Franz Kafka:
Amerika. st 2654
Lange Zeit wurde
Franz Kafkas (1883-1924) Erstlingsroman Amerika – von dem nur das erste
Kapitel Der Heizer jemals gedruckt wurde, er blieb Fragment wie die
anderen Romane auch – unter dem Titel Der Verschollene publiziert, wie
ihn der Autor zwischenzeitlich in seinen Aufzeichnungen selbst genannt hatte.
Beides ist nicht verkehrt, der leicht reißerisch-publikumswirksamere
Arbeitstitel passt nicht minder gut zu dem Text, handelt es sich doch um
Kolportage reinsten Wassers: Karl Roßmann muss aufgrund eines Sex-Skandals aus
der Heimat im alten Europa per Schiff nach Amerika flüchten, dort stößt er per
Zufall auf seinen sprichwörtlichen reichen Onkel, verliert dessen Gunst aber
abrupt aufgrund dessen autoritären Verhaltens, steht auf der Straße, gerät an
falsche Freunde, die ihn bestehlen, dann, nachdem er eine Anstellung in einem mondänen Hotel
gefunden hat, zurückkehren, wodurch er nicht nur seinen Job verliert, sondern
durch Intrigen in Konflikt mit der Polizei gerät. Infolgedessen abhängig von
seinen zwielichtigen Freunden, degradieren ihn diese zu ihrem Haussklaven.
Nachdem er sich irgendwie aus deren Fängen befreien hat können, lässt er sich
unter falschem Namen von einem obskuren Großzirkus in Oklahoma anwerben. Das
Ende ist, wie erwähnt – und durch das Fragmentarische wie immer bei Kafka –
offen.
Naturgemäß wäre,
wer sich nur auf diese verkürzte und überspitzte – eben aber trotzdem auch
mögliche – Lesart verließe und nun zu Amerika als spannender
Strandlektüre griffe, eher schlecht beraten. Doch zugleich ist es das Merkmal
Kafkascher Kunstfertigkeit, Lesarten herauszufordern, Festlegungen zu vermeiden
und Interpretationen zu vervielfachen – nicht umsonst ist sein Schaffen eines
der markantesten Beispiel für das von Umberto Eco gerade an ihm festgemachte
offene Kunstwerk. Endgültiges über einen Roman von Kafka zu sagen ist nicht
möglich. Deshalb seien auch hier nur Bruchstücke genannt, Aspekte,
herausgepickt aus dem Ganzen des Textes.
Amerika – das
Land – ist Verheißung und Bedrohung zugleich; die Ambivalenz zeigt sich wie
angedeutet bereits im Romaneinstieg darin, dass Karl Roßmann keineswegs
freiwillig in das Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten einreist.
Vieles ist an diesem Beginn charakteristisch, insbesondere Karls Passivität als
Spielball äußerer Einflüsse – die, wie meist bei Kafka, urplötzlich für uns als
Leser*innen ins Licht treten. Die erotische Affäre, die ihn zum Aufbruch
zwingt, geht von dem Dienstmädchen aus, womit der Reigen an von ihm
unverschuldeter Handlungen einsetzt – an denen er durch seine geradezu
schmerzhafte Naivität und seiner Fähigkeit, seine eigene Lage und Gefühle in
andere zu projizieren, was ihn nicht selten völlig in die Irre bei der
Beurteilung seiner Mitmenschen führt, wiederum keineswegs unschuldig ist. Diese
Empathie mag man durchaus – wie Max Brod – liebenswert finden, doch ist sie auf
ihre Weise eine typisch Kafkasche Übertreibung, die die Überlebensfähigkeit
Karls in Frage stellt. Weshalb der Roman ganz sicher nicht – vermeintlich
anders als Der Prozeß und Das Schloß – etwas Verheißungsvolles
hat, wie der Klappentext behauptet. Auch wenn er nur das nominelle ist und
nicht als das eigentliche Ende des Romans vorgesehen war, nehme man nur die
Häufung negativer Formulierungen des allerletzten Abschnittes – der Fahrt nach
Oklahoma – als Beispiel: Bläulich schwarze Steinmassen gingen in spitzen Keilen bis an den Zug heran
[...] vergebens [...] dunkle, schmale, zerrissene Täler [...] in
der sie sich verloren [...] sie stürzten sich unter die Brücken
[...], so nahe, dass der Hauch der Kühle das Gesicht erschauern machte
(285).
Schon der Beginn
ist, wie erwähnt, mehrdeutig. Karl erblickte die schon längst beobachtete
Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen
Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre
Gestalt wehten die freien Lüfte.
‚So hoch!’
sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehen dachte, von der
immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüberzogen,
allmählich bis an das Bordgeländer geschoben (7). Karl ist wieder passiv,
wird gedrängt und geschoben, aber der erstarrte Blick auf die übermächtige
Freiheitsstatue ist weniger Verheißung als Drohung – statt der Fackel trägt sie
ein Schwert. Was auf den ersten Blick erlösend erscheint – der reiche Onkel,
die scheinbar hilfsbereiten Freunde Robinson und Delamarche – wird nicht selten
zur Enttäuschung. Ebenfalls gleich am Anfang taucht ein in Amerika – und
allen Folgeromanen – immer wiederkehrendes Motiv auf: das der labyrinthartigen
Irrgänge in Piranesischer Manier. Das Schiffsinnere voller fortwährend
abbiegende[r] Korridore (7), das Haus des Onkels, wo Karl nicht
einmal nach längerer Zeit die Lage von dessen Schlafzimmer kennt (vgl. 62f),
die Villa des Herrn Pollunder mit ihren Türen und Treppen (vgl. S.71), das
Stadtviertel und das Wohnhaus, wo Delamarche und Robinson hausen (vgl. S 214f),
überall unzugängliche Räume, versperrte Möglichkeiten, Abzweigungen ins Nichts,
überdimensionierte Räumlichkeiten, in denen man sich verliert. Auch dies
naturgemäß eine Metapher für Amerika. „Ja,
frei bin ich“, sagte sich Karl, und nichts schien ihm wertloser (127).
Freiheit, die, wenn man mit ihr nicht umgehen kann, auch Angst macht und
bedrohlich wirkt.
Amerika ist für
den jungen Karl Roßmann – wie wohl auch für seinen Erfinder Kafka, der das Land
nie besucht hat – fascinosum und tremendum zugleich. Das Labyrinthische der
Villen, Häuser und Städte ist schließlich auch eine Folge der Größe und
Großartigkeit, auf die Karl allerorten trifft, sei es im Reichtum seines
Onkels, der Schnelligkeit des Handels (vgl. S.49f), im Hotel, im weltgrößten
Zirkus, in der technologischen Überlegenheit, im demokratischen
Straßenwahlkampf, alles erregt und fasziniert, aber es ist auch schwer
greifbar, unfassbar, undurchschaubar für den Fremden, Gefahr durch Aufgehen und
Verschwinden in der Masse. Die ersten Tage eines Europäers in Amerika seien
ja einer Geburt vergleichbar (41), einer Chance auf Neuanfang, aber auch
Ausdruck der Hilflosigkeit und des Angewiesenseins. Ein zweites großes
Hauptmotiv in Amerika ist Karls Getriebensein, dass zu einer ständigen
Unterbrechung des Schlafes führt. „Ja, schlafen!“ sagte der Student, mit
dem er sich unterhält. „Schlafen werde ich, wenn ich mit meinem Studium
fertig bin. Vorläufig trinke ich schwarzen Kaffee.“ (257) Dieser Satz mit
klassisch Kafkascher Ironie gilt für Karl – ohne Kaffee – mehr denn je und er
könnte ihn gleich zigfach äußern. Ich bin schrecklich müde. Ich weiß gar
nicht recht, wo ich bin (218), im Land des amerikanischen Traumes herrscht
Schlaflosigkeit, die durch die wenigen ruhigen, erholsamen Stunden, in denen er
schließlich erschöpft tatsächlich Schlaf findet, nur umso stärker hervorgehoben
werden. So ist New York, bekanntlich laut Sinatra the city that never sleeps,
ein Satz der in den Ohren Karl Roßmanns äußerst zweideutig nachhallen dürfte,
amerikanischer Traum und Alptraum gleichermaßen.
Vorgänger Teil (8): Max Frisch - Stiller.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen