Dienstag, 14. Februar 2023

Lektüremonat Januar 2023.

 


Graham Greene: Der menschliche Faktor.

In einer eher marginalen Abteilung des britischen Auslandsgeheimdienstes wird ein Leck vermutet, eine undichte Stelle, die an die Sowjets Material weiterreicht. Die winzige Sektion, zuständig für einige afrikanische Staaten, besteht aus nur drei Personen, dem Leiter Watson, dem langjährigen Mitarbeiter Castle und dem jungen Davis, zudem kämen theoretisch noch die Sekretärinnen in Frage. Doch weder drängt sich einer der Verdächtigten als unzuverlässig auf, noch ist das eher dröge Geschäft – Lesen, Verfassen und Weiterreichen von Berichten – von allzu wichtiger Bedeutung. Die Verantwortlichen vermuten Davis als den Verräter, der die Vorschriften nicht immer akribisch genau nimmt, gerne trinkt und ab und zu spielt. Hat er sich erpressbar gemacht? Stichfeste Beweise existieren nicht, die von den Oberen gesetzten Fallen erlauben keine eindeutigen Schlussfolgerungen. Dann ist Davis tot. Immer mehr scheint sich herauszukristallisieren, dass er nicht der Maulwurf gewesen sein könnte – falls es überhaupt einen gab. Mit der Inhaltsbeschreibung muss man hier aufhören, um nicht allzu viel verraten. In diesem Spätwerk verhandelt Greene (1904 bis 1991) einmal mehr die große Frage der Schuld. Das Meisterliche liegt naturgemäß darin, dass er keine einzige eindeutige Figur entwirft, jeder hat – vermeintlich – gute Gründe für sein Tun und zugleich ist vieles davon trotzdem falsch. Hinzukommt, dass die Folgen des Handelns nie voraussehbar sind, so sehr man auch glaubt, alles genau durchplant und berechnet zu haben. Es sind vor allem die Gefühle, die Irrwege einleiten, die festen Überzeugungen, aber auch die emotionslosen Zyniker sind nicht davor gefeit, fatale Fehler zu begehen. Große Themen, verpackt in einen spannenden Plot: Graham Greene.   

 

Günther Mahal (Hg.): Lyrik der Gründerzeit.

Einen literarischen Epochenbegriff Gründerzeit für die Jahre 1870 bis 1890 gibt es an sich nicht, und der Versuch Günther Mahals, diesen als Ersatz für das vage Etikett 'Spätrealismus' zu etablieren, konnte sich nicht durchsetzen. Mahals Anthologie vom Beginn der 1970er Jahre unterstreicht nur noch deutlicher, warum dies nicht gelingen konnte: Die versammelten Autoren – Autorinnen sind sehr, sehr selten – waren zwar zu ihren Lebzeiten äußerst beliebt und vielgelesen, ihre literarische Qualität jedoch kaum erhaltenswert. Es ist fast schon erstaunlich, dass man bei keinem der Schriftsteller das Gefühl hat, ihm sei durch das spätere Vergessen Unrecht getan worden, im Gegenteil, eher ist man froh über das gnädige Ausscheiden aus dem Kanon, den Schulbüchern und Universitätsstudien. Zeitgenoss:innen hätte dies vermutlich sehr überrascht, galten doch Dichter wie Felix Dahn, Emmanuel Geibel, Ernst von Wildenbruch oder Paul Heyse – später Nobelpreisträger des Jahres 1910 – als absolute Spitzenkräfte geistigen Schaffens. Immerhin deren Namen sind teils noch geläufig, im Gegensatz zu allerlei anderen, die der Band versammelt. In vielem ist die Lyrik jener Tage heute kaum noch erträglich, dies gilt sowohl für ihre Inhalte, etwa triumphalistische Siegesgedichte oder die Glorifizierung Bismarcks und des Reiches, deutscher Mythen oder Aufrufe zu deutscher Biederkeit, aber auch ihre fehlende Innovation, die über eine Dauerkopie der Spätromantik nicht hinausgeht. Die Moderne hat weder thematisch – was angesichts des Industrialisierungsschubs, den der vorgeschlagene Epochenname ausdrückt, umso mehr überrascht – noch stilistisch Einfluss ausgeübt, selbst als Negativkontrast taucht sie nur in ganz wenigen Einzelmomenten auf. Mahal hat erst gar nicht versucht, diese Art von Dichtung zu ‚retten‘ oder ihr einen neuen Stellenwert zu verschaffen, wie er selbst im Vorwort zugibt, ihm ging es um die Dokumentation, um eine Auseinandersetzung zu ermöglichen. Diese fällt kaum zugunsten der heute nicht mehr gelesenen Dichter aus. 

 

Zutzel/Zausel (Hg.): Die neue klassische Sau.


Diese zweite Anthologie der „literarischen Hocherotik“ wirkt heute bereits ziemlich aus der Zeit gefallen. Zurück geht sie auf eine Legende, ihren Vorgänger, einst zusammengestellt als „Die klassische Sau“ von Hermann Kinder und damals war dieses „Handbuch“ im Geiste der 1970er Jahre eine Mischung aus Provokation – hehre Größen werden mit Schweinskram in Verbindung gebracht –, Spielerei und Vergnügen am Erotischen, vor allem aber ersparte es jedem Jugendlichen, heimlich in der elterlichen Bibliothek die dortigen Werke nach ‚den Stellen‘ zu durchsuchen. Hier war alles kondensiert versammelt. An sich gilt dies natürlich ebenso für den Nachfolger aus der Mitte der 1990er Jahre – der mit einem Text Hermann Kinders auch eine Hommage an den ersten Band enthält –, aber das Ende des Konzepts zeichnet sich, damals wohl noch nicht ahnbar, bereits ab. Niemand wird wohl mehr Bücher nach eindeutigen Schilderungen abgrasen, dies mühsame Geschäft erledigt das Internet in Sekundenbruchteilen und bietet anschließend mehr als nur Buchstaben. Dies ist einer der Gründe, warum ein solches Buch inzwischen wohl kaum mehr einen Verleger finden würde. Ein weiterer wäre wohl die allgemeine Vor- und Rücksicht, denn Scham und Zurückhaltung legt sich das Buch tatsächlich nicht auf. Und da gerade die Literatur gerne im Abseitigen schwelgt, findet sich allerlei, was heute fast noch mehr provokativ wirkt als bei Erscheinen: Bestialität, Gewalt, Vergewaltigungsphantasien. Aber natürlich nicht nur, es dominiert Sex in allen Varianten, von erstem Kuscheln bis Vögeln im Alter, von der Antike bis in die Gegenwart, vom heimischen Bett bis zum exotischen Schauplatz, mal gelungen und wirklich erotisch, mal eher dürftig beschrieben und eher abstoßend. Es sollte für jeden und jede etwas dabei sein. FSK: 18.   

 


William Gibson: Biochips.

Über das Buch gibt es viel Schlechtes zu sagen: Für das scheußliche Cover und die schlampige Übersetzung der deutschen Taschenbuchausgabe ist der Autor immerhin nicht verantwortlich, für einiges andere dagegen schon. Gibson (geboren 1948) setzt drei erzählerische Stränge an, die über sehr lange Zeit scheinbar völlig unverbunden nebeneinander und abwechselnd existieren – hierin liegt natürlich kein Vorwurf. Der Hacker Bobby, der in einer von Gangs beherrschten Umgebung lebt, gerät beim Versuch, in den Cyberspace einzudringen, in Todesgefahr, er überlebt nur zufällig, doch da ihm bewusst ist, dass er mit seinem Unfall auf ein besonderes Geheimnis gestoßen sein muss, macht er sich auf die Suche nach einer Erklärung. Dass er keineswegs falsch liegt mit seiner Vermutung, zeigt sich daran, dass er fortan verfolgt wird. Turner, ein Mann für schwierige Aufträge, wird von einem Bekannten angeheuert, das Überlaufen eines Angestellten von einem Großkonzern möglichst geräuschlos über die Bühne zu bringen – was gehörig schiefgeht. Statt des Mannes taucht dessen Tochter auf, das Rettungsteam geht in einer gewaltigen Explosion bis auf Turner und das Mädchen in die Luft. Hatte der Konzern sich gerächt – oder Turners Auftraggeber ein falsches Spiel gespielt? Marly ist eine gescheiterte Galeristin, aufgrund eines Skandals ist sie allgemein geächtet, deshalb kommt es ihr gelegen, als ein ebenso sagenhaft reicher wie legendärer Multimilliardär ihr einen Auftrag mit quasi unendlichen Spesen verschafft: Sie soll etwas über die Existenz einiger obskurer Kunstgegenstände herausfinden, die hin und wieder auftauchen und von äußerster Seltenheit sind. Soweit die ungefähre Ausgangslage, die hier in der Kürze allerdings weitaus weniger wirr herüberkommt als im Text. Da Gibson ständig eine riesige Anzahl von Nebenpersonen einführt, dazu mit Technobubble nur so um sich wirft, und sich bei beidem keine Mühe macht, dies näher erklärend auszuführen, ist der Roman extrem zäh und undurchschaubar. Auch die gesuchte Coolness der Sprache zerrt hin und wieder an den Nerven. Das Seltsame: Obwohl man sich lange Zeit mit dem Text herumquält, möchte man trotzdem nicht von ihm lassen. Abgesehen vom Gewöhnungseffekt entwickelt das Buch trotz aller widrigen Umstände seinen Sog, und sei es nur, um zu erfahren, wie Gibson es wohl schafft, die drei Handlungsstreifen zusammenzuführen. Er schafft es – und auch wenn wir danach selbst ganz schön geschafft sind, es liegt natürlich auch eine große Kunst darin, uns solange bei Laune gehalten zu haben. Randbemerkung: Das Buch gehört zur heute legendären Cyberspace-Trilogie Gibsons, die diesen Begriff erst etablierte.        

 

Manfred Klein: Gespenstergeschichten aus dem Baltikum.

In der Reihe des Fischer-Verlages mit Gespenstergeschichten aus verschiedenen Ländern war das Baltikum geographisch und sicher auch literarisch gegenüber Ländern mit einer traditionellen Gruseltradition eher exotisch – und deshalb natürlich besonders reizvoll. Die Auswahl konzentriert sich größtenteils auf deutschsprachige Autor:innen der dort einst lebenden Minderheit, was ein gewisses Alter der Erzählungen mit sich bringt, nur einige wenige Zeitgenossen (der 1970er Jahre) und tatsächlich litauische, estnische oder lettische Schriftsteller:innen sind vertreten. Zwar muss dies an sich nicht zu einer gewissen Altbackenheit führen – tut es aber doch. Die Mehrheit der Geschichten erinnern eher an Sagen oder nehmen zumindest sagen- oder märchenhafte Elemente auf, die zudem nur bedingt genuin baltisch sind. Das ist teils ganz nett, aber selten wirklich gruselig. Und auch der Titel täuscht etwas über den Inhalt hinweg: Zwar entstammen die Texte dem Bereich der phantastischen Literatur, Gespenster jedoch spielen nur selten eine Rolle. Insgesamt leider enttäuschend und damit einer der schwächeren Bände der ansonsten verdienstvollen Serie.  

 

Peter Turrini: Die Minderleister.


Peter Turrinis (geboren 1944) Drama „Die Minderleister“ ist zugleich ein Zeitdokument und trotzdem noch immer erstaunlich – und traurigerweise – aktuell. Den Titel hat Turrini der Managersprache entnommen, die ganz unkaschiert über zu entlassende Menschen urteilt, die sie aus Profitgründen loswerden muss. Da das Stück den Endachtzigerjahren des 20. Jhs. entstammt, geht es um die Stahlindustrie. Es müssen Gründe gefunden werden, selbst langjährige Mitarbeiter geräuschlos und kostengünstig wegzurationalisieren, ein gutes Mittel ist hier zum Beispiel das Gegeneinanderausspielen, neben Abfindungen und Drohungen natürlich. Aber auch die Frau des Protagonisten ist betroffen, ihr Betrieb wird in ein Billiglohnland verlagert. Turrini führt mit den ihm eigenen Mitteln, teils drastisch, die erste Hochzeit des Neoliberalismus vor, und es ist erschreckend, wie wenig sich seither geändert hat, im Gegenteil, die Argumentationen haben sich ebenso erweitert wie die betroffenen Arbeitsfelder, bestenfalls gibt man sich sprachlich etwas mehr Mühe, das Vorgehen zu beschönigen. Der Band enthält zudem das Skandalstück „Tod und Teufel“ (1990) über einen Priester auf der Suche nach der Sünde und „Ich liebe dieses Land“ (2001), Turrinis Beitrag zur Asylthematik, nicht minder umstritten, nicht minder aktuell. Die Ausgabe ist angereichert mit einigen Aussagen und Interviewausschnitten des Autors zu den jeweiligen Stücken.

 

K.C. Constantine: Tomaten von unten.

Mario Balzic ist Polizeichef von Rocksburg, einer ehemaligen Bergbaustadt in den USA und zur Zeit ziemlich genervt: Es stehen gerade Verhandlungen zwischen der Gemeinde und den Gewerkschaften über mehr Lohn und bessere Ausstattung für die Polizisten an, doch seit drei Wochen sind diese in Formalitäten festgefahren. Balzic hat darauf an sich keinen Einfluss, seine Anwesenheit ist jedoch trotzdem, sehr zu seinem Missvergnügen, erforderlich. Der Fall einer Frau, deren Mann gegen sonstige Gewohnheit nicht nach Hause zurückkehrt, ist da eine gute Ablenkung, obwohl eigentlich keine besonders aufregende Sache. Genaugenommen bringt er nur zusätzlichen Stress, aber da Balzic feststellt, dass er die Frau aus seinen Kindertagen kennt und alles besser ist, als in den Verhandlungen zu sitzen, nimmt er sich des Vermisstenfalls an. Der scheint allerdings schneller beendet als gedacht. Während eines Besuchs des Polizeichefs taucht der Ehegatte höchstpersönlich wieder auf, schlecht gelaunt, wenig auskunftsfreudig, dafür aber mit einer Stange Geld. Zwar wirft er Balzic hinaus, der Fall ist somit vorbei, aber dieser erkundigt sich trotzdem noch etwas, er hegt einen Verdacht. Ein Kollege von der Rauschgiftabteilung bestätigt ihm, dass der Mann nach seiner Entlassung aus dem Bergbau sich für den örtlichen Drogenring engagiert, an untergeordneter Stelle zwar, aber daher das Geld – und wohl auch seine zunehmende Aggressivität. Das Ganze fällt also eigentlich in den Bereich der Rauschgiftfandung – bis der Mann erneut verschwindet und nicht wieder so schnell auftaucht. Constantine (geboren 1934) schuf mit Balzic einen netten Choleriker, zugleich innerlich sanft und sehr redefreudig, ein alter Recke auf seinem Posten, der seine Angestellten und Mitbürger:innen einerseits gerne belehrt, andererseits aber bei diesen aus Erfahrung stets den richtigen Ton trifft. Gleichzeitig ist er mit den Problemen der Verwaltung und in der Familie konfrontiert, weshalb er hin und wieder zu tief und zu früh ins Glas schaut, abgesehen davon, dass sein Temperament ihm besonders im Umgang mit Vorgesetzten nicht selten erheblich im Weg steht. Solider Krimi, der weniger von der Handlung als vom Kolorit, der sozialkritischen Unterströmung und seiner Hauptfigur lebt. Erstaunlich ist der deutsche Titel: Offenkundig so verliebt in das leidliche Wortspiel, war es dem Verlag scheinbar schnurzegal, dass er damit quasi bereits auf dem Cover den Ausgang verrät, also ganz klassisch ‚spoilert‘.