Donnerstag, 30. November 2023

Lektüremonat Oktober 2023.

 


Eduardo Mendoza: Die unerhörte Insel.

Der Unternehmer Fabrégas fühlt sich angewidert von seinen Geschäften und verlässt fluchtartig Spanien, alle Verbindungen kappend. Er landet in Venedig, doch wird er dort von seinem Anwalt aufgefunden, der ihn drängt, zurückzukehren, um eine Pleite seines Unternehmens zu verhindern. Fabrégas weigert sich, doch auch der Aufenthalt in der Lagunenstadt befriedigt ihn nicht, er ist bereits entschlossen, diese zu verlassen, als er einer Frau wiederbegegnet, die er beim ersten kurzen Zusammentreffen an der Hand eines Bekannten für eine Prostituierte hielt. Das ist sie offenkundig nicht, wie sich bald herausstellt, doch was will sie von ihm – und er von ihr? Die Beziehung bleibt lose und auf zufällige Wiedersehen beschränkt, Fabrégas ist zwar einerseits fasziniert, andererseits ekelt ihn auch Venedig immer mehr an, er ist mehrfach entschlossen, die Koffer zu packen. Doch immer wieder taucht die Frau unvermutet doch wieder auf, führt ihn durch die Stadt an verborgene Orte und schließlich sogar in den labyrinthischen Palast ihrer kuriosen Familie. Immer noch aber ist Fabrégas nicht klar, worauf sie hinauswill. Erst spät wird bewusst, dass hinter ihrem erratischen und undurchschaubaren Verhalten von Anfang an ein ausgeklügelter Plan steckte. Cleverer Venedigroman Eduardo Mendozas (geboren 1943), der diesem Genre durch zahlreiche Verweise von Thomas Mann bis Nicolas Roeg und dank des Spiels mit dem makaber-geheimnisvollen Ruf der Stadt, aber auch ihrem Untergang doch noch Neues abgewinnt. Und der zugleich sehr spannend und unterhaltsam ist.

 

Oskar Maria Graf: Reise in die Sowjetunion 1934.


Auf Einladung der Sowjets reiste Oskar Maria Graf (1897 bis 1967) mit zahlreichen weiteren dem Sozialismus zugeneigten Schriftstellern Europas in das Rote Reich, für viele noch immer eine unbekannte Größe. Graf war, wie nicht wenige seiner deutschsprachigen Kolleg:innen, zu jener Zeit bereits im Exil, in seiner Heimat war er persona non grata, in der Sowjetunion dagegen noch immer hoch angesehen. Die Reise mit dem Zug, die Treffen auf dem großen Schriftstellerkongress und die für die Gäste durchgeführten Reisen durch das Land beschreibt er mit gewohnt bissigen Kommentaren, die sich allerdings hauptsächlich auf seine deutschsprachigen Kolleg:innen beziehen. Graf selbst gefällt sich in der üblichen Rolle des klugen Schlitzohrs in Lederhosen, die er zur allgemeinen Verwunderung und Begeisterung der Russ:innen – selbst bei offiziellen Anlässen trägt. Grafs fragmentarischer Bericht, der zu Lebzeiten nie veröffentlicht wurde, krankt mitunter an zwei Punkten: Seiner zwar satirisch verbrämten Überheblichkeit gegenüber vielen Kolleg:innen – etwas, was er genau diesen nicht selten vorwirft – und seinem verschleierten Blick auf die Sowjetunion. Unkritisch ist Graf keineswegs, er sieht durchaus Defizite, aber im Großen und Ganzen blickt auch er nicht hinter die Kulissen des Stalinschen Terrorstaates, lässt sich zu leicht beeindrucken von offensichtlicher Kulissenschieberei. Ganz unverständlich ist dies naturgemäß nicht: Selbst einem Terrorstaat entflohen, musste Graf durch Alternativen die Hoffnung wahren. Endgültig emigriert ist er schließlich jedoch nicht nach Russland – sondern in die USA.  

 

Jack London: Das Mordbüro.

Natürlich klingt das verführerisch: Der große Jack London (1876 bis 1916), viel zu früh verstorben, hat in seinem Nachlass ein unvollendetes Manuskript hinterlassen, dessen Idee ebenso spannend wie bizarr erscheint: „The Assassination Bureau Ltd.“, eine Agentur, die gegen Geld Mordaufträge ausführt. Geschmacklos, zynisch – ausgerechnet der stets politisch stark engagierte London mit einer menschenverachtenden Idee? Oder doch nur eine Satire, gewissermaßen der Kapitalismus zum Äußersten getrieben? Weder noch. Londons Roman handelt keineswegs von irgendwelchen mafiösen Strukturen noch von skrupellosen Oligarchen, im Gegenteil, die Herren des Mordbüros sind hochgebildete und angesehene Akademiker mit oft abseitigen Spezialgebieten – eher Numismatiker denn Forensiker – und außerdem streng abwägende Idealisten. Wer sich an ihre Organisation wendet, muss sich einer Prüfung unterziehen, die seinen Auftrag rechtfertigt, die Beseitigung des Opfers muss aus nachvollziehbaren, bestätigten und vor allem moralisch einwandfreien Gründen erfolgen – je nachdem wird auch der Preis festgesetzt. Das Mordbüro tötet nur Menschen, effizient und ohne Spuren, die der Menschheit Schaden zugefügt haben, korrupte Polizeichefs, ausbeuterische Unternehmer, Mafiapaten. London flicht dies in eine private Geschichte ein, in der ein junger Mann feststellt, dass ausgerechnet der Vater seiner Geliebten der Oberboss des Mordbüros ist. Durch einen paradoxen Auftrag versucht er ihn und seine Verbündeten von ihrem Treiben abzubringen, in dem er ihm den Auftrag erteilt, sich selbst als Kopf einer menschenfeindlichen Organisation von seinen Gehilfen umbringen zulassen. Die Jagd beginnt. Wie gesagt, es klingt verführerisch und natürlich konnten sich die Verleger diese Chance nicht entgehen lassen, obwohl der Text nicht vollendet war. Ein Kollege Londons wurde beauftragt, den Roman zu vollenden. Das Ergebnis ist nicht gerade der Reißer, denn man nach all dem soeben Beschriebenen vielleicht erwarten könnte. Liest man im Anhang die Skizzen Londons zur Weiterführung seines Buches, wundert man sich ohnehin, wie sehr der Vollender von diesen abgewichen ist, aber ob dies zum Besseren oder Schlechteren war, bleibt offen. Bereits grundsätzlich handelte es sich um keinen Thriller, sondern einen klassischen Thesenroman, in langen, sehr gebildeten Dialogen wird über die Frage verhandelt, ob und wann es gerechtfertigt ist, ein Menschenleben aus vermeintlich guten Gründen zu beenden. Das ist natürlich eine sehr spannende und durchaus wichtige Diskussion – in einem Essay. Als Roman dagegen liest sich das sehr, sehr zäh. Die Handlung – immerhin eine typische Verfolgungsjagd – rettet den Text nicht, da sie immer wieder ausgebremst wird und oft auch redundant wirkt. Vielleicht wäre der Text besser ein Schubladengeheimnis geblieben.

 


Ilija Trojanow: Meine Olympiade – Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen.

Der Titel verrät an sich bereits alles. Schriftsteller Ilija Trojanow (geboren 1965) nimmt sich mit Mitte Vierzig nach den Spielen in London vor, in der nun folgenden Olympiade bis Rio selbst die diversen Disziplinen professionell zu erlernen und im Kurzdurchlauf zu absolvieren. Zwar fallen naturgemäß die Mannschaftsarten weg, aber es bleiben genug, um das ehrgeizige Unterfangen utopisch erscheinen zulassen. Doch Trojanow ist bestens motiviert, gut international vernetzt, um an ausgesuchten Sportstätten mit hervorragenden Spezialtrainer:innen arbeiten zu können und natürlich Schriftsteller, weshalb er all dies dokumentiert. Obwohl auch die meisten Trainer:innen verständlicherweise zumeist erst einmal reagieren wie Laien und Freunde: „Unmöglich zu schaffen“, lassen sie sich auf das Experiment ein. Der Erfolg ist je nach Disziplin – wenig überraschend – durchwachsen. Spitzenleistungen erbringt Trojanow erwartungsgemäß selten, aber er findet Sportarten, die ihn begeistern, andere, die er vermutlich für immer abhakt. Lesen wollen würden wir das vermutlich alles nicht, wäre Trojanow eben nicht Trojanow, ein guter, sympathischer Berichterstatter über sich selbst – und die Sportarten, über die man einiges erfährt, was einem vermutlich sonst nie aufgefallen wäre. Von amüsant bis lehrreich, auch dank der Ehrlichkeit des Autors, der sich in keiner Hinsicht schont, unterhält das Buch bestens. Es motiviert vielleicht nicht unbedingt zum Nachahmen des gesamten Projekts, aber womöglich zum Aufraffen, es mit der ein oder anderen faszinierenden Sportart einmal zu versuchen – oder diese zumindest intensiver im Fernsehen zu verfolgen.