Dienstag, 18. April 2023

Lektüremonat März 2023.

 


Michel Bussi: Ne lâche pas ma main.

Martial ist mit seiner Tochter und Gattin zum Strandurlaub auf La Reunion. Als seine Frau sich kurz ins Hotel zurückzieht und nach einer Stunde nicht wiedergekehrt ist, sucht er in Begleitung eines Angestellten ihr gemeinsames Zimmer auf: Ein Koffer und Kleidung fehlen, es herrscht Unordnung, auf dem Boden sind Spuren roter Tropfen. Hat sich Liane einfach davongemacht oder geschah hier ein Verbrechen? Die Untersuchungen der Polizei bestätigen, dass es sich um Blut handelt, zudem fehlt ein scharfes Grillmesser. Martial aber agiert recht seltsam, erwartungsgemäß ist er nervös, andererseits wirkt sein Verhalten kalt und einstudiert, schnell stellt sich zudem heraus, dass seine Geschichte Unstimmigkeiten aufweist. Eine Putzfrau des Hotels hat ihn während der vermeintlichen Stunde der Abwesenheit im Gebäude gesehen, mehrere Zeugen haben ihn beobachtet, wie er kurz danach den Bettwäschewagen auf den Hof geschoben hat, doch nachdem er dies eingestanden hat, gelingt ihm die Flucht mitsamt seiner kleinen Tochter. Während die Großfahndung eingeleitet wird, taucht eine Leiche am Strand auf. Doch es ist nicht Liane, sondern ein örtlicher Müßiggänger – in seinem Rücken ein scharfes Grillmesser. Auf diesem lassen sich neben dem Blut des Opfers Restbestände von demjenigen Lianes feststellen. Und Fingerabdrücke. Die Fingerabdrücke Martials. Der dürfte letztlich keine Chance haben, schließlich ist La Reunion eine Insel. Und er hat Sifa bei sich, die Tochter. Wäre es nicht besser, sie loszuwerden? Es ist schon viel passiert, aber diese Schilderung endet noch recht früh im Roman, ansonsten nähme man zuviel vorweg. Michel Bussi (geboren 1965), seines Zeichens Politologieprofessor, beherrscht sein Handwerk perfekt, einerseits indem er einen rasanten Krimi schreibt, mit vielen Perspektivwechseln, Wendungen und teils etwas bösartigen Cliffhangern an den Kapitelenden, andererseits, in dem er sein Personal und seinen Schauplatz dazu nutzt, um über die Gesellschaft auf der Insel zu berichten, diesen französischen Außenposten, auf dem verschiedenste Völkerschaften zusammenleben. Somit ein Krimi mit erfreulichem Mehrwert und thrillerartiger Spannung.  

 

Martine Passelaigue: En Méditerranée/Mittelmeergeschichten.

Wir bleiben – zur Hälfte – französischsprachig und am Wasser mit dieser Anthologie zum Mittelmeer, die Lyrik und Kurzgeschichten aus der Feder von Autor:innen des gesamten mediterranen Raumes versammelt. Ihnen gemeinsam ist die Nutzung der französischen Sprache, das versteht sich für die Klassiker – Flaubert, Maupassant, Mallarmé – aus dem Mutterland, für die das Meer ein erträumter oder echter Zufluchtsort ist, ambivalenter wird es dagegen in den Texten der Schriftsteller:innen aus den ehemaligen Kolonien oder dem Bildungsbürgertum in Nordafrika und der Levante, für die das Französische Zweitsprache ist oder Ausdruck einer gewissen Arriviertheit und Distanz. Hier mischen sich Projektionen auf das Mittelmeer als Heimat oder als Sehsuchtsort nach einer Vertreibung. Je zeitgenössischer, desto kritischer werden die Texte, von Strand- und Fischerromantik bleibt wenig, Unterdrückung rückt ins Blickfeld, auch nachbarlicher Hass, Armut und Rückständigkeit. Das Büchlein entstammt einer dtv-reihe, die zweisprachig kurze Texte versammelte, die unter anderem für den Unterrichtsgebrauch gedacht waren. Zwar gelingt ein Streifzug am Mittelmeer entlang, eine gute Mischung etablierter und – hierzulande – kaum bekannter Autor:innen, die verschiedene Aspekte der Wahrnehmung des verbindenden und zugleich trennenden Meeres wiedergeben, insgesamt aber lässt sich aufgrund der Kürze des gesamten Buches der Eindruck einer etwas zu schnellen Tour-de-force nicht vermeiden, bei der vieles ungesagt bleiben muss. Als Anregung zum Weiterlesen aber in Ordnung.    

 

Siegfried Lenz: Einstein überquert die Elbe bei Hamburg.

Erzählungen aus der Feder des deutschen Großschriftstellers Siegfried Lenz (1926 bis 2014), die in den Jahren um 1970 entstanden, also zu einer Hochzeit seiner Popularität. Dadurch allein sind sie schon ein Zeitdokument, viele wirken heute bereits sehr bundesrepublikanisch, gefühlt viel weiter zurückliegend als die tatsächlich vergangene Zeit. Angestaubt sind sie – größtenteils – deshalb nicht, im Gegenteil, sie geben Einblick in ein uns teils heute fremdes, teils immer noch prägendes Verhalten und Denken. Dazu trägt auch die sehr nüchterne Sprache Lenz‘ bei, sein parataktischer, aber nicht abgehakter Stil, der die Subtilitäten zumeist gut versteckt – und damit perfekt den Umgang der Menschen miteinander charakterisiert. Unter dem höflichen Umgangston und dem gesitteten Verhalten stecken Bösartigkeiten, Geheimnisse, gegenseitige Kränkungen, die manchmal offen, zumeist aber versteckt zutage treten. Verschiedene Blickwinkel widersprechen einander, besonders gelungen in der Handballgeschichte „Die Mannschaft“ und noch tiefgründiger in „Achtzehn Diapositive“, wo die träge, aber damals beliebte Vorführung von Dias zu einer beabsichtigten oder ungewollten Abrechnung mit einem Freund wird. Dass dies alles noch immer sehr lesenswert ist, muss nicht noch extra betont werden.

 

Petra Hammesfahr: Die Freundin.

Keine Großschriftstellerin à la Lenz, aber in ihrem Genre ohne Zweifel eine Größe, versammelt auch Petra Hammesfahr (geboren 1951) in diesem Band Erzählungen und Kurzgeschichten. Bis auf sehr wenige Ausnahmen aus dem von ihr gewohnten kriminellen Milieu. Dabei haben diese alle einen Zug gemein: Die Verbrechen entstehen aus erotischen Gründen, weniger fein ausgedrückt: aus schlecht unterdrückter Triebgesteuertheit. Meist sind es, weniger überraschend, die Männer, die ihre Hormone nicht unter Kontrolle haben, sich unwiderstehlich glauben oder von Eifersucht zerfressen sind, ihrer eigenen Einbildung verfallen oder einfach glauben, das Recht zu haben, sich zu nehmen, was mit Rock auf der Straße herumläuft. Nur die wenigsten Frauen in Hammesfahrs Geschichten sind allerdings wehrlose Opfer, nicht selten wissen sie ihre Reize – und die oft damit einhergehende Verblendung der Männer – einzusetzen, den Spieß umzudrehen oder ihre ganz eigenen Spielchen zu spielen. Pointensicher und spannend wie gewohnt wird man auch in Kurzform bestens unterhalten.       

 

Masako Togawa: Trübe Wasser in Tokio.


Da der Großteil der deutschen Leser:innen ohnehin wohl des Japanischen nicht mächtig ist, hat sich der Verleger offensichtlich gedacht, dass ein sinnfreier Titel dem Buch eigentlich nicht schaden kann. Zumindest hat er mit dem Inhalt des Buches absolut nichts zu tun, außer dem tatsächlichen Schauplatz Tokio. Und in gewisser Weise behält der Verlag sogar recht, es schadet dem Roman nicht. Dr. Uemura ist ein junger Arzt in der Psychiatrie, der einem heiklen Auftrag nachgeht. Er besucht eine Frau, von der einer seiner Patienten, ein Student, behauptet, er habe sie umgebracht. Doch die Dame lebt noch, was Uemura keineswegs überrascht, vermutet er doch hinter der Geschichte ein verklausuliertes Bekenntnis des jungen Mannes, sie in ihrer Wohnung überrascht und vergewaltigt zu haben. Doch wie soll er dem vermuteten Opfer behutsam dieses Geheimnis entlocken? Sie gibt zwar zu, den Studenten zu kennen, da er gelegentlich als Paketbote gearbeitet hatte, doch weiteres streitet sie ab. Auch hier ahnt Uemura mehr, doch führen ihn seine Nachforschungen nur immer wieder zu Leuten, die ihm gegenüber nie wirklich aufrichtig zu sein scheinen. Umgekehrt fühlt er selbst sich oft irritiert, die verschiedenen Frauen, denen er bei seinen Recherchen begegnet, üben eine Faszination auf ihn aus, die seine Objektivität zu beeinträchtigen droht. Dann flieht auch noch der Student aus der psychiatrischen Anstalt. Sehr clever gestrickter Krimi, der zum Schluss ein völlig anderes Bild präsentiert, als über weite Teile des Romans nahegelegt wurde. Die Biographie der Autorin, Masako Togawa (1931 bis 2016), in ihrer Heimat eine legendäre Berühmtheit, bietet selbst genügend Romanstoff, neben ihrer Schriftstellertätigkeit unterhielt sie unter anderem auch einen Nachtclub – sie war früher selbst in solchen aktiv und trat weiterhin gelegentlich auf.   

 


Clemens J. Setz: Indigo.

Ein junger Mathematiker bekommt eine Aushilfsstelle als Lehrer an der Helianau, sein Name: Clemens Setz. In dieser speziellen Anstalt unter Leitung von Prof. Dr. Rudolph ist alles auf die Bedürfnisse von Indigo-Kindern ausgerichtet, die unter einem Syndrom leiden, das umgekehrt jede und jeden in ihrer Umgebung leiden lässt – und zwar körperlich. In ihrer Nähe kommt es zu Kopfschmerzen, Schwindelgefühlen und Übelkeit bei ihren Mitmenschen, sie müssen zu diesen je nach Stärke ihrer Wirkung Abstand halten. Setz‘ Aufenthalt in der Helianau endet im Eklat, doch das Thema lässt ihn nicht los. Er recherchiert weiterhin, sowohl durch Besuche bei den Eltern von Betroffenen, aber auch in der Literatur. Zwar ist das Phänomen erst seit wenigen Jahrzehnten bekannt, doch Setz findet Texte, die auf die Beschreibung ähnlicher Symptome bis in die Antike hindeuten. Allerdings haben seine Nachforschungen alles andere als positive Auswirkungen, auf ihn, aber auch die durch ihn Befragten. Auf der anderen Seite begleiten wir einen der früheren Insassen der Helianau und Kurzzeitschüler von Setz, Robert, inzwischen ‚geheilt‘ – das Phänomen lässt meist im Erwachsenenalter nach – und Maler mit dem Lieblingsmotiv durch Tierversuche geschundener Lebewesen. Er laboriert noch immer stark an den Einschränkungen seiner Kindheit, verhält sich autistisch, teilweise scheint es fast, als fehle ihm die einstige Distanzierungsmöglichkeit. Als er durch einen Zeitungsartikel von einem Mathematiker erfährt, der in einem Prozess vom Vorwurf, einen Tierquäler gehäutet zu haben, freigesprochen wird, niemand anderes als Setz, macht er sich auf die Suche nach der Vergangenheit. Doch die Besuche bei seinem früheren Lehrer und Prof. Rudolph sind wenig ergiebig, beide sind kaum mehr Herr ihrer Sinne. Großartiges Verwirrspiel von Setz (geboren 1982) – dem echten Autor –, in dem auf vielen Ebenen mit Glaubwürdigkeit, Information und Manipulation changiert wird. Das fängt bei vielen winzigen Fehlern im Text an – offenkundige wie die oftmals falsche, aber unwidersprochene Schreibung von Setz‘ Namen, über seine angeblichen, aber stetig wechselnden Lieblingsbücher – bis hin zur kompletten Infragestellung der gesamten Geschichte: Sowohl die Existenz des Phänomens Indigo-Kinder – selbst wiederum mit einem völlig irreführenden Namen versehen – wird von einigen Wissenschaftlern bestritten, bis hin zum mangelnden Vertrauen in die diversen Protagonisten. So gilt Setz in jungen Jahren als Alkoholiker, Prof. Rudolph als Fanatiker, Robert ist ebensowenig objektiv. Und erscheinen Setz‘ sich verdichtende Erkenntnisse, dass die Indigo-Kinder für obskure Geheimdienstzwecke verwendet werden, nicht als klassische Verschwörungstheorie? Warum erfahren wir nie Genaueres über sein angebliches Verbrechen, die Häutung? Setz – der Autor – setzt ständig Hinweise, die oberflächlich eine logische Folge ergeben, aber nie ein schlüssiges Gesamtbild. Einer genaueren Analyse hält vieles nicht stand, Lücken klaffen, letztlich wird nichts aufgeklärt. Faszinierend, spannend, auch sprachlich ein Genuss mit hin und wieder sehr schönen literarischen Bildern trotz des sehr nüchternen Stils – kurzum: äußerst gelungener Roman, unbedingt zu empfehlen!   

 

Catherine Breillat: Romance.

Das Drehbuch zu Catherine Breillats (geboren 1948) ebenso aufsehenerregendem wie umstrittenen Film, dem vom deutschen Verleih wenig subtil noch drei XXX zugesellt wurden. Einerseits gehört er bereits jetzt zu den Klassikern des frühen 21. Jhs., andererseits wird er einmal mehr kontrovers diskutiert, was jedoch naturgemäß für so gut wie jeden Film von Catherine Breillat gilt – und womit er zugleich seinen Zweck erfüllt hat. Marie ist frustriert von der Tatsache, dass ihr Freund, Paul, keine Lust mehr hat, mit ihr zu schlafen – ohne dass er hierfür eine plausible Begründung liefern kann. Er scheint zu träge, uninteressiert, gibt sich plötzlich asketisch, findet Sex überbewertet. Marie kann ihm darin nicht folgen, ihr ist Sex wichtig, sie fühlt sich vernachlässigt, vermutet zudem tiefere Gründe bei Paul, der sie umgekehrt durch aktives Flirten zugleich eifersüchtig macht. Um sich zu bestätigen, aber auch ihre Rechte als Frau und ihres Körpers durchzusetzen, lässt sich Marie auf sexuelle Abenteuer mit Fremden und mit ihrem Chef ein, versucht aber gleichzeitig, weiterhin Paul zu zwingen, mit ihr ins Bett zu gehen. Die Experimente haben Folgen. Wie immer sehr explizit, mit pornographischen Methoden, ohne plumper Pornographie zu verfallen, führt Breillat den Emanzipationsversuch Maries vor – ob dieser gelingt, bleibt dem Urteil der Zuschauer:innen überlassen. Dem Drehbuch vorangestellt ist eine Rede Breillats über die Anliegen ihres Schaffens bei einem Kolloquium über „Die Präsenz der Frau im zeitgenössischen Kino“, die sie auf Einladung Anfang 1998 gehalten hat – in Teheran.   

 

Michael Görden (Hg.): Die besten Schauergeschichten der deutschsprachigen Literatur.

Und die nächste Anthologie von unheimlichen Geschichten, gesammelt Anfang der 1980er Jahre, beschränkt auf Autor:innen der deutschsprachigen Länder – es gab Parallelbände, auf die wir noch zurückkommen werden. Chronologisch vorgehend wird, so passend wie wenig überraschend, mit der Romantik begonnen. Tieck, E.T.A. Hoffmann, de la Motte-Fouqué, dazu Schiller mit einem Ausschnitt aus seinem Romanfragment „Der Geisterseher“, der eigentlich an den Anfang gehören müsste, da er als Ursprung des gesamten Genres – auch außerhalb des Sprachraums, die gothic novel beruft sich auf ihn – gilt. Das nur scheinbar nüchtern-realistische 19. Jahrhundert ist ebenfalls gut vertreten – Hauff, Heine, Storm, Gerstäcker –, bevor ein sozusagen dekadenter Abschnitt beginnt, der vielleicht am spannendsten ist, da er ein paar Geschichten ausgräbt, die sonst kaum in den üblichen Gespensterbänden auftauchen. Eine böse Erzählung von Oskar Panizza mit anti-religiösem Hintergrund, eine expressionistische Seuchengeschichte aus der Feder von Georg Heym, Neoromantisches bei Karl Heinz Strobl und Hanns Heinz Ewers und Rätselhaftes wie immer bei Leo Perutz. Mit dem Übergang in die Moderne und Gegenwart verändert sich das Unheimliche stärker hin zum Einbruch in das Alltägliche, fast Gewöhnliche, das bizarre Formen annimmt. Exemplarisch Gabriele Wohmanns kurzer Text über einen jungen Lehrer, der sich immer mehr zur amphibischen Gestalt wandelt. Die Kolleg:innen ahnen unbewusst Schlimmes, doch wissen sie sich und ihm nicht zu helfen – sie hoffen, dass Beförderungen auf sein Schicksal Einfluss nehmen können. Gelungene Auswahl, besonders lobenswert durch die inhaltliche Abwechslung und den Abdruck einiger so gut wie vergessener Autor:innen.  

 

Rafael Chirbes: Krematorium.


Mit dem Tod von Matias, dessen Bruder ein erfolgreicher Bauunternehmer ist, setzt ein Reigen von Erinnerungen und Reflexionen der verschiedenen Familienmitglieder, Ex-Familienmitglieder und Freunde ein, der wesentlich mehr enthüllt als nur Familieninterna, sondern zugleich die Probleme, Widersprüche und Ängste der spanischen Vergangenheit und vor allem Gegenwart (der Jahre kurz nach der Jahrtausendwende). Denn während Rubén, der einst enthusiastische Architekt und nunmehrige pragmatische Bauherr für den fragwürdigen Erfolg des Landes steht, der zwar vordergründig Reichtum bringt, aber die Natur, die Tradition und die Individualität zerstört, bekommt er selbst in der eigenen Verwandtschaft Gegenwind gegen neue Projekte, die aus der Heimatstadt an der Küste nur eine weitere Touristenbettenhochburg machen. Intrigen und Hoffnungen in der Familie, in der nicht wenige Ex-Frauen wichtige Rolle spielen – nicht zuletzt, weil sie sich am Sterbebett Matias' versammeln –, gehen einher mit Überlegungen zum Tod und seinen Auswirkungen. Rafael Chirbes (geboren 1949) ist nah am Geschehen, 2007 erschien sein Roman, kurz bevor durch die Finanzkrise die spanische Immobilienbranche kollabierte. Die von ihm gewählte Form, jeweilige lange innere Monologe der Hinterbliebenen, macht das Lesen allerdings ziemlich zäh, auch wenn man sich einmal durch die leicht unübersichtlichen Familienverhältnisse mit ihrem großen Personenspektrum gekämpft hat. 

 

Rainer Erler: Plutonium.

Und wieder einmal ein Erler, diesmal das Drehbuch zu einem Dokudrama, also dem raffinierten Verwirrspiel, das eine echte Reportage zu einem fiktiven Vorfall vortäuscht, seit den 1970ern im deutschen Fernsehen ein beliebtes und zeitweilig sehr erfolgreiches Subgenre („Smog“, „Das Millionenspiel“). Präsentiert werden die gefundenen Aufzeichnungen der italienischen inzwischen ermordeten Journalistin Anna Ferroli, die in Südamerika recherchiert hat. In einer ungenannten rechten Diktatur wurde ein deutscher Atomwissenschaftler entführt, der am Aufbau eines AKW in Folge einer Kooperation der beiden Staaten tätig ist. Doch das Ganze ist reichlich rätselhaft, weder ist die verantwortliche linke Guerillagruppe bekannt – auch nicht ihren vermeintlichen Mitstreitern aus der Opposition –, noch nimmt ihr Opfer in seiner Firma eine bedeutende Position ein. Ferroli gelingt es, gegen den Widerstand der staatlichen Stellen, Kontakt zu den Entführern aufzunehmen und schließlich nach mehreren Wochen tatsächlich die Freilassung des Deutschen zu erreichen. Während die internationale Nachrichtenlage sich schnell wieder anderen Dingen zuwendet, fällt Ferroli eine Meldung auf, die sie stutzig macht. In dem AKW, inzwischen in Betrieb, scheint eine enorme Menge an Plutonium abhandengekommen zu sein. Und Klaus Hartung, der einst entführte Wissenschaftler. Ist er verantwortlich? Und warum? Illegal wieder einreisend, Schmutzkampagnen ausgesetzt, entdeckt die Italienerin Hartung ausgerechnet bei seinen früheren Peinigern, offenbar macht er mit ihnen gemeinsame Sache. Bei einem Sturm auf das Versteck der Gruppe kommt er um. Doch nichts ist, wie es auf den ersten Blick schien – Ferroli muss Verschwiegenheit schwören, aber bei einem Fernsehinterview hält sie sich nicht an die Vorgaben. Ein gefährliches Spiel. Rainer Erler (geboren 1933) in gewohnter Form, spannend, kritisch und einmal mehr nah dran an den aktuellen Problemen seiner Zeit.     

 

Joyce Carol Oates: Das Spukhaus.

„Tales of the Grotesque“ nennt Joyce Carol Oates (geboren 1938) ihre Erzählungen, mit denen sie sich, wie die Anspielung und ihr anschließendes Nachwort deutlich machen, naturgemäß an Altmeister E.A. Poe orientiert, aber auch zahlreiche andere frühere bis zeitgenössische Künstler:innen einfließen lässt – Künstler:innen deshalb, weil sie sich nicht nur auf Schriftsteller:innen, sondern beispielsweise auch auf David Cronenberg beruft. Nun mag mancher Ausflug einer „seriösen“ Autorin oder Autors in das Genre bemüht wirken, Oates aber erreicht Erstaunliches, ihr gelingt tatsächlich eine ganze Reihe an sehr gelungenen Geschichten, die im US-amerikanischen Alltag der Gegenwart spielen, zugleich aber von teils bösartiger, teils abgrundtiefer, hin und wieder ein bisschen scheußlicher Unheimlichkeit vor allem aber oft sehr clever sind. Selbst offensichtliche Monströsitäten, etwa kleine, aber innerlich erwachsene Kinder, die zum Töten auffordern, gelingt es Oates, im besten Sinne banal, also unaufgeregt zu schildern, als wäre dies tatsächlich gleich nebenan möglich. Überhaupt spielen Kinder oft eine zweifelhaft zwiespältige Rolle in den Geschichten, ob als Opfer oder Täter. Zwischendurch flicht Oates eine Geschichte über eine illegale Abtreibung ein, erst im Nachhinein fällt einem dann auf, dass an sich hier nichts Unheimliches im phantastischen Sinn geschehen ist, aber durch die Umgebung mit grotesken Erzählungen wird erst recht deutlich, wie sehr diese Situation – zur heimlichen Abtreibung unter hygienisch fragwürdigen Bedingungen gezwungen zu sein – eben eine Groteske ist, die lange Zeit durchaus stillschweigend akzeptiert wurde. Wie aktuell Oates damit in ihrem eigenen Heimatland wieder sein würde, dürfte ihr Mitte der 1990er kaum bewusst gewesen sein. Alles in allem ein sehr großes Lesevergnügen, teils sehr harter Tobak, aber qualitativ hochstehend. 

                                 

                                                                                                   

                                                 

 

Mittwoch, 12. April 2023

Das neue Buch: Lost & Dark Places Allgäu Oberschwaben.

 

Das Allgäu und Oberschwaben gehören zu den beliebtesten Ferienregionen der Republik, es locken die Alpen, der Bodensee, Bauernhöfe, Klöster und Kirchen, Kühe und Käse. Doch was, wenn ganze Feriendörfer verlassen daliegen, einsame Bauernhöfe verfallen in der Landschaft stehen, Bäder geschlossen, Klöster abgebrochen, Burgen der Verwahrlosung überlassen, Alphütten aufgeben werden? Und dann ist das Alpenvorland auch noch berüchtigt für seine grausamen Hexenverfolgungen, schrecklichen Pestepidemien und seltsame Scharlatane mit zweifelhaften Methoden. So vermischen sich gerade im Allgäu und in Oberschwaben landschaftliche Schönheit mit schaurigen Lost Places, Kunst und Kultur mit Grusel und Gespenster, Ferienidylle mit Verlassenem und Vergessenem.  

Von Friedrichshafen bis Türkheim, von Biberach bis Marktoberdorf, von Isny bis Mindelheim.


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