Samstag, 19. September 2015

Ein Urmensch aus Oehningen am Bodensee.

Oehningen auf der Halbinsel Höri findet sich idyllisch am Bodenseeufer und ist doch ein eher stiller und etwas abgelegener Ort direkt an der deutsch-schweizerischen Grenze. Kunstliebhaber mit sehr guten Kenntnissen wissen um das dortige ehemalige Kloster, der handelsübliche Tourist aber übersieht dieses meistens, wenn er sich in das wesentlich bekanntere benachbarte Stein am Rhein begibt, welches bereits zur Eidgenossenschaft gehört. Anfang des 18. Jahrhunderts wurde Oehningen jedoch zum Zentrum einer Sensation.
Öhningen: Totenkapelle St.Michael
 und ehemalige Klosterkirche. (c) BG

Ein spektakulärer Fund im Oehninger Steinbruch

Arbeiter des örtlichen Steinbruchs hatten eine Platte gefunden, die offensichtlich so etwas wie versteinerte Knochen enthielt. Fossilien. Es war das Jahr 1725 und man zog den berühmten Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer (geboren 1672, gestorben 1733) aus dem nicht allzu weit entfernten Zürich zu Rate. Der konnte sein Glück kaum fassen: für ihn war der Fall sonnenklar, endlich hatte er den lange gesuchten Beweis dafür gefunden, dass es Menschen gab, die vor der biblischen Sintflut existiert und diese nicht überlebt hatten.

Naturgeschichte versus biblische Erzählung

Denn Fossilien, wie wir sie verstehen, Versteinerungen ausgestorbener Lebewesen, wurden zu dieser Zeit noch nicht als Tatsache angesehen. Niels Stensen – Gelehrter und katholischer Bischof – hatte hier den Durchbruch geleistet, doch noch war dieser nicht überall angekommen. Natürlich gab es immer wieder einmal Funde von Knochen, doch wurden diese als bizarre Exemplare von Gesteinsformationen erklärt. Eine Naturgeschichte als Entwicklung gab es nicht, sie war inakzeptabel. Vorherrschende Meinung war nämlich die Unveränderlichkeit der Welt – und damit der Natur – seit ihrer Erschaffung durch Gott. Noah hatte in seiner Arche schließlich nicht nur die Menschheit gerettet, sondern auch von jedem vorhandenen Tier ein Pärchen transportiert. Der theologische Hintergrund war ebenfalls klar: Gott hatte die Tiere geschaffen und was Gott geschaffen hatte, war gut – es war demnach absurd, dass er Lebewesen quasi willkürlich in die Welt gesetzt haben sollte, um sie einfach wieder aussterben zu lassen.

Johann Jakob Scheuchzer und der Diluvianismus

Scheuchzer, in diesem Sinne sogar recht progressiv, glaubte nicht, dass es sich bei Fossilien um zufällig knochenähnliche Steine handelte, sondern suchte nach dem Beleg, dass es vor der Sintflut – antediluvian beziehungsweise antédiluvien, wie Engländer und Franzosen noch heute sagen – Menschen gegeben hatte, wie die Heilige Schrift überlieferte. Der Oehninger Fund lieferte ihm endgültig den Beweis. Dies waren eindeutig Knochen und ihr seltsames Aussehen bestätigte lediglich, wie alt sie sein mussten, wesentlich älter als die von römischen Märtyrern, wie man sie aus katholischen Kirchen als Reliquien kannte, älter auch als die ägyptischen Mumien, wie sie manch sammelfreudiger Fürst in seinem Naturalienkabinett aufbewahrte. Und da sie nun auch noch in der Nähe eines Gewässers gefunden worden war, musste es sich wohl um ein Sintflutopfer handeln. Getreu dem Motto: und die Bibel hat doch recht!

Scheuchzers „Obduktionsbericht“ und die Zweifel

Der Zürcher Gelehrte verfasste eine ausführliche Beschreibung des deformierten Skeletts, mit der er alle Zweifel zu beseitigen gedachte. Vorsichtshalber gab er seinem Fund auch gleich einen wissenschaftlichen Namen. Tatsächlich musste er nicht mehr erleben, dass seine Erkenntnisse immer mehr in Frage gestellt wurden, zu seltsam wirkte trotz aller Beweisführung dieser kuriose Sintflutmensch aus Oehningen. Weitere Funde vor Ort führten endgültig dazu, die Fossilien für nicht menschlich zu halten. Gleichwohl – was war es dann? Am Ende des Jahrhunderts herrschten allerlei Spekulationen vor, sicher war man sich nur, es sei ein Wasserwesen. Ein Fisch, ein Hai, eine Art Molch.
Blick vom Schweizer Ufer
über den Bodensee Richtung Öhningen.
(c) BG

Cuvier löst das Rätsel

Es war wieder einmal der große französische Biologe Georges Cuvier (1769-1832), der das Rätsel zu lösen verstand und der damit – wie etwa schon im Falle des niederländischen Mosasaurus – ein weiteres Steinchen fand für sein akribisch angefertigtes Mosaik, mit dem er die moderne Naturgeschichte begründete und die biblische Schöpfungsgeschichte beerdigte. Cuvier untersuchte im Jahr 1811 das Skelett und fand durch Vergleiche heraus, dass es sich um einen Salamander handeln musste. Allerdings einen riesig großen, wie es sie auf dem europäischen Kontinent schon lange nicht mehr gab. Folglich: ein ausgestorbenes Tier, kein ertrunkener Zeitgenosse Noahs. Es ist eine schöne Geste der Biologen, dass dieser Lurch trotzdem nach Scheuchzer benannt wurde, wissenschaftlich heißt das Tier nun Andrias scheuchzeri.

Literatur

Harald Gebhard, Mario Ludwig: Von Drachen, Yetis und Vampiren. Fabeltieren auf der Spur. München: 2005.
Manfred Reitz: Rätseltiere. Krypto-Zoologie: Mythen, Spuren und Beweise. Stuttgart: 2005.