Donnerstag, 30. Januar 2020

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (15): Robert Walser - Geschwister Tanner.


Robert Walser: Geschwister Tanner. st 2724

Der Schweizer Robert Walser (1878-1956) gehört zu den großen Unbekannten oder eher noch zu den unbekannten Größen der deutschsprachigen Literatur. Schon immer von seinen zeitgenössischen Schriftsteller*innenkollegen wie Christian Morgenstern, Hermann Hesse oder Franz Kafka und bis heute von Autoren und den Fachleuten der Literaturwissenschaft hoch geschätzt, hat er nie den Zugang zum großen Publikum gefunden, obwohl seine Bücher dankenswerterweise weiterhin regelmäßig aufgelegt werden. Er ist ein anerkannter moderner Klassiker, der unter das Phänomen des writer’s writer zu fallen scheint, wie dies die Amerikaner nennen.
Warum eigentlich? Eine endgültige Beantwortung dieser Frage dürfte vermutlich kaum möglich sein, doch hilft die Suche danach, sich dem Werk Walsers anzunähern. An der Sprache kann es nicht liegen, Walser schreibt ein zugängliches, scheinbar einfaches Deutsch, auch in seinem Erstlingsroman Geschwister Tanner (1906), ganz wie es dem Charakter seiner Hauptfigur entspricht. Simon Tanner, der Protagonist, durch dessen Sicht die Handlung bestimmt wird, bringt in diese eine naiv erscheinende Weltsicht ein, die sich deshalb auch in der vermittelnden klaren Sprache widerspiegelt. Simon war voller Gedanken, schöner Gedanken. Wenn er dachte, kam er ganz unwillkürlich auf schöne Gedanken (17), gleichwohl ist er alles andere als eine Schelmenfigur, auch wenn, gerade zu Beginn, immer wieder Spuren in diese Richtung gelegt werden, außerdem würden einzuziehende Erklärungen über mich nur schlecht lauten, um offen die Wahrheit zu sagen (9), bekennt er gleich zu Beginn, so wie er auch seine Unbeständigkeit in Arbeitsverhältnissen noch vor Antritt eingesteht, die sich, wie die Leser*innen – und Arbeitgeber*innen – bald feststellen werden, in schöner Folge noch jedes Mal auch tatsächlich einstellen wird. Simons Bekenntnis ist folglich keineswegs Koketterie, sondern nur Ausdruck seiner Ehrlichkeit. Beides bringt ihm in seiner Umwelt – dem modernen Arbeitsleben – kein Glück. Die Kontrastfiguren, seine Geschwister, lassen dieses Scheitern umso deutlicher werden, nicht nur, wenn sie wie sein Bruder Klaus das genaue Gegenteil eines korrekten Bürgertums verkörpern, sondern gerade, wenn sie wie sein malender Bruder Kasper oder seine Schwester als Lehrerin in künstlerischem oder geistigem Rahmen durchaus reüssieren. Als Menetekel droht jedoch das Schicksal eines weiteren Bruders, der in der Irrenanstalt untergebracht ist (vgl. 214f) – die ambivalente Haltung Simons ihm gegenüber unterstreicht, dass er die Gefahren seines eigenen unentschiedenen Daseins durchaus wahrnimmt.
Dem Bruder Klaus, der so pflichtversessen ist, dass er die Pflicht versäumte, selbst ein bisschen glücklich zu sein (11), er schafft sich selber und andern immer Sorgen (140), setzt Simon sein Verständnis ungebundener Freiheit entgegen, Ich will keine Zukunft, ich will eine Gegenwart haben. Das erscheint mir wertvoller. Eine Zukunft hat man nur, wenn man keine Gegenwart hat, und hat man eine Gegenwart, so vergisst man, an eine Zukunft überhaupt nur zu denken (40), ich weiß nicht, was mich davon abhalten könnte, mein Werk in die Tat umzusetzen (7), Das Leben, es braucht mir gar nicht so sehr zu glänzen, so glänzt es doch schon in meinen Augen. Es ist mir meistens schön und ich verstehe die Menschen nicht, die es unschön nennen und es damit beschimpfen (215) – Bekenntnisse Simons dieser Art sind Legion und scheinen auf den ersten Blick das Bild vom fröhlichen Taugenichts Eichendorffscher Herkunft zu bestätigen. Tatsächlich aber befindet sich Simon in einer Umgebung, die solches Verhalten nicht mehr toleriert – wenn sie es jemals getan haben sollte. Geschwister Tanner ist ein Roman der Moderne, Simons, wenn man so will, spätromantische Lebenshaltung mag zwar sympathisch wirken – obwohl Walser auch hier Eindeutigkeiten vermeidet – das von ihm erstrebte Glück erreicht er hiermit aber ebenso wenig wie das völlige Spießertum seines Bruders Klaus.
Der Monotonie des modernen Arbeitslebens, der Herde von Lämmern (33), die Simon einer scharfen Kritik unterzieht, entkommt er zwar durch seine ständigen Ausstiege aus dem Angestelltendasein, zahlt dafür aber den hohen Preis der Unsicherheit, der ihn in Armenküchen oder eben wieder zurück in immer schlechter bezahlte Dienstverhältnisse zwingt. Auch menschliche Bindungen aufzubauen fällt ihm dadurch schwer, die Beziehungen zu seinen Geschwistern sind zwar liebevoll, aber keineswegs unproblematisch, Hedwig, die Lehrerin, die ihn  eine zeitlang beherbergt und versorgt, analysiert ihn als jemand, den nicht viele Menschen lieben (158) werden, Du hast etwas Blödes an dir, etwas Unzurechnungsfähiges, etwas, wie soll ich sagen, Unbekümmert-Läppisches. Das wird viele beleidigen, man wird dich frech nennen, und du wirst viele unfeine, früh mit ihrem Urteil über dich fertige Feinde haben, die dir zu schwitzen geben können; doch wird dir das nie Angst einjagen (158). Die Beschreibung seiner Schwester ist ebenso zutreffend, wie ihr Urteil, Simon verstehe es gleichzeitig, zuzuhorchen, und das ist im Gespräch vielleicht wichtiger, als das Sprechen (158). Zusätzlich ist er kontaktfreudig und ohne Scheu, ausgestattet mit Fantasie und der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, oder besser: hineinzuphantasieren (vgl. 23). Und doch bleibt er außen vor, selbst die teils engen Beziehungen zu seinen Geschwistern und zu Bekannten sind ebenso brüchig und instabil wie seine Arbeits- und Wohnverhältnisse.
Schwere Zugänglichkeit zu einer größeren Leserschaft könnte auch experimenteller Stil hervorrufen – auch dieser ist, oberflächlich, bei Walser nicht zu finden. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass hier kein konventioneller Roman erzählt wird. Tatsächlich evoziert das Arrangement einen Entwicklungs- oder Bildungsroman, doch weder das eine noch das andere findet statt. Die äußere und innere Situation Simons ist am Ende die gleiche wie zu Beginn und sie ist es nicht nach einem durchlaufenen Erkenntnisgewinn, sondern sie ist statisch. Zwar gibt es eine milde, aber letztlich nicht ausschlaggebende Chronologie, die einzelnen Abschnitte können problemlos verschoben werden. Simons ständige Kündigungen und Rauswürfe, seine Wohnungssuchen und abbrechenden Freundschaften reihen sich auch deshalb austauschbar aneinander, weil hieraus kein Lernprozess entsteht, ganz gemäß seinem oben erklärten Diktum, nur in der Gegenwart leben zu wollen (vgl. auch 284); es ist nur konsequent, dass er einen biographischen Text über seine Kindheit nach der Vollendung sofort wieder zerstört (vgl. 103-111). Vielleicht ist es diese rigorose Sorglosigkeit, die das Scheitern in Kauf nimmt, die viele Leser*innen hinter der schönen, scheinbar naiven Sprache Walsers und seines alter Ego Simon Tanner so verstört hat: Mein Ende ist mir gleichgültig. Sie sagen mir immer, jene andern, ich werde meinen Übermut noch schwer büßen müssen. Nun wohl, dann büße ich und erfahre dann doch, was büßen heißt. Ich erfahre gern alles und deshalb fürchte ich nicht so viel, wie die, die um eine glatte Zukunft besorgt sind. Ich habe immer Angst, es möchte mir eine einzige Lebenserfahrung entgehen. (233)  


             

Mittwoch, 22. Januar 2020

Das Zitat zur Schließung meiner Stammbuchhandlung.



"That people should aspire to read and think about great books, or even aspire to being thought of as the sort of person who reads great books, is not a bad thing for society."

Susan Jacoby (geboren 1945), That Age of American Unreason in a Culture of Lies.

Jacobys fulminante Analyse war ursprünglich 2008 als Reaktion auf die Regierung Präsident George W. Bushs erschienen, die sie als Kennzeichen einer historischen Entwicklung interpretiert, die im Widerspruch zu den Idealen der Gründungsväter aus dem Geist der Aufklärung, einen sich stetig verstärkenden Anti-Intellektualismus buchstäblich populär macht und diesen selbst als Aushängeschild nutzt, das heißt sich möglichst nah am "einfachen Menschen" und möglichst weit weg von "akademischen Eierköpfen" zu gerieren. Jacoby geht dabei auf die Hintergründe in der kulturellen Formation der Nation ein, aber auch die zahlreichen komplexen Strömungen, die den Fortschritt der Bildungsfeindlichkeit verstärkten, Ideologien sowohl von Links als aber auch besonders Rechts und von religiöser Seite. Dazu kommen technische Entwicklungen, denen unkritisch gehuldigt wird, ohne ihre Konsequenzen auf das Sozialleben und die Bildung ausreichend zu berücksichtigen. Dabei ist Jacoby bei weitem keine Kulturpessimistin aus der Sonntagsbeilage, sondern liefert mit ihrem Buch genau das, was sie von einem Buch verlangt: eine ausführliche, tiefgehende und vor allem fundierte Betrachtung, die ihre Positionen zur Diskussion stellt - und die in großen Teilen bei weitem kein reines US-spezifisches Problem referiert, sondern generelle Tendenzen, die längst weite Bereiche des globalen kulturellen und politischen Lebens erfasst haben. 2018 gab die Autorin aus guten bzw. schlechtem Grund das Buch in überarbeiteter Form neu heraus, mit erweitertem Titel...     

Freitag, 10. Januar 2020

Lektüremonat Dezember 2019.


Daniel Kehlmann: Ruhm. 

Nach seinem Weltbestseller "Die Vermessung der Welt" konnte es wohl kaum jemand besseren geben, einen Roman zum Thema "Ruhm" folgen zu lassen als Daniel Kehlmann (geboren 1975). Das Buch ist schon deshalb erfreulich, weil es gar nicht den Versuch unternimmt, an irgendwelche erprobten Erfolgsrezepte des Vorgängers anzuknüpfen und auch nicht, sich selbst autobiographisch auszuschlachten. Zwar spielen erfolgreiche Schriftsteller darin durchaus ihre Rollen, aber man wird wohl hoffen, dass Kehlmann sich nicht in deren Verhalten widerspiegelt. Handelt es sich doch um selbstverliebte Egozentriker, gänzlich hilflose Figuren oder zynische Phrasendrescher - bei allen aber reicht dies für den besagten Ruhm. Kontrast bilden Alltagspersonen, die durch Zufälle mit den Berühmten in Kontakt kommen - oder gar deren Rollen beziehungsweise Persönlichkeiten übernehmen. Fragt sich, was dieser Ruhm wohl wert ist, wenn er anstandslos von einer fremden, noch dazu meist mediokren Person usurpiert werden kann oder einen nicht davor bewahrt, auf immer in irgendeiner nahöstlichen Wüste zu verschwinden. Das hübsch konstruierte Buch - das sich selbst gerne als reine Spielerei zu erkennen gibt - mit neun scheinbar erst einmal unabhängigen Geschichten lebt von den zahlreichen Verknüpfungen, den Treppenwitzen und dem satirischen, aber nicht übertriebenen Tonfall aus den frühen Romanen Kehlmanns.



Bohumil Hrabal: Ich dachte an die goldenen Zeiten.

Diese Frau ist mit einem Ehemann übelster Sorte geplagt: er säuft ohne Scham, schlichtet Essen haufenweise in sich hinein, kann an keiner Wirtschaft vorbeigehen, ohne einzukehren, ist ein Hypochonder und hat nun auch noch einen Gedichtband verfasst, obwohl sein Tschechisch jeglicher Grammatik spottet und schon in der Schule als ungenügend galt. Als der Erstdruck noch immer nicht geliefert wird und der erfolgssehnsüchtige Dichter sich schon vor Verzweiflung vor die Hunde gehen sieht, sucht seine Frau - die Ich-Erzählerin - um dem Drama zu entfliehen, den Verlag auf. Glücklicherweise kommt sie mit einem Exemplar zurück. Damit scheint endlich Frieden im Hause einzukehren, sie bereitet sich aber schon darauf vor, die Enttäuschung ihres Mannes auffangen zu müssen. Weit gefehlt: das Buch findet reißenden Absatz, ihr Mann wird zum gefeierten Schriftsteller, mit jedem Buch - eines schlechter als das andere ihrer Meinung nach - steigt sein Ruhm. Man kann sich plötzlich eigene Träume erfüllen, ein Häuschen auf dem Land, kommt in Kontakt mit Berühmtheiten, internationale Kollegen wie Heinrich Böll statten Besuche ab. Während des Prager Frühlings wird der Gatte zum "liquidierten Schriftsteller", seine Frau, nun in der Altpapierfabrik arbeitend, kann dort seine Werke haufenweise zum Recycling aufstapeln. Die Folge: das Ansehen ihres Mannes erhöht sich noch mehr. Satire des tschechischen Altmeisters Bohumil Hrabal (1914-1997), perspektivisch sehr clever verschoben auf die Gattin des verschrobenen Dichters mit Hang zum Alkohol - dessen Name im Roman: Bohumil Hrabal.        


Irmgard Keun: Gilgi - eine von uns.

Ihr Debüt machte Irmgard Keun (1905-1982) sofort zu einer der markantesten weiblichen Autorinnen der Neuen Sachlichkeit, im Folgejahr 1932 konnte sie ihr literarisches Talent mit "Das kunstseidene Mädchen" einmal mehr bestätigen. Dann war es vorbei - die Nazis kamen an die Macht, junge selbstbewusste Frauen waren weder als Autorinnen noch Protagonistinnen von Romanen mehr gefragt. Irmgard Keun irrte zwischen Exil und Innerer Emigration umher, war im Nachkriegsdeutschland vergessen. Erst die Frauenbewegung mit ihrem Interesse an Schriftstellerinnen verhalf ihr zu später - erneuter - Anerkennung kurz vor ihrem Tod. Das verwundert nicht: Gilgi ist eine von ihnen, den jungen Maädchen, die in der relativen Freiheit der 20er Jahre groß geworden sind, hin und her gerissen zwischen dem äußeren Glanz der Epoche und dem Ausbruch aus traditionellen Mustern, was natürlich auch Gefahren birgt. Sie ist extrem fleissig, ehrgeizig, arbeitet im Büro, um nicht abhängig zu sein und lernt in der Freizeit gleich mehrere Sprachen, um nicht ewig hinter dem Schreibtisch versauern zu müssen. Ihrer lebenslustigen Freundin Olga kommt sie zu verbissen vor, auch wenn sie sie durchaus unterschwellig für ihre Konsequenz bewundert - dumm nur, dass sie es sein wird, die Gilgi von ihrem Weg abringen wird, indem sie ihr den Schriftsteller Martin vorstellt, doppelt so alt und ein Bohemien. Gilgi verliebt sich und gibt nach und nach ihre Prinzipien auf. Statt Arbeit Alles für den Mann. Erst als sie mit dieser Selbstvergessenheit eine Katastrophe heraufbeschwört, versucht sie der Situation zu entfliehen. Ob dies gelingt, bleibt offen. Zurecht wiederentdeckt besticht der Roman vor allem durch seinen Innenblick auf die zugleich naive und lebenslustige, aber keineswegs sich den Zumutungen der Familie, des Alltags und den Zwängen der Gesellschaft beugende Protagonistin.


Charles Bukowski: Ein teuflischer Weiberheld.

Einmal mehr ein Band mit Stories von Altmeister Bukowski (1920-1994), man weiß also, was man zu erwarten hat - und man bekommt es auch. Harte, obszöne Sprache, noch härtere, noch obszönere Geschichten. Manches davon wirkt heute etwas schal, etwa der Bericht eines Mannes, dem es gefallen hat, sich Anfang der 1940er Jahre aus purer Provokationslust als Nazi an einer amerikanischen Uni zu gerieren oder die brutale Schilderung einer eher zufälligen Vergewaltigung mit Todesfolge durch zwei Gelegenheitsgauner. Unterhaltsamer ist da schon die Titelgeschichte, in der ein Jahmarktsbesucher aus Mitleid den dort in einer Freakshow als Teufel eingesperrten vermeintlichen Schauspieler befreit und mit nach Hause nimmt. Dumm nur, dass es sich um den leibhaftigen Leibhaftigen handelt, der ihm zum Dank gleich mal die Frau ausspannt. Den Teufel im Haus dann wieder loszuwerden erweist sich als ziemlich schwierig. Bukowski halt, nicht alles hat Charme, aber alles ist garantiert schlechter Geschmack ohne Niveau und deshalb liest man's doch wieder recht gern.
 

Peter Stamm: An einem Tag wie diesem.

Zu einem Liebling des Feuilletons und zur Schullektüre hat es der Schweizer
Schriftsteller Peter Stamm (geboren 1963) längst gebracht, ohne einem großen Publikum allzu bekannt zu sein - eine ausreichende Leserschaft ist ihm aber bei jeder Neuerscheinung sicher. Schuljahresende für den Deutschlehrer Andreas, der seit langem in Paris lebt, anspruchslos, allein, scheinbar ausgeglichen, er leistet sich zudem zwei Geliebte gleichzeitig. Sein Alltag ist durchgeplant, ohne dass ihn dies stören würde, es gibt nichts Überraschendes, aber Andreas ist ohnehin reichlich uninteressiert an seiner Umgebung, seiner Familie, letztlich auch an seinen Mitmenschen. Eine banale Geschichte aus einer Schullektüre, die ihn an eine Jugendliebe erinnert, sorgt aber für eine nicht mehr wegzuignorierende Irritation, dazu kommt ein ausstehender Befund einer Lungenuntersuchung, der womöglich Böses verheißt. Der Versuch, sich vor den dort drohenden Konsequenzen zu drücken, führt dazu, dass er von einem Tag sein Leben völlig umkrempelt: er fängt eine Affäre mit einer wesentlich jüngeren Praktikantin an, verkauft seine Wohnung, kündigt seinen Job, vergrätzt seine Geliebten und seinen einzigen Freund.  Eine Reise in sein Heimatdorf zu seiner Jugendliebe soll innere Aufklärung bringen - und tatsächlich bringt er sie dazu, mit ihm zu schlafen. Mehr aber nicht. Ein Neuanfang steht nicht an. Er besucht seinen Bruder mit Familie und stellt fest, dass es eher sein Desinteresse war, das zur Entfremdung geführt hat. Er reist seiner Geliebten hinterher, die er vorher noch weggeschickt hatte. Sprachlich schön und unaufgeregt erzählt, springt der Funke dieses Romans nie recht über: zu unterkühlt, zu abgeklärt wirkt dieser Protagonist, der unfähig beziehungsweise zu faul zu sein scheint, Gefühle für seine Mitmenschen zu entwickeln, der diese je nach Verfügung benutzt und wieder beiseite schiebt. Er will niemand an sich heranlassen - was den Leser und die Leserin angeht, dürfte ihm dies gelungen sein.   

     

Richard Powers: Galatea 2.2

Richard Powers (geboren 1957) wurde nach der Jahrtausendwende in die im Gefolge von Jonathan Franzens „Korrekturen“ jenseits des Atlantiks stark rezipierten us-amerikanischen Großschriftsteller der – damals – jüngeren Generation eingereiht, mit der Folge, dass seine vorher kaum wahrgenommenen Frühwerke neu und in größeren Verlagen aufgelegt wurden. Hierzu zählt auch „Galatea 2.2“, einst 1995 veröffentlicht, sicherlich ein typisches Werk der Epoche und des Schriftstellers. Der Plot: Ein nach abgebrochener Beziehung deprimierter und orientierungsloser Schriftsteller kehrt mangels Alternativen für einen Lehrauftrag an seine frühere Uni zurück, gerät dort in einen Kreis ambitionierter Computer-Spezialisten, die aus einer Laune heraus eine Wette abschließen: Sie würden einen Rechner konstruieren, der die Aufgabe der Literaturprüfung genauso gut erledige wie ein Studierender – so dass ein neutraler Beobachter nicht unterscheiden könnte, welche Antworten vom Menschen und welche vom Computer stammten. Aufgabe des Schriftstellers – der auf der Seite des Konstrukteurs mitarbeitet – ist das Füttern der Maschine mit den Texten der Prüfungsliste und der Überwachung der Stimmigkeit der Antworten in Inhalt und Sprache. Anfangs läuft die Sache schlecht, doch mit jeder neueren Version entfaltet der Rechner, der bald den Namen Helen erhält, also menschlicher wird, scheinbar bessere Fähigkeiten – ob die allerdings womöglich nur in der Phantasie des Schriftstellers existieren, bleibt bis zum Ende offen. Verwoben ist das aktuelle Geschehen mit der nachgereichten Geschichte der gescheiterten Beziehung, die gleichzeitig die Motivation des Schriftstellers – der übrigens Richard Powers heißt – liefert, aber auch die eventuelle Begründung für seine Illusionen über sein konstruiertes Gegenüber. Fließende Grenzen zwischen Technik und Menschlichkeit waren schon damals Powers‘ Thema, schließlich ist er selbst gelernter Physiker, der auch im Computerbereich gearbeitet hat. Dies ist dem Text mehr als anzumerken. Die Idee war früher da als der Plot, so scheint es, und mühsam wurde die Geschichte drumherumgebastelt. Zwar erspart uns Powers allzuviele technische Details, aber irgendwann hat selbst der letzte Leser die Tücken des Spracherwerbs verstanden, so oft werden sie wiederholt. Schlimmer noch ist die Sprache: oft in einem larmoyanten Pathos, in völlig verunglückter Mischung von Fachwörtern mit vermeintlicher Poesie, die gerade zum Schluss hin immer verschwurbelter wird. Das passt wiederum zu dem schwer erträglichen Grundton des Selbstmitleides des Protagonisten, der zu dem sehr zähen Leseunvergnügen beiträgt. Die einzig große Erkenntnis des Textes ist schließlich, dass die Entwicklung von Spracherkennung und des Selbstlernens durch Algorithmen in den letzten 25  Jahren kaum vorangekommen ist. Dafür hätte man aber keine 450 Seiten lesen müssen.

Joachim Meyerhoff: Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke. 

Schauspielschule oder Schwesternwohnheim, das scheint der Scheideweg des jungen Joachim, wobei die Frage gar nicht so groß ist, wie man denken könnte, scheint doch der Zivildienst mit der verheißungsvollen Unterkunft wesentlich attraktiver als die Aufnahmeprüfung an der Otto-Falckenberg-Schule, von der man erst gar nicht weiß, warum man sich dafür eigentlich angemeldet hat – und noch weniger, warum man sie besteht. Nun gut, wir dürfen auch im Folgenden, dem Geschilderten nach, katastrophalen Verlauf der irgendwie bestandenen Ausbildung reichlich Understatement vermuten, ist Joachim Meyerhoff (geboren 1967) heute doch einer der gefragtesten deutschsprachigen Bühnenschauspieler, was kaum ein*e unvoreingenomme*r Leser*in nach der Lektüre vermuten würde. Meyerhoff schildert zwar seine Erlebnisse auf der Schauspielschule und den Beginn seiner Karriere, mehr aber ist das Buch eine Hommage an seine Gastgeber in Münchner Tagen – und Tage sollten es ja anfangs auch nur sein, die seine Großeltern ihm Unterkunft boten. Es wurden drei Jahre, die er mit ihnen in der Nymphenburger Villa lebte, in ihrem strengen, quasi-rituellen Tagesablauf, der sich durch die Einnahme diverser Alkoholika strukturiert. Die beiden hochbetagten Herrschaften, stets vornehm, werden gleichermaßen von ihrem Gast bewundert: seine Großmutter ist eine frühere Bühnen- und noch immer gelegentlich aktive Fernsehschauspielerin, der Großvater ein emeritierter hochgeschätzter Philosoph. Zwar ist unterschwellig durchaus zu spüren, dass vor allem in Kindertagen die Distinguiertheit der beiden mit einem gewissen Angstgefühl einherging, dass jedoch großem Respekt und gewissermaßen Ehrfurcht gewichen ist, insbesondere aber bildet der Kontrast der unsicheren Verhältnisse auf der Schauspielschule mit der vertrauten Erstarrtheit zuhause geradezu einen Rückhalt an Verlässlichkeit. Meyerhoff wäre nicht Meyerhoff, wenn all das einserseits nicht wie immer als heitere Alltagsgroteske erzählt, es anderseits aber über die tragischen Ereignisse hinwegtäuschen würde, die stets der Hintergrund bleiben. Diesmal sind es nicht nur – erwartbar – der Tod der Großeltern – sondern auch das frühe Ableben seines Vaters, das, wie man zugeben muss, fast ein wenig zu kurz kommt. Denn Meyerhoffs Art, Sterben und Tod zu schildern, hat – wie die Szene am Totenbett des Großvaters zeigt – immer auch Tröstliches. Reiht sich ein in die großartige Abfolge seiner Romane.   

Kazuo Ishiguro: Damals in Nagasaki. 

Der Englisch schreibende, in Japan gebürtige Literaturnobelpreisträger des Jahres 2017, Kazuo Ishiguro (geboren 1954), widmete diesen frühen Roman seiner Geburtsstadt Nagasaki, worauf der deutsche Titel überdeutlich verweist – obwohl die Stadt im Text buchstäblich nur am Rande vorkommt. Aber so ist das ohnehin in den Romanen Ishiguros, das Offensichtliche, das Zutageliegende, das Spektakulär-Sensationelle ist seine Sache nicht – jedenfalls nicht an der Textoberfläche. Es dominiert, insbesondere in den Dialogen, das Angedeutete, das im Hintergrund Vorausgesetzte, das Indirekte – verstärkt noch durch die japanische Form der Konversation, die die Konfrontation vermeidet – es wird viel gelacht, freundlich gelächelt, sich gegenseitig gelobt und verbeugt. Dieses fast schon rituelle Sprechen verschleiert die Konflikte jedoch nur noch bedingt, vor allem jedoch behindert es die Auflösung der Missverständnisse und Illusionen. Und deren gibt es nicht wenige: die ältere Generation empfindet die amerikanische Besatzung als Ausdruck der Niederlage, Einsicht in eigene Fehler ist nicht vorhanden. Die Jungen sind unsicher, schwanken zwischen Aufbegehren, Ausbrechen aus der gesellschaftlichen Starrheit, aber dadurch auch bedroht vom Verlust an festgefügter Ordnung. Während der Vater schon einen Skandal darin erblickt, dass eine Ehefrau anders wählt als ihr der Gatte befohlen hat, setzt der Zerfall der Strukturen sich weiter fort: Scheidungen, Selbstmorde, alleinstehende Frauen. Im Wechsel von Gegenwart im englischen Exil und der Vergangenheit in einem Dorf nahe Nagasaki zeigen sich die Wunden des Krieges und natürlich insbesondere des Atombombenabwurfs, der, wie so vieles, von den Menschen nicht offen thematisiert wird. Ishiguro fängt die Verheerungen durch seine subtile Erzählkunst ein, die höchste Konzentration von den Leser*innen fordert.       

Frank Norris: A Deal in Wheat and other Stories of  the New and Old West.

Ein schmales Bändchen unbekannter Erzählungen des us-amerikanischen Schriftstellers, der als der wichtigste Vertreter des Naturalismus französischer Prägung in den Vereinigten Staaten betrachtet wird. Seine Rolle als kritischer Kommentator des Aufstiegs der USA zur Wirtschafts- und Weltmacht wird Norris (1870-1902) vor allem in der Titelgeschichte gerecht, die die Auswirkungen des Börsenhandels auf die Landwirtschaft beschreibt…die Spekulation mit Lebensmitteln ist ein altes und kaum weniger akutes Problem. Die restlichen Erzählungen entstammen drei verschiedenen Milieus: dem der hispanischen Einwanderer, der Abenteurer bei der Erschließung des Westens und dem der Seeleute. Ihnen allen gemeinsam sind die – eben naturalistischen – Schilderungen des Lebens von Menschen, die unterhalb der bürgerlichen Schichten und außerhalb von deren Interesse existieren, sowie Norris‘ Sinn für das Setzen oft bitterböser Pointen, die jedoch nicht zynisch sind, sondern den Zynismus der Zeiten wiedergeben. Nicht nur dies beweist die große Erzählkunst des Autors, hinzukommt, dass er seine Leser*innen zu fesseln versteht. Da ist das in der Wüste gefundene unvollständige Tagebuch eines jungen Soldaten, dessen Patrouille von einer Gruppe Indianer verfolgt und immer wieder von neuem umkreist wird, das Schiff, das auf der Suche nach einer Insel nachts von einer unheimlichen Erscheinung in der Takelage heimgesucht wird, der untreue Felipe, der von seiner verlassenen Geliebten verflucht wird, dass die erste Person, die er küssen wird, sterben werde und der darauf seine Braut trifft, die ihm den Verlobungskuss abverlangt. Zwar ist diese spezielle Buchausgabe recht lieblos gemacht, aber trotzdem muss man dem Verlag dankbar sein, dass er diese Geschichten gesammelt und neu herausgebracht hat.      

Maj Sjöwall, Per Wahlöö: Der Mann, der sich in Luft auflöste.

Zwar ist es nur Zufall, aber wir bewegen uns weiter voran in der Geschichte der Kriminalliteratur: Nach dem Wachtmeister Studer aus der Schweiz und dem Hard-boiled-Detective des Dashiell Hammett folgt nun ein Meilenstein des Genres, der diese Literaturform für immer verändert hat – und bis heute hinein in unseren Alltag wirkt. Denn Fernsehkrimis sind mit das häufigste Sendematerial – und ohne Maj Sjöwall (geboren 1935) und Per Wahlöö (1926-1975) wären diese nicht denkbar. Während Altmeister Studer noch brav im bürgerlichen Milieu ermittelt, kauzig, aber brillant, während die harten Typen der Amerikaner sich in einer unmoralischen Verbrecherwelt mit eigenen Gesetzen bewegten, in der sie sich selbst die Hände mehr als nur schmutzig machten, trat mit Martin Beck ein Kommissarstyp auf die literarische Bühne, der geradezu von unscheinbarer Banalität geprägt war: Familienvater, Beamter, ein erfahrener, aber keineswegs durch Genialität glänzender Ermittler, den vor allem eins auszeichnet, seine Beharrlichkeit. Das wirkte sich auch auf die Art des Erzählens aus, oft passiert nichts oder es werden Akten gewälzt und Aufträge abgearbeitet, kriminalistisches Alltagsgeschäft, nicht immer mit erkennbarem Erkenntnisgewinn. In „Der Mann, der sich in Luft auflöste“ wird dieses Prinzip gelegentlich auf die Spitze getrieben, wenn Beck, seinen Urlaub unterbrechend, im Budapest des Sozialismus die Spuren eines verschwundenen schwedischen Journalisten verfolgt – äußerst unerfolgreich, wie es scheint, in die Heimat kann er kaum Aufschlussreiches melden, bedrängt von den politischen Stellen, die Angst vor Komplikationen haben und irgendwelchen Beschattern, hinter denen Beck – fälschlicherweise – die ungarischen Kollegen vermutet, mit denen er offiziell nicht kooperieren kann. Hinter dem Verschwinden des Reporters steckt allerdings kein Komplott und die Ungarn sind auch außen vor. Sjöwall und Wahlöö haben nicht nur das Subgenre des Schwedenkrimis etabliert, ihr Verdienst liegt vor allem darin, den Krimi aus dem braven Milieu des Abzählermittlers in gediegenen Kreisen mit brillanten Fähigkeiten und seinem amerikanischen Gegenstück des Bersekerdetektivs mit der schnell gezückten Kanone und zweifelhaften Methoden im blutigen Sumpf der Verbrecherbanden in den Alltag überführt zu haben, wo auch die Nachbarin, der Postbote, der kleine Drogendealer oder der verschuldete Finanzbeamte zum Täter werden können und der Durchschnittskommissar vom Revier durch mühselige Arbeit auf Kosten des Familienlebens zähe Ermittlungsarbeit leistet. Und den Beweis antritt, dass dies alles, wenn gut geschrieben, ziemlich spannend sein kann.