Mittwoch, 27. März 2019

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (9) - Franz Kafka: Amerika.


Franz Kafka: Amerika. st 2654
 
Lange Zeit wurde Franz Kafkas (1883-1924) Erstlingsroman Amerika – von dem nur das erste Kapitel Der Heizer jemals gedruckt wurde, er blieb Fragment wie die anderen Romane auch – unter dem Titel Der Verschollene publiziert, wie ihn der Autor zwischenzeitlich in seinen Aufzeichnungen selbst genannt hatte. Beides ist nicht verkehrt, der leicht reißerisch-publikumswirksamere Arbeitstitel passt nicht minder gut zu dem Text, handelt es sich doch um Kolportage reinsten Wassers: Karl Roßmann muss aufgrund eines Sex-Skandals aus der Heimat im alten Europa per Schiff nach Amerika flüchten, dort stößt er per Zufall auf seinen sprichwörtlichen reichen Onkel, verliert dessen Gunst aber abrupt aufgrund dessen autoritären Verhaltens, steht auf der Straße, gerät an falsche Freunde, die ihn bestehlen, dann, nachdem  er eine Anstellung in einem mondänen Hotel gefunden hat, zurückkehren, wodurch er nicht nur seinen Job verliert, sondern durch Intrigen in Konflikt mit der Polizei gerät. Infolgedessen abhängig von seinen zwielichtigen Freunden, degradieren ihn diese zu ihrem Haussklaven. Nachdem er sich irgendwie aus deren Fängen befreien hat können, lässt er sich unter falschem Namen von einem obskuren Großzirkus in Oklahoma anwerben. Das Ende ist, wie erwähnt – und durch das Fragmentarische wie immer bei Kafka – offen.
Naturgemäß wäre, wer sich nur auf diese verkürzte und überspitzte – eben aber trotzdem auch mögliche – Lesart verließe und nun zu Amerika als spannender Strandlektüre griffe, eher schlecht beraten. Doch zugleich ist es das Merkmal Kafkascher Kunstfertigkeit, Lesarten herauszufordern, Festlegungen zu vermeiden und Interpretationen zu vervielfachen – nicht umsonst ist sein Schaffen eines der markantesten Beispiel für das von Umberto Eco gerade an ihm festgemachte offene Kunstwerk. Endgültiges über einen Roman von Kafka zu sagen ist nicht möglich. Deshalb seien auch hier nur Bruchstücke genannt, Aspekte, herausgepickt aus dem Ganzen des Textes.
Amerika – das Land – ist Verheißung und Bedrohung zugleich; die Ambivalenz zeigt sich wie angedeutet bereits im Romaneinstieg darin, dass Karl Roßmann keineswegs freiwillig in das Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten einreist. Vieles ist an diesem Beginn charakteristisch, insbesondere Karls Passivität als Spielball äußerer Einflüsse – die, wie meist bei Kafka, urplötzlich für uns als Leser*innen ins Licht treten. Die erotische Affäre, die ihn zum Aufbruch zwingt, geht von dem Dienstmädchen aus, womit der Reigen an von ihm unverschuldeter Handlungen einsetzt – an denen er durch seine geradezu schmerzhafte Naivität und seiner Fähigkeit, seine eigene Lage und Gefühle in andere zu projizieren, was ihn nicht selten völlig in die Irre bei der Beurteilung seiner Mitmenschen führt, wiederum keineswegs unschuldig ist. Diese Empathie mag man durchaus – wie Max Brod – liebenswert finden, doch ist sie auf ihre Weise eine typisch Kafkasche Übertreibung, die die Überlebensfähigkeit Karls in Frage stellt. Weshalb der Roman ganz sicher nicht – vermeintlich anders als Der Prozeß und Das Schloß – etwas Verheißungsvolles hat, wie der Klappentext behauptet. Auch wenn er nur das nominelle ist und nicht als das eigentliche Ende des Romans vorgesehen war, nehme man nur die Häufung negativer Formulierungen des allerletzten Abschnittes – der Fahrt nach Oklahoma – als Beispiel: Bläulich schwarze Steinmassen  gingen in spitzen Keilen bis an den Zug heran [...] vergebens [...] dunkle, schmale, zerrissene Täler [...] in der sie sich verloren [...] sie stürzten sich unter die Brücken [...], so nahe, dass der Hauch der Kühle das Gesicht erschauern machte (285).
Schon der Beginn ist, wie erwähnt, mehrdeutig. Karl erblickte die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.
‚So hoch!’ sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehen dachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben (7). Karl ist wieder passiv, wird gedrängt und geschoben, aber der erstarrte Blick auf die übermächtige Freiheitsstatue ist weniger Verheißung als Drohung – statt der Fackel trägt sie ein Schwert. Was auf den ersten Blick erlösend erscheint – der reiche Onkel, die scheinbar hilfsbereiten Freunde Robinson und Delamarche – wird nicht selten zur Enttäuschung. Ebenfalls gleich am Anfang taucht ein in Amerika – und allen Folgeromanen – immer wiederkehrendes Motiv auf: das der labyrinthartigen Irrgänge in Piranesischer Manier. Das Schiffsinnere voller fortwährend abbiegende[r] Korridore (7), das Haus des Onkels, wo Karl nicht einmal nach längerer Zeit die Lage von dessen Schlafzimmer kennt (vgl. 62f), die Villa des Herrn Pollunder mit ihren Türen und Treppen (vgl. S.71), das Stadtviertel und das Wohnhaus, wo Delamarche und Robinson hausen (vgl. S 214f), überall unzugängliche Räume, versperrte Möglichkeiten, Abzweigungen ins Nichts, überdimensionierte Räumlichkeiten, in denen man sich verliert. Auch dies naturgemäß eine Metapher für Amerika.  „Ja, frei bin ich“, sagte sich Karl, und nichts schien ihm wertloser (127). Freiheit, die, wenn man mit ihr nicht umgehen kann, auch Angst macht und bedrohlich wirkt.
Amerika ist für den jungen Karl Roßmann – wie wohl auch für seinen Erfinder Kafka, der das Land nie besucht hat – fascinosum und tremendum zugleich. Das Labyrinthische der Villen, Häuser und Städte ist schließlich auch eine Folge der Größe und Großartigkeit, auf die Karl allerorten trifft, sei es im Reichtum seines Onkels, der Schnelligkeit des Handels (vgl. S.49f), im Hotel, im weltgrößten Zirkus, in der technologischen Überlegenheit, im demokratischen Straßenwahlkampf, alles erregt und fasziniert, aber es ist auch schwer greifbar, unfassbar, undurchschaubar für den Fremden, Gefahr durch Aufgehen und Verschwinden in der Masse. Die ersten Tage eines Europäers in Amerika seien ja einer Geburt vergleichbar (41), einer Chance auf Neuanfang, aber auch Ausdruck der Hilflosigkeit und des Angewiesenseins. Ein zweites großes Hauptmotiv in Amerika ist Karls Getriebensein, dass zu einer ständigen Unterbrechung des Schlafes führt. „Ja, schlafen!“ sagte der Student, mit dem er sich unterhält. „Schlafen werde ich, wenn ich mit meinem Studium fertig bin. Vorläufig trinke ich schwarzen Kaffee.“ (257) Dieser Satz mit klassisch Kafkascher Ironie gilt für Karl – ohne Kaffee – mehr denn je und er könnte ihn gleich zigfach äußern. Ich bin schrecklich müde. Ich weiß gar nicht recht, wo ich bin (218), im Land des amerikanischen Traumes herrscht Schlaflosigkeit, die durch die wenigen ruhigen, erholsamen Stunden, in denen er schließlich erschöpft tatsächlich Schlaf findet, nur umso stärker hervorgehoben werden. So ist New York, bekanntlich laut Sinatra the city that never sleeps, ein Satz der in den Ohren Karl Roßmanns äußerst zweideutig nachhallen dürfte, amerikanischer Traum und Alptraum gleichermaßen.
 
Vorgänger Teil (8): Max Frisch - Stiller.

Donnerstag, 21. März 2019

Donnerstag, 7. März 2019

Lektüremonat Februar 2019.


Romain Gary: Lady L.


Die skurrile Alte, die sich nicht benimmt, wie man es von einer gediegenen Dame älteren Semesters erwartet, gehört zum Standardrepertoire der Komödie und läuft deshalb stets Gefahr, zum Klischee zu erstarren. Auch Romain Garys (1914-1980) Lady L., Mitglied der englischen Hocharistokratie französischer Herkunft, Mutter zahlreicher arrivierter Kinder, die als Bankdirektoren, zukünftige Bischöfe und Politiker in höchste Posten aufgestiegen sind, gilt ihren Nachkommen inzwischen als wunderlich, doch kommt es noch schlimmer. An ihrem 80.Geburtstag beichtet sie ihrem ewigen Verehrer, einem ebenso angesehenen wie unbegabten Schriftsteller, ihre Lebensgeheimnisse. Wobei von Demut nichts zu spüren ist, im Gegenteil: Lady L. schwärmt in ihrer Erinnerung an ihre jugendliche Liebschaft mit einem unglaublich anziehenden Anarchisten, der sie aus der Gosse befreit hat – ihre ganze adelige Herkunft war einst nur Teil eines Komplotts, um Mitglieder der feinen Gesellschaft zu meucheln. Der Plan lief nicht allzu glatt, aber Lady L. konnte nie von ihrer heimlichen Liebe zu dem Anarchisten lassen. Kleine britisch-französische Spitzen, skurrile Charaktere, ohne zu übertreiben, darunter aber auch ein durchaus ernster Konflikt zwischen der Liebe zur Menschheit und der zur einzelnen Person und der Unvereinbarkeit der beiden, all das in flüssig erzähltem ironischem Ton, eines von Garys leichter daherkommenden Werken, das in einmal mehr als großen Romancier bestätigt.  

 

Henry de Montherlant: Erbarmen mit den Frauen.

Henry de Montherlant (1895-1972) ist ein französischer Klassiker, geadelt schon seit langem durch die Aufnahme in die höchste Ehre für jede*n französische*n Literat*in, die Pléiade-Ausgabe seiner Werke. An diesem Status ist auch nicht zu zweifeln, eher schon daran, ob Montherlant heute noch allzu viele Leser*innen findet. Einst ein durchaus, auch hierzulande, vielgedruckter Autor, fällt es inzwischen schwer, sich für seine Themen, allen voran einem Männlichkeitskultus, der reichlich überholt wirkt, zu erwärmen. Auch „Erbarmen mit den  Frauen“, zweiter Teil eines längeren gleichnamigen Romanzyklus, widmet sich dieser Geschlechterfrage, durchexerziert an den Verhältnissen des blasierten Schriftstellers Pierre Costals, der seine Beziehungen als Experimente ansieht, mit denen seine Theorien bestätigen kann. Es ist keineswegs so, dass Montherlant einseitig die Ansichten seines Protagonisten unhinterfragt teilt, aber der zynische Frauenmissbraucher Costals ist eine Figur, der auch als reiner literarischen Verkörperung eines Prinzips kaum noch etwas abzugewinnen ist. Dementsprechend zäh liest sich der Roman, der gleichwohl rein formal seiner Zeit einst weit voraus war, indem er Mittel anwandte, die erst später mit der Postmoderne in Verbindung gebracht wurden, etwa dem Eingreifen des „Verfassers“ in den Text oder der mehrfachen Herausstellung des Romans als eines künstlich angefertigten Produkts, das zu sich selbst in ironischem Verhältnis steht. Inhaltlich Flop, formal top.   

 

B. Traven: Der Banditendoktor.

B. Traven (vermutlich 1882-1969) war lange der große Unbekannte der deutschsprachigen Literatur, was leider dazu führte, dass sich das Interesse von Publikum und Wissenschaft hauptsächlich darauf richtete, den Mann hinter dem Pseudonym zu entlarven – was erst in jüngster Vergangenheit gelungen zu sein scheint. Gleichwohl – B. Traven war durchaus ein sehr erfolgreicher Schriftsteller mit großer Leserschaft. Und das völlig verdient. Einer der Gründe hierfür mag darin liegen, dass Traven seine Geschichten in einem Genre schrieb, dem eher selten literarischer Anspruch zugebilligt wird: dem Abenteuerroman. Dies hatte jedoch zufolge, dass seine Romane und Erzählungen ferne Schauplätze und vor allem spannende Geschichten aufweisen konnten. Dabei war Traven kein Schreibtischvertreter mit Vorliebe für Exotismus, sondern berichtete einerseits von Ländern, die er selbst kannte, insbesondere aus Mittelamerika, andererseits aus dem Leben der untersten Unterschichten, von deren Ausbeutung, Dahinvegetieren und erlösungsfreiem Alltagsleben ohne jegliche Illusionen. Traven lässt sich nicht von Zynismus leiten, hinter seinem bösartigen-sarkastischen Tonfall mit viel Ironie verbirgt sich ein tiefer Humanismus, zudem versucht er auch nicht, kulturelle Unterschiede zu verdecken, sondern sozusagen Verständnis durch Unverständnis zu wecken, nichts liegt Traven ferner als eine Verklärung der Einheimischen. Der Erzählungsband „Der Banditendoktor“ ist ein hervorragendes Beispiel für Travens Schreiben. Gutes Buch insbesondere für Traven-Neulinge, für Liebhaber*innen sowieso. Merke: Traven lesen lohnt immer.         

 

Peter Murphy: Ich, John.

Der Debutroman des irischen Journalisten Peter Murphy (Geburtsdatum unbekannt), in Deutschland immerhin bei Suhrkamp erstveröffentlicht, handelt von einem Jungen, der in einem irischen Dorf mit seiner Mutter zusammenlebt, wenig Freunde hat, wobei er den einzigen, den er findet, schließlich verrät und zum Schluss auch noch seine Mutter dahinsiechen und sterben sieht. Das alles wird ganz gekonnt heruntererzählt, mal amüsant, mal mit den Ekeleffekten, die dann doch eher der typische Versuch sind, gute moderne Literatur mehr vorzutäuschen als zu sein, mit Traumsequenzen, für die dasselbe gilt und wenn man dann am Ende doch aufgrund der traurigen Ereignisse mild versöhnlich gestimmt ist, macht Murphy mit einem ohnehin reichlich überflüssigen, wie nachgeschoben wirkenden Kurzkapitel mit Kitschabgang doch wieder alles kaputt. Es wäre falsch zu behaupten, dass das Buch nicht hin und wieder Charme entfaltet, es wäre aber ebenso falsch zu behaupten, dass es einem lange im Gedächtnis bleiben wird.     

 

Louis-Sébastien Mercier: Das Jahr 2440.

Merciers (1740-1814) „Das Jahr 2440“ ist die klassische französische Utopie, getragen vom Geist der Aufklärung. Ein Bewohner des Paris‘ der 1770er erwacht eines Tages im Jahr 2440 – und es hat sich einiges getan (nicht nur) in seiner Heimatstadt. Utopien kranken stets etwas daran, dass sie einem starren Schema folgen: ein Besucher wird von einem Cicerone durch die perfekte Welt geführt, die mit den derzeitigen Zuständen positiv kontrastiert. Das liest sich meistens sehr zäh, anders als die späteren Dystopien, einerseits, weil es offensichtlich zu den menschlichen Grundkonstanten gehört, sich eher für das Schreckliche als das Perfekte zu interessieren, andererseits weil das Leben in den bedrohlichen Dystopien für gewöhnlich mit Gefahren, also zumeist auch einer richtigen Handlung verbunden ist, während sich die Utopien kaum von einem Reiseführer unterscheiden. Allerdings entkommt „Das Jahr 2440“ der völligen Langeweile, auch wenn dies nicht der Intention des Autors entspricht, dadurch, dass es aus heutiger Sicht kaum als Utopie gelesen werden dürfte, kaum ein*e Zeitgenoss*in würde vermutlich gerne in jenem 2440 leben wollen, wo Bücherverbrennungen stattfinden, die allen „Schund“, aber auch Klassiker aus den Bibliotheken aussortieren, weil sie zu skeptisch oder zu viele menschliche Abgründe zeigen, wo der Bewohner von 2440 mit Genugtuung feststellt, die Hagia Sophia sei zerstört worden, und es wird ebensowenig für sein Zeitalter einnehmen, dass es einen, wenn auch sehr netten, König gibt oder Frauen wieder nur ihren „natürlichen“ Aufgaben – Haushalt und Kinder – zugeordnet werden. Man mag Merciers Projekt durchaus sympathisch finden, da es aber vom reinen Kontrast lebt, und nicht wirklich von den momentanen Zuständen zu abstrahieren versteht, ist seine Zukunftsvision ziemlich rasch veraltet.     

 

Hans Fallada: Der Alpdruck.

Hans Fallada (1893-1947) war, wie er im Vorwort schrieb, mit seinem Manuskript von „Der Alpdruck“ eigentlich noch nicht vollends zufrieden, als er es in Druck gab, doch hatte er sich trotzdem entschlossen, den Roman zu veröffentlichen, da er ihn als aktuelle Zeitschilderung verstand, denn er befürchtete, dass dieser Abschnitt zwischen Kriegsende und Neuanfang sonst schnell der Verdrängung anheimfiele. Man darf zudem davon ausgehen, dass Fallada die Einnahmen gut gebrauchen konnte und sich so zur frühzeitigen Veröffentlichung bereit erklärte – die er dann doch nicht mehr erlebte. Das Romangeschehen ist stark autobiographisch gefärbt, der Protagonist, Dr. Doll, einst etablierter Schriftsteller, muss in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegen fehlende Anerkennung, die Behörden, ständige Armut heuchlerische und verleumderische Deutsche, vor allem aber gemeinsam mit seiner jungen Frau gegen ihrer beider Morphiumsucht ankämpfen, eine zähe tägliche Auseinandersetzung mit vielen Niederlagen und nur gelegentlichen Lichtblicken. Man merkt dem Buch an, dass Fallada hier nicht seine ganze schriftstellerische Finesse anwenden konnte, lesenswert ist auch dieser sein letzter Roman allemal.

 

Halldór Laxness: Atomstation.

Fast zur gleichen Zeit wie Fallada schrieb Halldór Laxness (1902-1998) den Roman, der ihm 1955 als erstem – und bisher einzigem – Isländer den Literaturnobelpreis einbrachte. Auch hier sind es die Nachkriegszeit und ihre Folgen auf das scheinbar abgelegene Land, das die Amerikaner gerne als natürliche Luftwaffenbasis für ihre Atombombenträger nutzen möchten. Dies ist der – tatsächliche – politische Hintergrund, den Laxness mit den Mitteln der Groteske aus der Sicht eines Dorfmädchens schildert, dass in der Hauptstadt in den Dienst eines Parlamentsabgeordneten tritt. Es werden grundsätzliche wie zeitbedingte Themen abgehandelt, dazu allerlei Einblick in das Island der 1940er Jahre gewährt, natürlich mit einiger Überzeichnung. Übel genommen hat man dies Laxness vor allem von konservativer Seite in seiner Heimat ebenso wie in Deutschland, wo das Buch im Zuge der Nobelpreisverleihung 1955 erstmals und reichlich gekürzt erscheinen durfte. Heute besitzt das Buch nicht mehr ganz die, nun ja, Sprengkraft, und man greift wohl auch besser zur „Islandglocke“ als Einstieg in Laxness‘ Werk, so manche zugrundeliegende Frage aus dem Roman könnte aber in naher Zukunft wieder an Brisanz gewinnen. Leider.

 

Cornell Woolrich: Rendezvous in Schwarz. 

In einer amerikanischen Provinzstadt trifft sich jeden Abend an derselben Stelle ein Liebespaar. Kurz vor der Hochzeit aber stößt der junge Mann eines Tages nur noch auf die Leiche seiner Verlobten, die durch einen dummen Zufall Opfer eines Verkehrsunfalls wurde. Anfangs will er die Zerstörung seines Glückes nicht wahrhaben, dann geht er daran, jedes Jahr am Todestag seiner Geliebten einen der Verursacher des Unfalls ebenso unglücklich zu machen, wie er es ist. Die Polizei kommt ihm nur sehr langsam auf die Schliche, erst das fünfte und letzte Opfer scheint sie wirklich schützen zu können, doch auch hier läuft bald einiges schief. Ein Suspense-Meisterstück mehr aus der Feder des wohl fatalistischsten aller Noir-Autoren, Cornell Woolrich (1903-1968).

 

Hans-Georg Noack: Die Webers.

…sind „Eine deutsche Familie 1932-1945“, wie der Untertitel präzisiert,
aus dem Arbeitermilieu. Hans-Georg Noack (1926-2005) setzt seine Familiengeschichte kurz vor der sogenannten „Machtergreifung“ an, da er auch auf die Gründe eingehen möchte, warum Menschen sich überhaupt von den Ideen Hitlers angezogen fühlten. Von da ab verfolgt er die Schicksale der einzelnen Familienmitglieder, aber auch von Nachbar*innen und Schulkamerad*innen der Webers. Resignation, Opportunismus, aber auch Begeisterung machen sich breit. Vater Weber, republikliebender Sozialdemokrat, möchte anfangs lieber stillhalten, bis der Spuk vorbei ist, manch Nachbar oder Mitschüler entdeckt plötzlich, dass er eigentlich schon immer für die nationale Sache war, und der Sohn Karl-Heinz wird zum Fremdkörper in der Familie, der sich vom Drill und der Gemeinschaftsideologie der HJ angezogen fühlt. Noacks Roman, der sich eher an ältere Jugendliche wendet, zeichnet ein realistisches Bild menschlichen Verhaltens unter der Diktatur, die einen sind keine glanzvollen Widerstandshelden, sondern eher Alltagsmutige, die sich ihre Mitmenschlichkeit bewahrt haben, die anderen Leichtgläubige, Dumme oder Wetterwendische, die zu spät merken, wohin ihr unterdrücktes Gewissen sie geführt hat.

Hans Joachim Schädlich: Der Sprachabschneider.

Obwohl gar nicht als solche gedacht, wurde Hans Joachim Schädlichs (geboren 1935) Erzählung über den Sprachabschneider Vielolog zu einer beliebten Schullektüre – durchaus zurecht. Ursprünglich hatte Schädlich, als Schriftsteller in der DDR kritisch beäugt, seinen Text, der anspielungsreich an einige literarische Vorgänger anknüpft, als Auseinandersetzung mit der inneren Zensur verstanden: Paul verkauft, um mehr Freizeit zu haben, per Vertrag erst seine Präpositionen und bestimmten Artikel, später zudem seine Verbformen und einige Konsonanten an den grammatischen Sammler Vielolog, der dafür seine Schularbeiten erledigt. Doch Paul, der nur noch rudimentäre kindliche Sätze sprechen kann, hat die Folgen nicht bedacht: die einen lachen ihn aus, die Eltern sind besorgt, die Lehrer fühlen sich veräppelt und selbst einfachste Dinge wie Einkäufe kann er nicht mehr selbständig vornehmen. Aus seiner Isolierung kann sich Paul nur retten, indem er sich mühsam seine komplette Sprache zurückerobert. Schade, dass die Geschichte so kurz ist. Oder anders: Schade, dass Geschichte so kurz sein.

 

Jens Peter Jacobsen: Frau Marie Grubbe.

Die europäischen Schriftsteller*innen und Intellektuellen des Fin de Siècle hatten eine Reihe von, wie man heute sagen würde, Kultbüchern, die jede und jeder kannte und über die in Zirkeln, Gesprächen, Artikeln und Briefen leidenschaftlich diskutiert wurde. Dazu gehörte „Niels Lyhne“ des Dänen Jens Peter Jacobsen (1847-1885), der einen darwinistisch inspirierten Naturalismus, starke Psychologisierung und einen tiefen Pessimismus miteinander verband. Schon in „Frau Marie Grubbe“ sind diese Züge erkennbar, einem historischen Roman über ein Frauenschicksal in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Obwohl selbstbewusst und als Tochter eines reichen Gutsbesitzers mit für anziehend erachteten Voraussetzungen bestens – finanziell – ausgestattet, bleibt Marie, aufgrund ihrer Schönheit von Vielen begehrt, zeitlebens von den Männern abhängig, die sich schnell für sie entflammen, aber dann doch wieder egoistisch ihre eigenen Ziele – und Liebschaften – verfolgen. Marie ist nicht gewillt, dies duckmäuserisch zu ertragen. Damit aber beginnt ihr Abstieg, einst Hofdame, landet sie über mehrere Stationen als Fährfrau eines straffälligen Stallknechts. Wurde schon erwähnt, dass Jacobsen ein abgrundtiefer Pessimist war…?