Romain Gary: Lady L.
Die
skurrile Alte, die sich nicht benimmt, wie man es von einer gediegenen Dame
älteren Semesters erwartet, gehört zum Standardrepertoire der Komödie und läuft
deshalb stets Gefahr, zum Klischee zu erstarren. Auch Romain Garys (1914-1980)
Lady L., Mitglied der englischen Hocharistokratie französischer Herkunft,
Mutter zahlreicher arrivierter Kinder, die als Bankdirektoren, zukünftige
Bischöfe und Politiker in höchste Posten aufgestiegen sind, gilt ihren
Nachkommen inzwischen als wunderlich, doch kommt es noch schlimmer. An ihrem
80.Geburtstag beichtet sie ihrem ewigen Verehrer, einem ebenso angesehenen wie
unbegabten Schriftsteller, ihre Lebensgeheimnisse. Wobei von Demut nichts zu
spüren ist, im Gegenteil: Lady L. schwärmt in ihrer Erinnerung an ihre jugendliche
Liebschaft mit einem unglaublich anziehenden Anarchisten, der sie aus der Gosse
befreit hat – ihre ganze adelige Herkunft war einst nur Teil eines Komplotts,
um Mitglieder der feinen Gesellschaft zu meucheln. Der Plan lief nicht allzu
glatt, aber Lady L. konnte nie von ihrer heimlichen Liebe zu dem Anarchisten
lassen. Kleine britisch-französische Spitzen, skurrile Charaktere, ohne zu
übertreiben, darunter aber auch ein durchaus ernster Konflikt zwischen der
Liebe zur Menschheit und der zur einzelnen Person und der Unvereinbarkeit der
beiden, all das in flüssig erzähltem ironischem Ton, eines von Garys leichter
daherkommenden Werken, das in einmal mehr als großen Romancier bestätigt.
Henry
de Montherlant: Erbarmen mit den Frauen.
Henry
de Montherlant (1895-1972) ist ein französischer Klassiker, geadelt schon seit
langem durch die Aufnahme in die höchste Ehre für jede*n französische*n
Literat*in, die Pléiade-Ausgabe seiner Werke. An diesem Status ist auch nicht
zu zweifeln, eher schon daran, ob Montherlant heute noch allzu viele
Leser*innen findet. Einst ein durchaus, auch hierzulande, vielgedruckter Autor,
fällt es inzwischen schwer, sich für seine Themen, allen voran einem
Männlichkeitskultus, der reichlich überholt wirkt, zu erwärmen. Auch „Erbarmen mit
den Frauen“, zweiter Teil eines längeren
gleichnamigen Romanzyklus, widmet sich dieser Geschlechterfrage, durchexerziert
an den Verhältnissen des blasierten Schriftstellers Pierre Costals, der seine
Beziehungen als Experimente ansieht, mit denen seine Theorien bestätigen kann.
Es ist keineswegs so, dass Montherlant einseitig die Ansichten seines
Protagonisten unhinterfragt teilt, aber der zynische Frauenmissbraucher Costals
ist eine Figur, der auch als reiner literarischen Verkörperung eines Prinzips kaum
noch etwas abzugewinnen ist. Dementsprechend zäh liest sich der Roman, der
gleichwohl rein formal seiner Zeit einst weit voraus war, indem er Mittel
anwandte, die erst später mit der Postmoderne in Verbindung gebracht wurden,
etwa dem Eingreifen des „Verfassers“ in den Text oder der mehrfachen
Herausstellung des Romans als eines künstlich angefertigten Produkts, das zu
sich selbst in ironischem Verhältnis steht. Inhaltlich Flop, formal top.
B.
Traven: Der Banditendoktor.
B.
Traven (vermutlich 1882-1969) war lange der große Unbekannte der
deutschsprachigen Literatur, was leider dazu führte, dass sich das Interesse
von Publikum und Wissenschaft hauptsächlich darauf richtete, den Mann hinter
dem Pseudonym zu entlarven – was erst in jüngster Vergangenheit gelungen zu
sein scheint. Gleichwohl – B. Traven war durchaus ein sehr erfolgreicher
Schriftsteller mit großer Leserschaft. Und das völlig verdient. Einer der
Gründe hierfür mag darin liegen, dass Traven seine Geschichten in einem Genre
schrieb, dem eher selten literarischer Anspruch zugebilligt wird: dem
Abenteuerroman. Dies hatte jedoch zufolge, dass seine Romane und Erzählungen
ferne Schauplätze und vor allem spannende Geschichten aufweisen konnten. Dabei
war Traven kein Schreibtischvertreter mit Vorliebe für Exotismus, sondern
berichtete einerseits von Ländern, die er selbst kannte, insbesondere aus
Mittelamerika, andererseits aus dem Leben der untersten Unterschichten, von
deren Ausbeutung, Dahinvegetieren und erlösungsfreiem Alltagsleben ohne jegliche
Illusionen. Traven lässt sich nicht von Zynismus leiten, hinter seinem
bösartigen-sarkastischen Tonfall mit viel Ironie verbirgt sich ein tiefer
Humanismus, zudem versucht er auch nicht, kulturelle Unterschiede zu verdecken,
sondern sozusagen Verständnis durch Unverständnis zu wecken, nichts liegt
Traven ferner als eine Verklärung der Einheimischen. Der Erzählungsband „Der
Banditendoktor“ ist ein hervorragendes Beispiel für Travens Schreiben. Gutes
Buch insbesondere für Traven-Neulinge, für Liebhaber*innen sowieso. Merke:
Traven lesen lohnt immer.
Peter
Murphy: Ich, John.
Der
Debutroman des irischen Journalisten Peter Murphy (Geburtsdatum unbekannt), in
Deutschland immerhin bei Suhrkamp erstveröffentlicht, handelt von einem Jungen,
der in einem irischen Dorf mit seiner Mutter zusammenlebt, wenig Freunde hat,
wobei er den einzigen, den er findet, schließlich verrät und zum Schluss auch
noch seine Mutter dahinsiechen und sterben sieht. Das alles wird ganz gekonnt
heruntererzählt, mal amüsant, mal mit den Ekeleffekten, die dann doch eher der
typische Versuch sind, gute moderne Literatur mehr vorzutäuschen als zu sein, mit
Traumsequenzen, für die dasselbe gilt und wenn man dann am Ende doch aufgrund
der traurigen Ereignisse mild versöhnlich gestimmt ist, macht Murphy mit einem
ohnehin reichlich überflüssigen, wie nachgeschoben wirkenden Kurzkapitel mit
Kitschabgang doch wieder alles kaputt. Es wäre falsch zu behaupten, dass das
Buch nicht hin und wieder Charme entfaltet, es wäre aber ebenso falsch zu
behaupten, dass es einem lange im Gedächtnis bleiben wird.
Louis-Sébastien
Mercier: Das Jahr 2440.
Merciers
(1740-1814) „Das Jahr 2440“ ist die klassische französische Utopie, getragen
vom Geist der Aufklärung. Ein Bewohner des Paris‘ der 1770er erwacht eines
Tages im Jahr 2440 – und es hat sich einiges getan (nicht nur) in seiner
Heimatstadt. Utopien kranken stets etwas daran, dass sie einem starren Schema
folgen: ein Besucher wird von einem Cicerone durch die perfekte Welt geführt,
die mit den derzeitigen Zuständen positiv kontrastiert. Das liest sich meistens
sehr zäh, anders als die späteren Dystopien, einerseits, weil es offensichtlich
zu den menschlichen Grundkonstanten gehört, sich eher für das Schreckliche als
das Perfekte zu interessieren, andererseits weil das Leben in den bedrohlichen
Dystopien für gewöhnlich mit Gefahren, also zumeist auch einer richtigen
Handlung verbunden ist, während sich die Utopien kaum von einem Reiseführer
unterscheiden. Allerdings entkommt „Das Jahr 2440“ der völligen Langeweile,
auch wenn dies nicht der Intention des Autors entspricht, dadurch, dass es aus
heutiger Sicht kaum als Utopie gelesen werden dürfte, kaum ein*e Zeitgenoss*in
würde vermutlich gerne in jenem 2440 leben wollen, wo Bücherverbrennungen
stattfinden, die allen „Schund“, aber auch Klassiker aus den Bibliotheken
aussortieren, weil sie zu skeptisch oder zu viele menschliche Abgründe zeigen, wo
der Bewohner von 2440 mit Genugtuung feststellt, die Hagia Sophia sei zerstört
worden, und es wird ebensowenig für sein Zeitalter einnehmen, dass es einen, wenn
auch sehr netten, König gibt oder Frauen wieder nur ihren „natürlichen“
Aufgaben – Haushalt und Kinder – zugeordnet werden. Man mag Merciers Projekt
durchaus sympathisch finden, da es aber vom reinen Kontrast lebt, und nicht
wirklich von den momentanen Zuständen zu abstrahieren versteht, ist seine
Zukunftsvision ziemlich rasch veraltet.
Hans
Fallada: Der Alpdruck.
Hans
Fallada (1893-1947) war, wie er im Vorwort schrieb, mit seinem Manuskript von
„Der Alpdruck“ eigentlich noch nicht vollends zufrieden, als er es in Druck
gab, doch hatte er sich trotzdem entschlossen, den Roman zu veröffentlichen, da
er ihn als aktuelle Zeitschilderung verstand, denn er befürchtete, dass dieser
Abschnitt zwischen Kriegsende und Neuanfang sonst schnell der Verdrängung
anheimfiele. Man darf zudem davon ausgehen, dass Fallada die Einnahmen gut
gebrauchen konnte und sich so zur frühzeitigen Veröffentlichung bereit erklärte
– die er dann doch nicht mehr erlebte. Das Romangeschehen ist stark
autobiographisch gefärbt, der Protagonist, Dr. Doll, einst etablierter
Schriftsteller, muss in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegen fehlende
Anerkennung, die Behörden, ständige Armut heuchlerische und verleumderische
Deutsche, vor allem aber gemeinsam mit seiner jungen Frau gegen ihrer beider
Morphiumsucht ankämpfen, eine zähe tägliche Auseinandersetzung mit vielen
Niederlagen und nur gelegentlichen Lichtblicken. Man merkt dem Buch an, dass
Fallada hier nicht seine ganze schriftstellerische Finesse anwenden konnte,
lesenswert ist auch dieser sein letzter Roman allemal.
Halldór
Laxness: Atomstation.
Fast
zur gleichen Zeit wie Fallada schrieb Halldór Laxness (1902-1998) den Roman,
der ihm 1955 als erstem – und bisher einzigem – Isländer den
Literaturnobelpreis einbrachte. Auch hier sind es die Nachkriegszeit und ihre
Folgen auf das scheinbar abgelegene Land, das die Amerikaner gerne als
natürliche Luftwaffenbasis für ihre Atombombenträger nutzen möchten. Dies ist
der – tatsächliche – politische Hintergrund, den Laxness mit den Mitteln der
Groteske aus der Sicht eines Dorfmädchens schildert, dass in der Hauptstadt in
den Dienst eines Parlamentsabgeordneten tritt. Es werden grundsätzliche wie
zeitbedingte Themen abgehandelt, dazu allerlei Einblick in das Island der
1940er Jahre gewährt, natürlich mit einiger Überzeichnung. Übel genommen hat
man dies Laxness vor allem von konservativer Seite in seiner Heimat ebenso wie
in Deutschland, wo das Buch im Zuge der Nobelpreisverleihung 1955 erstmals und
reichlich gekürzt erscheinen durfte. Heute besitzt das Buch nicht mehr ganz
die, nun ja, Sprengkraft, und man greift wohl auch besser zur „Islandglocke“
als Einstieg in Laxness‘ Werk, so manche zugrundeliegende Frage aus dem Roman
könnte aber in naher Zukunft wieder an Brisanz gewinnen. Leider.
Cornell
Woolrich: Rendezvous in Schwarz.
In
einer amerikanischen Provinzstadt trifft sich jeden Abend an derselben Stelle
ein Liebespaar. Kurz vor der Hochzeit aber stößt der junge Mann eines Tages nur
noch auf die Leiche seiner Verlobten, die durch einen dummen Zufall Opfer eines
Verkehrsunfalls wurde. Anfangs will er die Zerstörung seines Glückes nicht
wahrhaben, dann geht er daran, jedes Jahr am Todestag seiner Geliebten einen
der Verursacher des Unfalls ebenso unglücklich zu machen, wie er es ist. Die
Polizei kommt ihm nur sehr langsam auf die Schliche, erst das fünfte und letzte
Opfer scheint sie wirklich schützen zu können, doch auch hier läuft bald
einiges schief. Ein Suspense-Meisterstück mehr aus der Feder des wohl
fatalistischsten aller Noir-Autoren, Cornell Woolrich (1903-1968).
Hans-Georg
Noack: Die Webers.
…sind
„Eine deutsche Familie 1932-1945“, wie der Untertitel präzisiert,
aus dem Arbeitermilieu. Hans-Georg Noack (1926-2005) setzt seine Familiengeschichte kurz vor der sogenannten „Machtergreifung“ an, da er auch auf die Gründe eingehen möchte, warum Menschen sich überhaupt von den Ideen Hitlers angezogen fühlten. Von da ab verfolgt er die Schicksale der einzelnen Familienmitglieder, aber auch von Nachbar*innen und Schulkamerad*innen der Webers. Resignation, Opportunismus, aber auch Begeisterung machen sich breit. Vater Weber, republikliebender Sozialdemokrat, möchte anfangs lieber stillhalten, bis der Spuk vorbei ist, manch Nachbar oder Mitschüler entdeckt plötzlich, dass er eigentlich schon immer für die nationale Sache war, und der Sohn Karl-Heinz wird zum Fremdkörper in der Familie, der sich vom Drill und der Gemeinschaftsideologie der HJ angezogen fühlt. Noacks Roman, der sich eher an ältere Jugendliche wendet, zeichnet ein realistisches Bild menschlichen Verhaltens unter der Diktatur, die einen sind keine glanzvollen Widerstandshelden, sondern eher Alltagsmutige, die sich ihre Mitmenschlichkeit bewahrt haben, die anderen Leichtgläubige, Dumme oder Wetterwendische, die zu spät merken, wohin ihr unterdrücktes Gewissen sie geführt hat.
aus dem Arbeitermilieu. Hans-Georg Noack (1926-2005) setzt seine Familiengeschichte kurz vor der sogenannten „Machtergreifung“ an, da er auch auf die Gründe eingehen möchte, warum Menschen sich überhaupt von den Ideen Hitlers angezogen fühlten. Von da ab verfolgt er die Schicksale der einzelnen Familienmitglieder, aber auch von Nachbar*innen und Schulkamerad*innen der Webers. Resignation, Opportunismus, aber auch Begeisterung machen sich breit. Vater Weber, republikliebender Sozialdemokrat, möchte anfangs lieber stillhalten, bis der Spuk vorbei ist, manch Nachbar oder Mitschüler entdeckt plötzlich, dass er eigentlich schon immer für die nationale Sache war, und der Sohn Karl-Heinz wird zum Fremdkörper in der Familie, der sich vom Drill und der Gemeinschaftsideologie der HJ angezogen fühlt. Noacks Roman, der sich eher an ältere Jugendliche wendet, zeichnet ein realistisches Bild menschlichen Verhaltens unter der Diktatur, die einen sind keine glanzvollen Widerstandshelden, sondern eher Alltagsmutige, die sich ihre Mitmenschlichkeit bewahrt haben, die anderen Leichtgläubige, Dumme oder Wetterwendische, die zu spät merken, wohin ihr unterdrücktes Gewissen sie geführt hat.
Hans
Joachim Schädlich: Der Sprachabschneider.
Obwohl
gar nicht als solche gedacht, wurde Hans Joachim Schädlichs (geboren 1935)
Erzählung über den Sprachabschneider Vielolog zu einer beliebten Schullektüre –
durchaus zurecht. Ursprünglich hatte Schädlich, als Schriftsteller in der DDR
kritisch beäugt, seinen Text, der anspielungsreich an einige literarische
Vorgänger anknüpft, als Auseinandersetzung mit der inneren Zensur verstanden:
Paul verkauft, um mehr Freizeit zu haben, per Vertrag erst seine Präpositionen
und bestimmten Artikel, später zudem seine Verbformen und einige Konsonanten an
den grammatischen Sammler Vielolog, der dafür seine Schularbeiten erledigt.
Doch Paul, der nur noch rudimentäre kindliche Sätze sprechen kann, hat die
Folgen nicht bedacht: die einen lachen ihn aus, die Eltern sind besorgt, die
Lehrer fühlen sich veräppelt und selbst einfachste Dinge wie Einkäufe kann er
nicht mehr selbständig vornehmen. Aus seiner Isolierung kann sich Paul nur
retten, indem er sich mühsam seine komplette Sprache zurückerobert. Schade,
dass die Geschichte so kurz ist. Oder anders: Schade, dass Geschichte so kurz
sein.
Jens
Peter Jacobsen: Frau Marie Grubbe.
Die
europäischen Schriftsteller*innen und Intellektuellen des Fin de Siècle hatten
eine Reihe von, wie man heute sagen würde, Kultbüchern, die jede und jeder
kannte und über die in Zirkeln, Gesprächen, Artikeln und Briefen
leidenschaftlich diskutiert wurde. Dazu gehörte „Niels Lyhne“ des Dänen Jens
Peter Jacobsen (1847-1885), der einen darwinistisch inspirierten Naturalismus,
starke Psychologisierung und einen tiefen Pessimismus miteinander verband.
Schon in „Frau Marie Grubbe“ sind diese Züge erkennbar, einem historischen
Roman über ein Frauenschicksal in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.
Obwohl selbstbewusst und als Tochter eines reichen Gutsbesitzers mit für
anziehend erachteten Voraussetzungen bestens – finanziell – ausgestattet, bleibt Marie,
aufgrund ihrer Schönheit von Vielen begehrt, zeitlebens von den Männern
abhängig, die sich schnell für sie entflammen, aber dann doch wieder egoistisch
ihre eigenen Ziele – und Liebschaften – verfolgen. Marie ist nicht gewillt,
dies duckmäuserisch zu ertragen. Damit aber beginnt ihr Abstieg, einst Hofdame,
landet sie über mehrere Stationen als Fährfrau eines straffälligen
Stallknechts. Wurde schon erwähnt, dass Jacobsen ein abgrundtiefer Pessimist
war…?
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