Dienstag, 30. Juli 2019

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (11) - Marcel Proust: In Swanns Welt.


Marcel Proust: In Swanns Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. st 2671

Fast etwas spät taucht er in dieser Reihe auf, der Roman – besser: das Romanwerk – das James Joyces Ulysses im Urteil der Expert*innen sicher am ehesten den Rang als der bedeutendste des 20. Jahrhunderts streitig macht, falls es denn einen Wettstreit gäbe. Unzweifelhaft ist der hohe Rang, der eminente Einfluss und das einzigartig Monumentale von Marcel Prousts (1871-1922) Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, dessen ersten Band Suhrkamp unter dem Titel In Swanns Welt herausbrachte. In der beliebten Erster-Satz-Kategorie ist Prousts Recherche anders als Ulysses, Kafkas Prozess oder etwa auch Goethes Werther reichlich unspektakulär und wohl auch deshalb – schon des fehlenden Wiedererkennungswertes unter Nichtexperten wegen – selten zitiert: Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen (9). Natürlich ist auch dieser für Proustsche Verhältnisse äußerst lakonische Einstieg anspielungsreich und wirft nach genauerem Hinschauen bereits einige Fragen auf, die geradezu symptomatisch sind. Abgesehen davon, dass bereits das Schlüsselwort Zeit auftritt, handelt es sich offenkundig um eine Rückschau auf einen Moment der Veränderung – ab erwähntem Punkt wurde eine Gewohnheit durchbrochen, es entstand ein neuer Zeitraum, an dem etwas nicht mehr so war wie vorher. Es ist das titelgebende Thema in nuce.

Die Grammatik kündigt die Rückschau an, doch sogleich wird in den folgenden Sätzen deren Unzuverlässigkeit eingeräumt – oder vor ihr gewarnt. Die Erinnerungen sind wie der Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen, eine wenig greifbare Übergangsphase an beiden Enden: fließen in das Traumgeschehen des Schlafes während jener Periode letzte Eindrücke des Tages – und der Lektüre – hinein, so umgekehrt in den Prozess des Aufwachens die unvernünftigen, aber von der Vernunft akzeptierten Vorgaukeleien des Schlafes, wie nach der Seelenwanderung die Gedanken einer früheren Existenz (9). Es ist nicht der erste Satz, es ist die Madeleine-Episode, die heute allgemein mit Prousts Roman in Verbindung gebracht wird, jene Sekunde nun, als dieser mit Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt (63). Wahrscheinlich die berühmteste Sekunde der Weltliteratur. Der Ich-Erzähler analysiert selbst, diese Substanz war vielmehr nicht in mir, ich war sie selbst (64), es ist ganz offenbar, dass die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm – dem Geschmack des Kuchens und des Tees – ist, sondern in mir (64). Es ist eine in ihm hochsteigende Erinnerung, die im Moment des unterbewussten Aufgreifens schon wieder zu verblassen droht, die er dann zwar doch noch erfassen und identifizieren kann – eine Madeleine, die er einst von seiner Tante während seiner Kindertage in Combray geschenkt bekam – die jedoch als dieser Augenschein eines Glückes (64) nicht mehr wiederholbar sein wird, natürlich ohnehin nicht als realer Ablauf, aber auch nicht als jenes sinnlich auftauchende Überwältigungsgefühl.

Gleichwohl ist dieses Erlebnis Auslöser und Anlass der Erzählung, eben jener Suche nach der verlorenen Zeit. Ein, wie schon angedeutet, zwiespältiges, von allerlei und ständigen  Unsicherheiten begleitetes Unterfangen. Unsere fragwürdige Fähigkeit zum Erinnern ist ein wiederkehrender Topos des gesamten Romanprojektes: Aber da alles, was ich mir davon hätte ins Gedächtnis rufen können, mir dann nur durch bewusstes, durch intellektuelles Erinnern gekommen wäre und da die auf diese Weise vermittelte Kunde von der Vergangenheit ihr Wesen nicht erfasst, hätte ich niemals Lust gehabt, an das übrige Combray zu denken (62), es ist nicht das sogenannte semantische Gedächtnis, das nüchterne, objektive, chronikalische – Daten sind, anders als Orte, selten genannt in der Recherche –, es ist das episodische, biographische, mit Gefühlen verbundene Erinnern, auf dessen Suche sich der Ich-Erzähler begibt. Die Schwierigkeiten sind zahlreich. Momente sind flüchtig, gegenwartslos, schon in der Antizipation bereits vorbei, so dass der Augenblick, da ich sie heraufkommen und dann im Gang mit der Doppeltür das leichte Rascheln ihres Gartenkleides aus blauem Musselin mit kleinen strohgeflochtenen Quasten hörte, für mich ein schmerzlicher Augenblick war. Er kündigte schon den nächsten an, der auf ihn folgen sollte, wo sie mich verlassen haben und wieder unten sein würde (22). Die Wahrnehmung ist subjektiv, von den anderen so geformt, dass sie ins eigene Bewusstsein – und damit auch in das Gedächtnis – eingeht, unsere Persönlichkeit innerhalb der Gesellschaft ist eine geistige Schöpfung der andern (29), eine Schlüsselbeobachtung in dem von Proust beschriebenen Umgang des Bürgertums und Adels miteinander, einer bis ins Privatleben extrem auf Konventionen, Status und buchstäblichem Vor-Urteil aufgebauten Biotop, wo der Anschein mehr zählt als die reale Person, die mit einem Anfangsverdikt belegt wird, an dem starr gegen jede objektive Umstände festgehalten wird.

Und dann ist da naturgemäß das Hauptproblem des Erinnerns: die Vergänglichkeit und damit Unwiederbringlichkeit des Erinnerten. Heute waren sie alle dem Erdboden gleichgemacht, das Gras wuchs (223) über ihnen und auch in mir sind viele Dinge zerstört, von denen ich geglaubt habe, sie würden ewig währen, und andere sind entstanden, die neue Freuden und Leiden heraufbeschworen haben, von denen ich damals noch nichts wissen konnte, so wie mir heute die damaligen schwer zu begreifen sind (53). Das Anhaften der Gefühle bedingt auch, das mit diesen jene Erinnerungsstücke wechseln oder von ihnen je nach momentaner Stimmung überdeckt und umgewandelt werden, sich dadurch dem rationalen Zugang verweigern, bei einem physischen Schmerz kann das Denken, gerade weil er unabhängig davon ist, verweilen, kann feststellen, dass er nachgelassen, dass er für eine Sekunde vollkommen aufgehört habe. Jenen Schmerz aber, den er empfand, schuf das Denken jedes Mal neu, wenn er sich damit befasste (365). Diesem schmerzhaften, tiefen Erinnern durch Grübeln stehen die kurzen, unverhofften Glücksmomente des Aufblitzens gegenüber, jene Momente, die wie eine Drogensehnsucht empfunden werden, so klang dicht neben mir der Name Gilberte auf, mir geschenkt wie ein Talisman, der mir vielleicht erlauben würde, eines Tages diejenige wiederzufinden, die er aus einem eben noch ganz ungewissen Bild zu einer wirklichen Person geschaffen habe (189f.). Doch auch hier ist sich der Erzähler bewusst, wie trügerisch gerade jene verklärenden Augenblicke sein können, durch die von meiner Phantasie willkürlich erfundenen Freuden (512).

Mit sanfter Ironie flicht Proust den Wunsch seines Protagonisten ein, jemand möge die Atmosphäre der Unterhaltungen der Erwachsenen seiner Kindertage aufgezeichnet haben, sie hätte das zentrale Thema eines Epenzyklus abgeben können, hätte einer von uns über wirkliches Erzählergenie verfügt (149). Nun, einer hat. Die drei Teile von In Swanns Welt, die Exposition der Kindheit in Combray, die beginnende und langsam wieder tragisch verdämmernde Liebe von Swann zu Odette de Crécy und des Erzählers eigenes Schwärmen für Swanns Tochter Gilberte, sind bekanntlich nur der Auftakt zu jenem Großvorhaben der Recherche. Auch wir als Leserinnen und Leser wissen, welcher Widersinn darin liegt, wenn man die Bilder der Erinnerung in der Wirklichkeit sucht, wo immer der Reiz ihnen fehlen muss, der im Gedächtnis wohnt und mit den Sinnen nicht wahrgenommen werden kann. Die Wirklichkeit, die ich einst kannte, existierte nicht mehr (564). Und doch ist ihr wohl kaum jemals jemand so nahe gekommen wie Proust, hat Gefühl und Erinnerung wieder so nahe gebracht wie er, sie so nachvollziehbar gemacht – meisterlich in der Schilderung von Swanns Liebe zu Odette – und vor allem sprachlich so unnachahmlich. Die Eleganz Proustscher Sätze, auch in der Übersetzung noch spürbar, sucht ihresgleichen, ist – unvergesslich.                
Vorgänger (Teil 10): Martin Walser - Halbzeit.                            


Samstag, 20. Juli 2019

Paul Verlaine: Un grand sommeil noir.


Un grand sommeil Noir

Un grand sommeil noir
Tombe sur ma vie :
Dormez, tout espoir,...
Dormez, toute envie !


Je ne vois plus rien,
Je perds la mémoire
Du mal et du bien...
O la triste histoire !

Je suis un berceau
Qu'une main balance
Au creux d'un caveau :
Silence, silence !


Paul Verlaine (1844-1896)


In der Vertonung von Maurice Ravel (1875-1937):

 

Freitag, 12. Juli 2019

Lektüremonat Juni 2019.


Edgar Allan Poe: Arthur Gordon Pym.

Poes (1809-1849) einziger längerer Roman ist ein Reißer reinsten Wassers, der Kolportage mit dem in der Hochliteratur sonst ja eher seltenen Abenteuergenre vereint. Zur Ruhe kommen lässt Poe seine Leser*innen nur in den kurzen Momenten, wo er sich erklärenden Beschreibungen widmet. Ansonsten geht es von Beginn an Schlag auf Schlag: der junge Arthur Gordon Pym steigt als abenteuerlustiger blinder Passagier heimlich in eine Brigg, wo ihn ein Freund in einem Versteck im Lagerraum unterbringt, um ihn – so der Plan – nach einigen Tagen zu erlösen. Doch der Freund taucht nicht mehr auf, das anfangs recht bequeme Plätzchen wird zum Gefängnis, die Nahrung geht aus und der freundliche Schiffshund wird zur aggressiven Bedrohung. Kurz vor dem Verdursten taucht der Freund doch noch auf – doch besser wird es dadurch nicht: an Bord hatte eine Meuterei stattgefunden, die Aufständischen haben das Kommando übernommen. Doch die brutale Gruppe ist zunehmend gespalten über das weitere Vorgehen: Piraterie oder nicht? Ein zweiter Kampf findet statt, die Freunde um Pym gewinnen zwar, doch die wenigen Überlebenden haben bald damit zu kämpfen, dass ein Sturm ihr Schiff nach und nach in seine Einzelteile zerlegt und wiederum die Lebensmittel knapp werden – was sie zu drastischen Maßnahmen greifen lässt…und so fort. Wie gesagt, Poe lässt nichts aus, um die Leser*innen wie seine Protagonisten in Dauerstress zu halten – dafür braucht er nicht einmal die bei ihm ansonsten nicht seltenen Gruselmomente. Großartig ist schließlich auch der Schluss, der Poe einmal mehr als frühen Meister der Moderne ausweist.   

 

Pat Barker: Die Lockvögel.

Dieser frühe Roman der später insbesondere durch ihre fulminante Regeneration-Trilogie über den Ersten Weltkrieg bekannt gewordene britischen Schriftstellerin Pat Barker (geboren 1943) wurde vom Fischer-Verlag ins seine Reihe mit dem kuriosen Titel „Frauenkrimis“ aufgenommen – was immer man darunter zu verstehen hat. Mehr als die Tatsache, dass die Bücher von Frauen verfasst wurden, dürfte sie kaum verbinden, was hervorzuheben bestenfalls belegt, dass Vermarktung über Schablonendenken nicht hinauskommt. Würde jemand auf die Idee kommen, Agatha Christie oder Patricia Highsmith als Frauenkrimiautorin zu qualifizieren? Wie auch immer, in Pat Barkers Roman spielen Frauen tatsächlich die Hauptrolle, ihr Text handelt vom Alltag professioneller Gelegenheitsprostituierter, sprich Frauen zumeist der Arbeiterschicht, die selbstorganisiert – sprich ohne (offiziellen) Zuhälter sich ihr täglich Brot oder zusätzliches Taschengeld hinzuverdienen. Es ist eine schäbige Welt, die Barker schildert, in der selbst die latent vorhandene Solidarität der Frauen untereinander nicht immer verlässlich ist. Hinzukommt nun noch ein Serienmörder, der sich seine Opfer unter ihnen sucht, die recht hilflose Polizei hofft darauf, die Nutten als Lockvögel zu benutzen, um den Täter zu fassen. Eine Idee, die auch manchem möglichem Opfer kommt. Und tatsächlich scheint dieser Plan aufzugehen. Aber wurde tatsächlich der Richtige ausfindig gemacht? Barker taucht tief ein ins Milieu, teils sind ihre Schilderungen, insbesondere der Mord an einer Prostituierten aus Sicht des Täters nur schwer erträglich. Ihre auf den Dialogen aufbauende Erzähltechnik ist allerdings noch nicht so ausgefeilt wie in späteren Werken, das Buch hat auch seine Mängel, insgesamt noch nicht die Pat Barker, deren Bücher man in wenigen Stunden verschlingt. 
 

Martin Suter: Der Koch.  

Der Tamile Maravan arbeitet in einem Schweizer Edelrestaurant. Doch obwohl er ein kulinarisches Naturtalent ist, darf er dort nur als verachtete Küchenhilfskraft schuften. Nur die Kollegin Andrea hat ein gutes Wort für ihn, so dass sie aus Trotz seine Einladung zu einem Abendessen annimmt. Dieses kostet letztlich beide den Job, doch Maravan bekommt Andrea immerhin ins Bett – sehr zu ihrem eigenen Erstaunen, denn sie ist stocklesbisch. Auf Druck gibt Maravan sein Geheimnis preis: er hat ein aphrodisisches Rezept seiner Großmutter benutzt, um Andrea – erfolgreich – zu verführen. Nach verrauchtem Ärger über dieses Geständnis entwickelt sie hieraus eine Geschäftsidee, fortan bieten beide gegen gutes Geld erotische Kulinarik an. Arbeiten sie anfangs noch mit einer Sexualtherapeutin zusammen – auch um ihr Gewissen etwas zu beruhigen – lassen sie sich später aufgrund von Geldnöten auf die Zuarbeit für einen Escortservice für höhere Gehaltslagen ein. Mit Folgen, da sie dadurch in die Nähe zwielichtiger politischer Geschäfte geraten. Selbst wenn Martin Suter (geboren 1948) nur irgendwelche Rezepte (die man dank Anhang sogar nachkochen kann) mit Zutaten, von denen man noch nie gehört hat, schildert, bleibt er ein Meister des fesselnden Schreibens, auch er beherrscht die Kunst des Aufbereitens bestens. Ein bisschen Politikskandal, Hintergründe über das Leben der Tamilen in der Schweiz, eine bei dem Thema sogar eher erstaunlich kleine Prise Erotik, fertig ist der Roman. Es liest sich bekömmlich, vielleicht kein 5-Sterne-Menü des Geistes, aber literarisch sättigend. 

Marga Minco: Das bittere Kraut.

Gibt man diesen Titel in die Suche der örtlichen Universitätsbibliothek ein, taucht kein Treffer auf. Das würde einem in den Niederlanden sicher nicht passieren, dort ist Marga Mincos (geboren 1920) Erzählung ein Klassiker, der mit riesiger Auflage in zahlreichen Büchereien, als Schullektüre und als Bearbeitung für das Theater allerorten aufzufinden ist. Die Geschichte aus der Sicht eines jungen Mädchens, dessen jüdische Familie nach der Besetzung der Niederlande durch die deutschen Truppen vom Abtransport erst in das Ghetto, dann die Sammel- und schließlich die Konzentrationslager bedroht wird, ist in einem äußerst lakonischen und leicht naiven Stil verfasst, der einerseits zwar das Denken des Kindes mit seiner Mischung aus Unwissen und Nichtbegreifen widerzuspiegeln scheint, aber andererseits aber auch die mangelnde Vorstellungskraft der Erwachsenen wiedergibt, die trotz aller gegenteiligen Anzeichen nie recht erfassen können, was das so kultivierte Nachbarvolk mit ihnen vorhat und wie ernst sie es damit meinen. Später verkörpert die Lakonie dann eher eine stille Resignation, die das Geschehen zwar nicht akzeptiert, aber das Eigentliche immer noch ausblendet, um den Willen zum Überleben nicht zu verlieren. Das Mädchen überlebt schließlich als einziges Mitglied der engeren Familie. Sollte auch in jeder deutschen Bibliothek stehen und tausendfach gelesen werden.    

Doron Rabinovici: Andernorts.

Ethan Rosen, international erfolgreicher Gelehrter, antwortet auf einen Zeitungsartikel eines österreichischen Kollegen, dem er einen unzulässigen intellektuellen Angriff auf Israel vorwirft – dumm nur, dass sich er Verfasser dabei auf das Zitat eines ungenannten Experten stützt, von dem sich bald herausstellt, dass es niemand anders ist als Rosen selbst. Es kommt noch schlimmer: der Schreiber konkurriert mit Rosen zudem um eine feste Anstellung an der Uni Wien. Doch bald geht die Konkurrenzsituation noch weiter, jener Mann – Rudi Klausinger taucht plötzlich nicht nur in Israel auf, wohin sich Rosen erst einmal zurückgezogen hat, um bei seinem kranken Vater
zu sein, sondern bald im engsten Familienkreis. Er hält sich für einen illegitimen Sohn des Kranken – und dieser gesteht dies ein. Dass Verhältnis der beiden „Brüder“ schwankt zwischen nun noch größerem Kampf und versuchter Annäherung. Ein streng orthodoxer Rabbi, der ein genetisches Projekt zur Wiederkunft des Messias durchführen möchte, kommt auch noch ins Spiel – doch durch ihn kommt es zu einer ganz anders gearteten Offenbarung. Doron Rabinovici (geboren 1961) ist ein verdienter österreichischer Schriftsteller mit großem öffentlichen Engagement, der Text kann da leider nicht so recht mithalten. Die Geschichte um Identitäten wirkt letzten Endes so überkonstruiert und die Hauptfigur Ethan Rosen in ihren Handlungen oft kaum nachvollziehbar, was ihn nicht unbedingt sympathisch macht, so dass man als Leser*in nicht in ausreichendem Maß Anteil nimmt und einen sowohl das akademische Gezänk als auch die Aufdeckung der Familiengeheimnisse letztlich kalt lassen. Schade. 

Michael Marano: Dawn Song.

Boston 1990. Der homosexuelle Lawrence flüchtet vor seiner Familie und seinem Ex-Freund aus der Provinz in die Großstadt für einen Neuanfang. Doch dort lauern andere Gefahren unter anderem spielt sich ein Kampf ab zwischen verschiedenen Höllenkräften, nachdem ein junger Sukkubus beauftragt wurde, die Herrschaft über die Stadt zu erobern – dafür muss sie jedoch noch mehrere Seelen erobern, um die nötige Kraft zu haben. Derweil macht ihr ein Abgesandter eines anderen dämonischen Fürsten ihren Auftrag schwer. Marano (geboren 1964) versucht einen modernen Horrorthriller zu schreiben, in dem auch der politische Hintergrund, der Golfkrieg gegen Saddam Hussein miteinfließt. So richtig gelingen will dies nicht. Durchaus faszinierend ist das gesellschaftliche Panorama, das Marano mithilfe verschiedener Personen langsam zusammenführt. Die Zwischenpassagen aus Sicht des Sukkubus mit ihrer esoterischen Prosa wirken da zunehmend wie eine Bremse, vor allem aber fügt sich das Ganze nicht so recht zusammen, auch der Endkampf bleibt blass. Letzten Endes wirkt gerade der schauererregende Teil fast schon überflüssig – er dient mehr oder weniger nur zur Motivation bestimmter Gewalttaten. Das ist natürlich kein so günstiges Urteil für ein Buch, das gehobenen Horror etablieren möchte. Sehr kurios ist auch, dass die Dämonin stets überkorrekt „Sukkuba“ genannt wird, was reichlich wenig Sinn ergibt; sicher, die us-Endung ist männlich, aber ein Sukkubus per Definition immer weiblich, schließlich ist ihre Aufgabe die (hetero-)sexuelle Verführung von Männern (das Gegenstück für Frauen ist der Incubus). „Sukkuba“ ist also ähnlich logisch wie etwa er „Frauin“. Richtig gruselig ist dagegen das Vorwort von Dietmar Dath, dem deutlich das Bemühen des Intellektuellen anzumerken ist, sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, weil er einem vermeintlich niederrangigen Vergnügen frönt. Um trotzdem akademisch satisfaktionsfähig zu sein, wird dann sehr viel pseudotiefgründiges Geschwurbel mit reichlich Pathos in die Welt gesetzt. Der Roman sollte der Auftakt zu einer New-Gothic-Reihe bei Suhrkamp werden, von der man (leider) auch nie mehr gehört hat. Vielleicht war Marano nicht unbedingt der beste Einstieg.   

Ida Jessen: Das Erste, woran ich denke.

 
Nach einer gescheiterten Beziehung sucht Birgitte die ländliche Ruhe Dänemarks und nimmt die Einladung einer alten Freundin, die sie länger aus den Augen verloren hatte, an, ein paar Tage bei ihr im Pfarrhaus zu verbringen. Man hat viel zu reden und so bleibt Birgitte auf Drängen der Pastorin und ihrer Familie noch länger. Doch dann geschieht ein Unglück: der kleine Sohn der Pfarrerin wird mit dem Fahrrad angefahren, der Verursacher flüchtet. Wieder wird Birgitte gebeten zu bleiben, es vergehen Tage des Hoffens, doch das Kind stirbt. Und erneut kann Birgitte nicht abreisen, obwohl sie selbst nicht weiß, ob sie hier eher Hilfe oder zusätzliche Last ist, geschweige denn, wie sie mit der Trauer der befreundeten Familie umgehen soll. Diese steht selbst vor allerlei Prüfungen, der Frage nach eigener Schuld, aber auch, wie sie zu der Suche nach dem noch immer flüchtigen Täter steht. Es kommt zu Zerreißproben in den verschiedenen Verhältnissen, Misstrauen und Unverständnis, aber auch der Sehnsucht, einen Weg zu finden, mit der Situation klarzukommen – bei allen Beteiligten. Ein sehr einfühlsamer, klar erzählter Roman der dänischen Autorin Ida Jessen (geboren 1964), der nicht nach dem Sensationellen hascht, sondern die widersprüchlichen Gefühle seiner Protagonisten auf unaufdringliche Weise in den Mittelpunkt stellt. Großartiges Buch.  

Simone de Beauvoir: Das Blut der anderen.

Jean und Hélène sind ziemlich unterschiedliche Charaktere: der reflektierte, selbstkritische Abkömmling aus gutem Hause ist selbstbewusst und unsicher zugleich, auf der Suche nach einer sinnvollen Tätigkeit, weshalb er sich vom bequemen, vorversorgten Leben im Elternhaus losmacht und Eigenständigkeit wagt. Hélène, dagegen ist sich ihrer Sache sicher – was sie möchte, ist Jean, obwohl sie noch mit Paul, dessen Freund, zusammen ist. Beide verfolgen konsequent ihren Weg, Hélène nach vielen Widerständen zu Jean, dieser, indem er sich politisch engagiert, ohne dabei auf seine Menschlichkeit zu verzichten. Er erkennt die Opfer an, die Hélène für ihn bringt, und gibt ihr nach, ohne sie wirklich zu lieben. Vielmehr beschäftigt ihn die Frage, wie man ein Leben führen kann, dass nicht auf dem Rücken der anderen ausgetragen wird –
deshalb lehnt er auch den Krieg ab. Doch der in Europa um sich greifende Faschismus, dem letzten Endes auch sein Land zum Opfer fällt, lässt ihn umdenken. Vielleicht liegt der Sinn doch darin, dass „Blut der anderen“, eigentlich Unschuldigen, aber auch das eigene fließen lassen zu müssen, um überhaupt das Überleben von vielen  garantieren zu können. Es wird sich zeigen, dass die scheinbar so egoistische Hélène diese Lektion längst gelernt hat. Als Jean dies begreift und er sich eingestehen muss, dass er sie liebt, liegt sie im Sterben. Paradigmatischer Roman Simone de Beauvoirs (1908-1986), der die großen Themen dessen behandelt, was man dann als Existentialismus verstand. Was ist sinnvolles und menschliches Handeln unter unsinnigen und unmenschlichen Umständen, aber nicht nur unter diesen, sondern auch im Alltag. Wie kann überhaupt gehandelt werden, ohne das Leid entsteht und wann muss ich Leid in Kauf nehmen, um noch größeres Leid zu verhindern. Das Ganze nicht als dröger Thesenroman mit abstrakten Problemen, sondern als dialogreiche tiefsinnige Erzählung vor konkretem Zeithintergrund.
 

José Saramago: Alle Namen.

Sr. José ist ein unbedeutender Amtsschreiber im streng hierarchischen Zentralen Personenstandsregister, einer monumentalen Behörde, die einerseits riesige unübersichtliche Aktenbestände verwaltet, in der andererseits jedoch alles klaren Regeln und Strukturen unterliegt. Sr. José, bislang unauffällig, frönt einer geheimen Leidenschaft: er sammelt Daten über Berühmtheiten, die er sich nachts aus der Behörde beschafft. Dieser harmlose Regelverstoß wird problematisch, als er eines Tages versehentlich das Datenblatt einer Frau mitentführt. Dieser Zufall lässt ihn nicht mehr los: er will mehr über das Schicksal dieser ihm völlig unbekannten Person erfahren, die ihm der Zufall zugespielt hat. Dafür verlässt er immer mehr seine geordneten Bahnen: er stellt mit gefälschten Dokumenten eigene Nachforschungen an, bricht schließlich sogar in das Archiv einer Schule ein. Ständig muss er die Entdeckung fürchten, auch weil er bei der Arbeit durch Nachlässigkeit und Krankheit auf- und ausfällt. Doch sein sonst so unnahbarer und autoritärer Chef benimmt sich nicht minder seltsam, zum Neid der Kollegen scheint er ganz untypisch eine Art persönlicher Fürsorge für Sr. José zu entwickeln. Dessen Suche schreitet nur mühsam voran – bis er ein trauriges Geheimnis entdeckt. Ist seine Suche damit gescheitert? Noch dazu ist ihm sein Chef auf die Schliche gekommen. Das Ende ist unerwartet. Ein bisschen Kafka, ein bisschen Borges, viel José Saramago (1922-2010) – der Roman des portugiesischen Nobelpreisträgers besticht durch Spannung, eine schöne Sprache, Menschlichkeit und großes Einfühlungsvermögen in seine Hauptfigur.   

 Hans-Ulrich Treichel: Der irdische Amor. 

Albert hat große Pläne. Doch ein Studienaufenthalt in Rom endet im Disaster – oder anders gesagt: in einem Polizeiwagen. Wieder zurück in Berlin läuft es auch mit dem Kunstgeschichtsstudium nicht in gewünschten Bahnen. Trost findet er in einer zwar ungemütlichen, auch sonst etwas seltsamen italienischen Bar um die Ecke. Deren Hauptattraktion: die wunderschöne, aber leider unnahbare Barkeeperin Elena. Nachdem er sich endlich dazu durchgerungen hat, sie vorsichtig nach einem Date zu fragen, sagt sie zu seinem Erstaunen zu. Das Rendez-Vous nimmt einen ähnlich unerwarteten, aber dann doch nicht so ganz glücklichen Verlauf. Trotzdem kommen Albert und Elena irgendwann zusammen. Und wieder entstehen große Pläne, gemeinsam ziehen sie nach Sardinien. Eine italienische Idylle sieht jedoch anders aus, der alte deutsche Traum vom Musenstudium unter südlichem Himmel nimmt für Albert – mal wieder – die übliche Wendung. Hans-Ulrich Treichel (geboren 1952) schafft es mit der ihm eigenen sanften Ironie nicht nur abseitiges Spezialwissen aus der Kunsthistorie ganz unklugscheißerisch interessant zu vermitteln, sondern ein Scheitern ohne oberflächliche Tristesse zu erzählen und damit dem ewigen Thema Italien der deutschen Literatur gekonnt ein weiteres Kapitel hinzuzufügen.