damit umgeht – Priestley zeigt sich hier wenig optimistisch. Das Stück verdient die Wiederaufnahme auf den Bühnenanstalten.   
 
Alexander Ebanoidse: Hochzeit auf imeretisch.
Der junge, recht erfolglose Bildhauer Lado wird in sein Heimatdorf in Imeretien, einer Landschaft Georgiens, bestellt, wo man ihn – den vermeintlich berühmten Künstler – beauftragt, ein repräsentatives Denkmal für die Gemeinde zu schaffen. Inspiriert von einem hübschen jungen Mädchen, dessen Familie er überreden kann, ihm Modell zu stehen, beginnt Lado sein Werk. Durch mehrere kleinere Schaffenskrisen hindurch vollendet er schließlich die Figur, die nun gemeißelt werden soll. Doch dem Künstler stellt sich plötzlich ein ganz anderes Problem: wie selbstverständlich gehen alle Dorfbewohner davon aus, dass Lado – schon aus Anstandsgründen – sein Modell heiraten wird. Eine Ablehnung akzeptieren sie nicht, Lado unternimmt alles, um der Zwangsverheiratung zu entgehen… Unterhaltsamer Roman des georgischen Schriftstellers Alexander Ebanoidse (geboren 1939), zum Ende hin etwas zäh, aber insgesamt aufgrund der Figurencharakterisierungen recht amüsant.
 
Wladimir Tendrjakow: Sechzig Kerzen.
In der aus einem kleinen Dorf hervorgegangenen Sowjetstadt Karassino wird ein Jubiläum gefeiert: der 60. Geburtstag Nikolai Jetschowins, der damit der älteste Lehrer der Stadt ist. Glückwünsche von allen Seiten treffen ein, doch darunter ist auch ein Brief eines ehemaligen Schülers, der Jetschowin die Schuld an seinem verpfuschten Leben gibt und ihm als Rache hierfür den baldigen Tod ankündigt. Jetschowin gerät ins Grübeln, wem er solch ein Leid zugefügt haben könnte, dass dieser Mensch so drastisch reagiert. Wie ernst ist das zu nehmen? Schwankend zwischen Mut und Verzweiflung blickt Jetschowin auf seine Fehler zurück. Ein Scherz war das Schreiben keineswegs, wie sich bald herausstellt – doch von wem kann der Lehrer Hilfe erwarten? Typischer Tendrjakow, der der eigenen Schuld am Handeln gegenüber Anderen nachgeht, den ungewollten und gewollten Verletzungen der Mitmenschen mit ihren weitreichenden Folgen. Es überrascht immer wieder, wie frei Tendrjakow seine wenig optimistischen Texte in der Sowjetunion publizieren konnte, möglich war dies nur in sogenannten Tauwetterperioden, denn die Romane und Erzählungen entsprechen nur stilistisch dem sozialistischen Realismus – was sich positiv auf die Lesbarkeit auswirkt – inhaltlich sind sie davon weit entfernt.     
 
Marie Hermanson: Himmelstal.
Die beiden eineiigen Zwillinge Max und Daniel sind sich nur äußerlich ähnlich: nach der Trennung der Eltern unabhängig voneinander aufgewachsen und erzogen, haben sie wenig gemein. Max ist ein aufschneiderischer, wenig zimperlicher Typ und dadurch äußerst erfolgreich, Daniel eher bieder, ein braver Dolmetscher mit Karriereknick und privatem Missgeschick. Man hat sich wenig zu sagen und sieht sich selten. Umso überraschender erhält Daniel Nachricht von Max mit der dringenden Bitte, ihn in der Schweiz zu besuchen, wo er sich in einer abgelegenen Reha-Klinik gerade von einem Burnout zu erholen scheint. Dort angekommen, stellt sich bald heraus, dass Max‘ Probleme weitaus anderer Natur sind als reine Überarbeitung. Er bittet Daniel um einen Gefallen: er solle als Max einige Tage dessen Rolle spielen, damit dieser die Klinik – was verboten ist – verlassen kann. Nur widerwillig lässt sich Daniel darauf ein. Doch sein Bruder kommt nicht wie versprochen nach wenigen Tagen zurück und das ist nicht das einzige, was Max Daniel verheimlicht hat. Ein klassischer Roman der großartigen Marie Hermanson (geboren 1956), in dem natürlich nichts so ist, wie es erscheint, selbst dann nicht, wenn man glaubt, das Schema zu erkennen. Alle paar Seiten ändert sich die Richtung. Ungewöhnlich für Marie Hermanson ist allenfalls, dass sie die Grenzen des Genres Thriller hier kaum verlässt. Das ändert aber nichts an dem intelligenten, unglaublich spannenden Geschehen – wie man es von der Autorin gewohnt ist.
 
Junichiro Tanazaki: Insel der Puppen.
Ein anschauliches Beispiel für die Probleme kulturellen Transfers bietet Junichoro Tanazakis (1886-1965) Roman „Insel der Puppen“. Obwohl am westlichen Schreiben geschult, richtet sich der Text anders als der zeitgenössischer japanischer Autoren nicht vorrangig an ein internationales Publikum – auch wenn Tanazaki schon zu Lebzeiten von diesem gelesen wurde. Denn der Plot ist durchaus international: ein Ehepaar hat sich auseinandergelebt und willigt in gegenseitigem Einverständnis in die Scheidung ein, was gesellschaftlich noch problematisch ist – der Roman entstand 1929 – vor allem aber finden die beiden nicht den Mut, den Schritt endgültig zu vollziehen, jeder findet neue Ausreden, um das Unvermeidliche zu vermeiden. Eine Lösung findet sich letztlich nicht. Für westliche Leser*innen stellt der Text aber höchste Ansprüche aufgrund des Kontextes, der vielen historischen und kulturellen Hintergründe, aber auch der Übersetzung. Riten, Kleider, Traditionen spielen eine große Rolle, dazu das japanische Puppentheater mit seiner für das Land großen Bedeutung, außerdem zahlreiche Nuancen des Soziallebens in den 1920er Jahren, die einem Europäer unbekannt sein dürften und somit wie vieles andere entgehen – was mehr als bedauerlich ist. Das kurze erklärende Lexikon am Ende hilft da nur über die gröbsten Fragen hinweg. Auch der Übersetzer – kurioserweise wurde aus dem Amerikanischen übersetzt, sofern es sich da nicht um einen Druckfehler handelt – gerät in Schwierigkeiten. So ist davon die Rede, dass der Sohn des Ehepaares gegenüber seinem Onkel plötzlich in einem Osakadialekt spricht. Für uns ist schon nicht klar, was dies nun genau zu bedeuten hat – dass der Sohn damit aufschneidet, wird kurz erwähnt – vor allem aber spiegelt der Text dies nicht wieder: obwohl oft unterschiedliche Dialekte Erwähnung finden, wird ständig hochdeutsch gesprochen. Ob man hier eine bessere Lösung hätte finden können? Insgesamt macht dies alles den Roman zu einem eher zähen Lesevergnügen, sofern man sich nicht sehr eingehend mit japanischer Kultur befasst. Was vielleicht nicht der schlechteste Anlass wäre.    

Mai 2018