Montag, 28. Oktober 2019

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (13) - José Lezama Lima: Paradiso.


José Lezama Lima: Paradiso. st 2708

Julio Cortázar hat den 1966 erschienenen Roman, der ähnlich seines eigenen Rayuela, zu den großen, aber einem weiten Publikum eher unbekannt geblieben Gründungstexten der lateinamerikanischen Literaturerfolge gehört, auf das Höchste geschätzt. Er war nicht der einzige: Paradiso des Kubaners José Lezama Lima (1910-1976) entfaltete unter den Romanciers Mittel- und Südamerikas einen enormen Einfluss, so gut wie jeder der in den folgenden Jahren mit dem Literaturnobelpreis geehrten von dort stammenden Autoren berief sich auf das Buch, von Octavio Paz bis Mario Vargas Llosa.
Der Roman selbst ist ein Paradies – allerdings keines das frei von Sünden oder gar dem Tod wäre, einem der Hauptmotive des Buches –, wenn man darunter einen Garten der Fülle versteht. Er ist ein Paradies an Wissen, an gedanklichem Reichtum, ein intellektuelles Sammelsurium, dessen Spektrum Bereiche erfasst und vereint, die von der lateinamerikanischen Geschichte und Politik, von der Theologie und dem esoterisch-archaischen Aberglauben, von der Philosophie Nietzsches, Aristoteles, Thomas von Aquins ebenso handeln wie von Kochkünsten, Homosexualität, den Militärs in Mittelamerika und den Exilkubanern in den Vereinigten Staaten. Alle Themen gehen durch ihre Verbindung in endlosen Verzweigungen, Zersplitterungen und Wiederbegegnungen auf, in denen die Heilsgeschichte, die Hausgeschichte und die auf ein fließendes Schicksal projizierten Bildkoordinaten zusammentrafen (90). Eine Beschreibung, die sich eigentlich auf die komplexen Familienverhältnisse der Hauptfigur José Cemí bezieht, doch nicht minder auf den Roman anwenden lässt – in dem immer wieder solche zweideutigen selbstreferentiellen Bemerkungen anzutreffen sind.
Denn – unter anderem – ist Paradiso ein Familienroman, wenn auch ganz sicher kein traditioneller, so wenig, wie das Paradies, die geschilderte Kindheit, Schul- und Studentenzeit José Cemís einen sorglosen und gottbehüteten Garten Eden darstellt. Sollte man in die Falle der Erinnerung geraten, der Verklärung, wird man allzu schnell ernüchtert: das sind Augenblicke falscher Fülle, bald sehen wir, dass sie auf Stilisierungen beruhen und in einem Schirmständer Halt suchen (110), das brutale Terpentin der Zeit hat die Erinnerung vermindert, verkleinert und zuletzt in dieser einzigen Geste zusammengefasst, als wäre sie ein Käfig mit offener Tür, um einen Vogel zu fangen (110). Und wie das Leben im Käfig seine Vor- und Nachteile für den Insassen hat, so auch das Gedächtnis, es macht unfrei und birgt Gefahren, beschränkt die Wahrnehmung und ist doch bequem, ein nach außen hin geschützter Zufluchtsort, der Trost durch – täuschende – Verlässlichkeit spendet: Nach dem Tod ihres Sohnes Andresito bestand ihr Beitrag zur Unterhaltung im stetigen Heraufrufen seiner Person. Sie umgab sich mit einem Schwarm von Erinnerungen, die erschöpfte Gegenwart glitt unvermittelt in die Vergangenheit über. Sobald sie José Eugenio sah, zog sie ihn in ihr Rückwärtsdenken hinein, in diese Unbestimmtheit rings um die Hauptströmung, die aus der Vergangenheit aufstieg. Sich an alles so zu erinnern, dass die einzig vollständige Erinnerung abgedrängt wurde, dass sie, die alles begleitete, nicht eindrang (155).
Der Tod, es wurde schon erwähnt, ist ein wiederkehrendes Motiv des Romans, was einen bei einer, noch dazu so personreichen Familiengeschichte, kaum verwundern mag, und doch kommt er – für Leser*innen und Betroffene – oft unvermittelt. Gerade die anfangs bestimmende Hauptperson, der Vater José Cemís, ein Oberst von fröhlicher Strenge, er schien seine Frau und seine drei Kinder auf den Pfaden seines entschlossenen Blutes vor sich her zu treiben, auf denen alles durch Fröhlichkeit und Klarheit und geheime Kraft erreichbar zu sein schien (22). Zu sein schien. Denn das Leben dieser erzkreolischen Titanengestalt, dieses Erhalters (269), endet kläglich an einer Krankheit im Alter von nur 33 Jahren, die Fülle der empfangenen Gaben, der Freude am genau geübten Handwerk, seine Art, das Schicksal der Familie wie ein junger Christophorus zu tragen, waren in der Einsamkeit des Lazaretts erloschen, im ungeselligen Tod, in einem verstümmelten, unauslotbaren Geschick (217). Ferne von allem: Familie, Freunde, einem für einen Militär als ehrenhaft betrachten Sterben. Vertreibung aus dem Leben. Es ist nicht der einzige Tod dieser Art im Roman.
Cemí, der Havannenser aus der Stadtmitte, der genügend Zeit hat, um jedes einzelne Ding, und mag es noch so unbedeutend sein, nach allen Seiten zu durchleuchten (406), gibt damit ein Verfahren für den Text vor, das sich insbesondere in den hochgelehrten, alles andere als ironiefreien Unterhaltungen mit seinen beiden widersprüchlichen Freunden Fronesis und Foción widerspiegelt, dem detailreichen und tiefdringenden Betrachten eines Gegenstandes in jedem Sinne des Wortes, das zugleich dem Austarieren des schwierigen Dreiecksverhältnisses der drei jungen Männer zu- und untereinander dient. Die Gespräche sind auch symptomatisch für ein an Joyce geschultes Changieren zwischen verschiedenen Stilen und Literatursprachen, wie es sich in zahlreichen Kapiteln des Textes findet, der in manchen Passagen wie ein klassischer realistischer Familienroman daherkommt, dann wieder wie ein philosophischer Essay oder ein sokratischer Dialog. Ein herausragendes Beispiel ist das VIII. Kapitel, welches zwischen ebenso poetischen wie obszönen, grotesken wie ironischen Beschreibungen von (homo)sexuellen Praktiken abwechselt. Was an Limas Roman wohl – auch noch in der Übersetzung – am meisten beeindruckt, ist sein Umgang mit Sprache. Das Spielfeld der Worte (392) wird von ihm auf das Virtuoseste genutzt, Paradiso ist ohne Zweifel auch ein Paradies der Sprache. Dadurch wird es zum Genuss, doch ist es mit Paradiesen so eine Sache. Auch wenn man sich nach ihnen sehnt, sind sie schwer zugänglich. Dass Limas Romanwelt leicht und unbeschwert zu betreten sei, wäre eine Illusion, doch wer sich in dieses nur scheinbar verschlossene Paradies vorwagt, wird reichlich belohnt werden.      

Vorgänger (Teil 12): Ingeborg Bachmann - Malina.

Mittwoch, 16. Oktober 2019

Das Zitat zum Trump...und zum Johnson...und zum Orbán...und zum...


"Es gibt Leute, die die Fähigkeit besitzen, sich in andere überhaupt nicht einfühlen zu können, die von Tatsachen völlig unberührt bleiben und ihre Gedanken ganz und gar ungeniert, ohne jede Rücksicht auf die Umgebung und den Zeitpunkt, aussprechen. Solche Männer sind zu Führern geboren."

Irgendein zeitgenössischer Trump-Kritiker?

 Nein, Bertolt Brecht im Dreigroschenroman, anno 1936.






Donnerstag, 10. Oktober 2019

Lektüremonat September 2019



 Jeremias Gotthelf: Die schwarze Spinne.

1842, im Zeitalter des Biedermeier, schreibt ein protestantischer Schweizer Landpfarrer eine Erzählung, die in einem Berner Dörfchen spielt… Klingt langweilig? So entstand nicht nur ein Klassiker der deutschsprachigen Literatur, sondern einer der frühesten und noch immer unter die Haut gehenden Horrortexte der Weltliteratur. Sicher, das klingt etwas reißerisch und verdeckt die zahlreichen Qualitäten der „Schwarzen Spinne“, aber falsch ist es nicht, wie jeder bald erfährt, der das Buch zur Hand nimmt. Es fängt harmlos an, eine Taufe im Dorf, es wird reichlich gegessen und getrunken, man hat es gemütlich. Bis man den Großvater nach einer Kuriosität fragt, einem alten Holzstück im ansonsten neuerrichteten Haus. Dahinter verbirgt sich ein böses Geheimnis. Im Mittelalter hatten die Dorfbewohner einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, um eine an sich unerfüllbare Frondienstaufgabe rechtzeitig erledigen zu können. Das geschieht auch, doch dann wollen die Bauern nichts mehr von der nun fälligen Forderung des Teufels wissen: ein ungetauftes Kind. Die Frau, die den Pakt mit ihm im Namen aller geschlossen hat und glaubte, den Teufel überlisten zu können, entwickelt daraufhin ein Muttermal auf der Wange, das sich zu einer schwarzen Spinne entwickelt. Dass die Dorfbewohner sie fortan meiden, nutzt ihnen nichts, das Mal bricht auf und entlässt Tausende von Spinnen, die ins Tal einfallen und alles Vieh töten. Doch nicht genug, in einem zweiten Schub verwandelt sich die Frau selbst in eine große schwarze Spinne und beginnt nach und nach die Bevölkerung zu töten. Ein Entkommen scheint unmöglich… Jeremias Gotthelf (1797-1854) schuf ein bis heute vielfältig interpretiertes Werk, dass zwar nicht frei von zeitlichen Einflüssen ist – der Einfluss des Bösen wird stets vermittelt durch fremde Frauen –, aber noch immer unglaublich fasziniert. In Gehirne hineinwachsende Spinnenbeine erwartet man nicht unbedingt in einem Werk des Biedermeier, Gotthelf nutzt gerade den Kontrast mit dem Rahmen der bäuerlichen Kindstaufe geschickt, um den Schrecken zu steigern, biedermeierlich beruhigend einlullend ist an diesem kleinen Meisterwerk wahrlich nichts.      

Joseph Conrad: Die Schattenlinie.

Aus einem unbestimmten Gefühl heraus verlässt ein noch junger Erster Offizier seinen bisherigen Posten, mustert ab und will in die englische Heimat zurückreisen, als er unverhofft aufgrund seines guten Rufes und des Mangels an Kapitänen ein eigenes Kommando über ein Schiff in Südostasien erhält. Naturgemäß ergreift er diese Chance, reist zu seinem neuen Schiff, das sich als gut erhaltener Segler herausstellt. Doch birgt es eigene Geheimnisse: wie der misstrauische Erste Offizier, der wohl selbst gern das Kommando übernommen hätte, berichtet, starb der Vorgänger des neuen Kapitäns auf See; damit nicht genug: der offenkundig lebensmüde Offizier wollte vorher noch sich, sein Schiff und die gesamte Mannschaft zugrunde richten, nur sein Tod verhinderte dies. Doch der Erste Offizier ist überzeugt, dass der tote Kapitän gleichwohl alles daran setzen wird, sein wer noch zu vollenden. Tatsächlich erweist sich die Fahrt als Höllentrip. Während auf dem Ozean Totenstille herrscht, das Schiff sich in einer extremen Flaute tagelang nicht fortbewegt, befällt die Mannschaft nach und nach eine Fieberkrankheit, die sie zunehmend reduziert. Der schwer erkrankte Erste Offizier scheint zudem in eine Art Wahnsinn verfallen und warnt ständig vor dem Fluch des früheren Kapitäns – nicht zu Unrecht: dieser hat in der Bordapotheke das lebensrettende Chinin ausgetauscht. Allein auf hoher See, mit von Tag zu Tag weniger handlungsfähiger Mannschaft, einem verrückten Ersten Offizier treibt das Schiff auf die Stelle zu, an der der Vorgängerkapitän seebestattet wurde. Ein Sturm zieht auf… Im Vorwort wehrte sich Conrad (1857-1924) gegen eine allzu mystifizierende Auslegung seines Buches, die aber natürlich nicht unbedingt abgestritten werden kann – Conrad selbst empfand seinen autobiographisch inspirierten Abenteuerroman eher als Schilderung einer menschlichen Bewährungsprobe. Auch nicht falsch.     

Robert Specht: Tisha.  

Zwei – auch etwas ärgerliche – Kuriositäten vorneweg. Genaugenommen ist der Autor ein Etikettenschwindel, Robert Specht hat zwar die Erlebnisse der Lehrerin Anne Hobbs Purdy aufgezeichnet und in erzählerische Form gebracht, ihr sollte aber zumindest das Recht zustehen, als Mitautorin genannt zu werden – und dies an erster Stelle. Zweite Seltsamkeit: die deutsche Ausgabe wird als Jugendbuch verkauft; das mag zwar einerseits die Verwendung als eventuelle Schullektüre fördern – wogegen nichts spricht – andererseits verbaut man sich hierdurch einen größeren Leserkreis, den das Buch zweifellos verdient hat, den erwachsenes Publikum verirrt sich selten in die Jugendbuchabteilung auf der Suche nach eigener Lektüre. Und das ist schade. Der autobiographische Bericht Anne Hobbs, die mit 19 eine Stelle an einer Mini-Dorfschule im Alaska des Jahres 1927 antritt, ist ein äußerst lesenswerter Einblick in eine völlig unbekannte Gesellschaft. Alaska ist zwar seit gut sechzig Jahren Teil der Staaten, aber nicht nur geographisch weit, weit entfernt von den Roaring Twenties. Die Menschen leben dort in winzigen Siedlungen oder einzelnen Hütten, oft tagelang voneinander, im Winter bei Temperaturen von nicht selten unter -50°C. Die Bewohner setzen sich zusammen aus den ersten Pionieren, gealterten einzelgängerischen Goldwäschern und Fallenstellern, die ein karges Leben außerhalb der Siedlungen führen, der nächsten Generation, Familien, die ihr Glück suchen in den bereits wieder halbzerfallenen Ansiedlungen des Goldbooms und die Indianer (nicht Eskimos), die durch den Einfluss der Weißen ihr angestammtes Leben umgestellt haben und dadurch ins Elend geraten sind. Hobbs, ein Landkind aus dem Herzen der USA, ist dies eine fremde Welt, in der sie sich durchsetzen muss. Die Menschen sind froh, eine Lehrerin zu haben für ihre Kinder, aus den Zwängen des Alltags heraus besteht auch eine selbstverständliche Hilfsbereitschaft, aber auch der Druck, sich den Regeln dieser eingeschworenen Gemeinschaft zu unterwerfen. Hobbs eckt bald an, als sie die strikte Trennung von Weißen und Indianern nicht akzeptieren will. Dass diese als anständig angesehen werden, ändert nichts daran, dass ein tief verankerter Rassismus gleichzeitig deren Existenz nicht ertragen kann, als Hobbs indianische Kinder unterrichten will und zuviel Umgang mit einem Halbblut pflegt, bekommt sie den tiefen Hass mancher Einwohner zu spüren, der auch vor rabiaten Methoden nicht zurückschreckt. Das besondere an Hobbs Buch ist, dass es keinem Schwarz-Weiß-Denken unterliegt, es wird keine Verklärung der Indianer betrieben, deren teils abstoßendes Elend auch als Folge von Unwilligkeit und Trägheit geschildert wird, noch eine Verurteilung des extrem ambivalenten Verhaltens vieler Einwohner. Und auch sich selbst gegenüber ist Hobbs durchaus kritisch, als außenstehende muss sie erkennen, dass sie oft das Denken ihrer Mitmenschen nicht nachvollziehen kann – sie aber auch sehr viel Verständnis für deren raue Eigenschaften aufbringt. Insgesamt ein nicht nur spannendes, sondern sehr einsichtsvolles Buch, das den Leser*innen viel Raum zum eigenen Urteil lässt. Das ist gut für die Jugend, aber auch für alle anderen.

konrad bayer: das gesamtwerk.


es hat zumeist traurige gründe, wenn ein „gesamtwerk“ nur einen noch dazu mit gut 400 seiten nicht sonderlich umfangreichen einzelband umfasst. das gilt naturgemäß auch für konrad bayer (1932-1964) – siehe die Lebensdaten –, mitglied der in den fünfziger jahren etablierten, heute legendären „wiener gruppe“ um h.c.artmann, friedrich achleitner, oswald wiener, gerhard rühm und eben konrad bayer, die im anschluss an den expressionismus, dadaismus und surrealismus experimentelle literatur schuf, die sich vor allem auf die sprache in allen varianten konzentrierte. nicht unbedingt leicht lesbare hausmannskost, wie auch bayer zeigt, der hauptsächlich kurze texte für die bühne, prosaskizzen, ein paar gedichte und einen unvollendeten roman hinterließ, die gerhard rühm im vorliegenden band gesammelt hat. mal amüsant, mal makaber, mal spracharmut entlarvend, ist heute kaum mehr nachvollziehbar, welche skandalkraft solche texte in den fünfziger jahren noch hatten – nicht weil sie gealtert wären – obwohl diese literaturform heute kaum mehr gepflegt, geschweige denn gelesen wird –, sondern weil sie kaum mehr erregungspotential besitzt. heute ist sie längt literaturgeschichte, mit allen konsequenzen. und immer noch der beweis, dass konsequente kleinschreibung das lesevergnügen nicht stört.  

Hanna Johansen: Die stehende Uhr. 

Eine Frau in einem Zug, der wohin auch immer fährt, vielleicht vorwärts, vielleicht rückwärts, vielleicht aber auch gar nicht. Mitfahrer und Mitfahrerinnen tauchen auf, verschwinden wieder, lassen Gepäckstücke mit seltsamen Inhalten zurück. Mehr geschieht nicht in Hanna Johansens (geboren 1939) kurzem Roman und selbst das klingt in der Zusammenfassung noch spannender als das Buch tatsächlich ist. Ein typisches Produkt der endenden Siebziger Jahre, schon den schrecklichen politisch enttäuschten Selbstbespiegelungssubjektivismus der Achtziger vorwegnehmend; bestes Kennzeichen: fast jeder zweite Satz ist eine Frage. Eine auf gut 170 Seiten ausgewalkte Metapher von der allgegenwärtigen Unsicherheit. Nur der Titel ist perfekt: Man hat beim Lesen das Gefühl, kein bisschen voranzukommen. Zäh und langweilig, zu gewollt metaphysisch.  

Sylvie Germain: Das Buch der Nächte. 

Dass man – bzw. Frau – in den 1980er Jahren, zumindest im Nachbarland, ganz anders schreiben konnte, bewies Sylvie Germain (geboren 1954) mit ihrem fulminanten Debüt von 1984, das bezeichnenderweise erst 1991 auf deutsch erschien. Wäre Germain Lateinamerikanerin, würde man sie sicher dem magischen Realismus zuordnen, so könnte man eher, um an die französische Tradition anzuknüpfen, von einem symbolischen Realismus sprechen, verwoben mit der des Familienromans, den geschildert wird das Leben der Familie Péniel aus dem Norden, einst Kanalschiffer, dann nach dem Ende dieses Metiers zwangsläufig auf dem Land sesshaft geworden. Im kargen, rauen Außenseiterleben besteht der harte Realismus des Buches, zeitlich abgesteckt durch die drei – von den Deutschen ins Land getragenen – Kriege von 1870 bis 1945. Doch die Péniels sind nicht nur gekennzeichnet durch ihre Herkunft vom Wasser und einer stetigen Unruhe, die das einstige Leben ständiger Bewegung in ihnen zurückgelassen hat, sie alle besitzen sprechende Beinamen und außergewöhnliche Merkmale, blonde Schatten, Goldflecken in den Augen, blutende Muttermale, Buckel und ähnliches, manches vererbt, manches individuell. Ihr Leben ist oft geprägt von Extremen, etwa dem Fluch, ihren Ehefrauen den Tod zu bringen, nur Zwillinge zu gebären, auf ewig zu verstummen oder einfach ins Nichts zu verschwinden. Über allem schwebt aber eine Abfolge von Unglücken, Nächte, wie der Titel sie nennt. Germains Buch ist zugleich von großer poetischer Kraft und sprachlicher Schönheit, die jedoch das äußerst düstere Geschehen, das sie erzählt, nur bedingt abmildert. Große, innige Liebe wird in diesem Buch nicht selten auf schreckliche, brutale Weise zerstört. Ein unglaublich eindringliches Meisterwerk.          

Joanna Bator: Sandberg.

Sandberg, Piaskowa Góra, ist eine neue Plattenbausiedlung der Stadt Walbrzych in
Westpolen, errichtet vor allem für die verdienten Bergmänner, denen in dem riesigen Hochhaus moderne Wohnungen zugeteilt werden. So auch Stefan und Jadzia Chmura und deren Tochter Dominika, dem Mittelpunkt dieser Familiensaga aus dem Nachkriegspolen, die sich über ihre Personen weit verzweigt zwischen den Ereignissen des Krieges und dem Untergang des Kommunismus. Dazu kommen die Geschichten der Mitbewohner und Nachbarn, der kurz- und langfristigen Ehe- und Liebespartner, die alle mit den Chmuras verbunden sind. Es ist eine Gesellschaft der größtmöglichen Tristesse, ohne dass Bator (geboren 1968), eine der führenden Autorinnen Polens, in einen voyeuristischen Blick auf soziales Elend verfällt; ihre Personen entstammen auch nicht den untersten Schichten, sondern eher einem kleinbürgerlichen Milieu, Menschen mit Träumen – Ansehen, Aufstieg, Urlaub – die sich nie erfüllen. Der Grund ist oft das Scheitern an sich selbst, nicht weniger aber auch Neid und Missgunst, Opportunismus und Korruptheit. Bator geht mit dem Schicksal ihrer Figuren wenig gnädig um, erspart auch den Leser*innen nichts, und doch ist das Buch bei aller Vergeblichkeit keine der Depression verfallende Lektüre, sondern ein mitfühlendes, spannendes, sogar amüsantes Werk. Das liegt naturgemäß an der Erzählkunst der Autorin, an den lebendigen Personen, die sie nicht vorführt, sondern menschlich zeigt, wobei die Frauen zwar die größeren Träume haben, die ihnen nicht selten von (ihren) Männern zerstört werden, sie sind aber auch überlebensfähiger, die meisten der Männer in dem Buch sterben früh und recht unschön. Für das deutsche Publikum gibt es zudem interessante Aspekte, über die selten nachgedacht wird. Die Neubewohner Schlesiens, zu dem auch Walbrzych gehört, sind selbst Vertriebene aus dem annektierten Ostpolen, sie sind fremd in fremden Wohnungen, die noch voll sind von deutschen Rückständen. Ungute Erinnerungen an die Fritze. Zunehmend werden aber die Deutschen, natürlich nur die der „Be-eR-De“, zum sehnsüchtigen Versprechen, als Arbeitgeber, als Schwiegersöhne. Ein Buch, durch das man auf bestmögliche Weise viel erfahren kann über unser Nachbarland, über Unterschiede und viel Gemeinsames.      

Anonymus: Die lüsterne Gouvernante.

Wir erinnern uns an den letzten Monat, als wir in Zusammenhang mit Andrea de Nérciat auf Eco verwiesen, der den Unterschied zwischen Erotik und Pornographie in Literatur mit dem Vorhandensein einer erkennbaren Handlung charakterisierte. Nun, das Buch dieses Anonymus, erschienen in der Reihe Heyne Exquisit, einem typischen Kind der 1970er Jahre, hat zwar einen bekloppten Titel, aber eben auch eine Handlung: Die junge Journalistin Ann bekommt von ihrem Chefredakteur und Teilzeitgeliebten einen Auftrag, der ihr den Aufstieg in der Redaktion garantieren soll. Die Motive sind unedel: Ihr Chef möchte sich an einem Richter rächen, der ihn wegen seiner Eskapaden mit Minderjährigen, zu einer Geldstrafe verurteilt hat. Ann soll nun Schmutziges im Leben des Juristen ausfindig machen. Doch da gibt es nichts, der ältere Herr ist ein freundlicher, unbescholtener Mitbürger, wie Ann, die sich als Gouvernante bei ihm einschleicht, bald herausfindet. Auch der verwitwete Sohn scheint zwar ein charmanter Schwerenöter zu sein, aber dies allein ist schließlich nicht strafbar. Anns Chef wird ungeduldiger, ihr Vorhaben droht zu scheitern. Soweit die Handlung, die also porno-untypisch ist, wie übrigens auch der Verzicht auf allzu viel Anatomie. Ann wird zwar als selbständige Frau der Zwischenkriegszeit apostrophiert, die einfach Lust am Sex hat, so ganz plausibel erscheint das nicht, da sie sich, um ihre Aufgaben zu erfüllen, dann doch stets deren Willen beugt. Ziemlich schmalspurig ist auch ihre psychologische Motivation, die jedesmal doch ziemlich abrupt wechselt. Und dass sie am Schluss mit der Köchin durchbrennt, ist auch nur bedingt emanzipatorisch, abgesehen davon, dass sie ohnehin nicht bereit ist, die Männer völlig aufzugeben. Dass der oder die Autorin aus den 1920er Jahren meinte, lieber anonym bleiben zu wollen, ist heute kaum noch nachzuvollziehen. Das Buch ist zwar sicher noch immer keine Kindergartenlektüre, aber doch vergleichsweise brav. Im Verbund mit einer immerhin halbwegs spannenden Geschichte ist das vielleicht sogar der Grund, warum man es auch heute noch lesen kann.      

Yasushi Inoue: Das Jagdgewehr.

Ein früherer Schulkamerad, nun Redakteur einer Jägerverbandszeitschrift, bittet den mit ihm befreundeten Ich-Erzähler, um ein Gedicht zum Thema Jagd. Dieser schickt ein in modernem Stil gehaltene, reimlose melancholische Betrachtung, die tatsächlich abgedruckt wird. Anfangs erwartet der Dichter noch mindestens verstörte Reaktionen der Leser, doch nichts geschieht, bis nach über zwei Monaten doch ein Brief eintrifft. Der keineswegs empörte, sondern tief betroffene Leser, der sich selbst als der Mann zu erkennen gibt, der durch reinen Zufall das Gedicht inspiriert hat, sieht in dem Dichter eine Möglichkeit, Verständnis zu gewinnen für eine ihn nicht mehr verlassene Schuld. Er schickt ihm drei Briefe, die er erhalten hat: von seiner Nichte, von deren verstorbener Mutter – seiner Geliebten – und von seiner Ehefrau, der Betrogenen. Die Geschichte eines Vergehens - Ist es eines? Und an wem und vom wem wurde es begangen? – aus der Sicht von drei betroffenen Frauen. Die Erzählung Yasushi Inoues (1907-1991) ist ein Klassiker der modernen japanischen Literatur, der auch im Westen auf große Resonanz traf.