Donnerstag, 29. September 2022

Das neue Buch: Lost & Dark Places Freiburg.

 

Freiburg genießt den Ruf einer sonnenverwöhnten Lage inmitten von Schwarzwaldbergen, einer lebendigen und entspannten alternativen Szene und des schönsten Turmes der Christenheit. Doch ist die Breisgaustadt auch der einzige Sitz in Deutschland eines Instituts zur wissenschaftlichen Erforschung von Spukphänomenen, überall sind die Spuren einer kriegerischen Vergangenheit zu finden, die Hügeln in und um Freiburg sind durchzogen von geheimnisvollen Gängen und Stollen aller Art, mitten in der Stadt tauchen verwunschene oder als solche gar nicht mehr erkennbare Friedhöfe auf, zugleich wurde ausgerechnet hier einer der berühmtesten Horrorfilme Europas gedreht. Hinter und zwischen den hübschen Fassaden der alten und neuen Gebäude verbergen sich manche verschwundenen Orte, gruselige Geschichten oder erste und ernste Anzeichen von Verfall. Dort lauert das düstere, gar nicht so sonnige Freiburg…        

  

 
Erhältlich in jeder guten Buchhandlung oder direkt beim Verlag:


 

Donnerstag, 15. September 2022

Lektüremonat August 2022.


  

Margriet de Moor: Von Vögeln und Menschen.

Es ist eine typische Mischung für einen Roman der großen niederländischen Schriftstellerin Margriet de Moor (geboren 1941): Ein aufsehenerregendes Ereignis, eine starke Frauenfigur, eine auf die Personen bezogene einfühlsame Erzählweise. Marie Lina beginnt in der Innenstadt urplötzlich eine Schlägerei mit einer älteren Dame. Dem Ganzen ging offensichtlich keine Auseinandersetzung voraus, die alte Frau kommt dabei ums Leben, Marie Lina begibt sich unbeeindruckt nach Hause. Am nächsten Morgen wird sie, wie erwartet, von der Polizei geholt. Die Tat ist eindeutig, es folgt eine Haftstrafe. Obwohl der Gewaltausbruch scheinbar aus dem Nichts kam, ist mancher nicht sonderlich überrascht. Schon Marie Linas Mutter hatte im Gefängnis gesessen, sie galt als Mörderin eines alten Mannes, den sie betreut hatte. Soweit der erwähnte spektakuläre Plot, diesmal mit gleich zwei starken Frauenfiguren, darum webt de Moor eine Familiengeschichte, die langsam die Hintergründe dieser beiden recht schwer erklärlichen Verbrechen aufhellt, aber auch die teils zerstörerischen Folgen für alle Beteiligten und ihre Umgebung. Denn so offensichtlich wie geschildert sind die Geschehnisse keineswegs, nur eine der beiden Frauen ist eine echte Mörderin – und hatte sie womöglich gute Gründe dafür. Die im Titel erwähnten Vögel gehen auf den Beruf von Marie Linas Mann zurück, er ist Vogelverscheucher am Flughafen, eine Tätigkeit, über die man hier im Roman – anders als wohl sonst – einiges erfährt. Trotzdem bleibt das Buch hinter de Moors üblichem Schaffen zurück. Es fehlen ihm die Ambivalenzen, obwohl die Frauen, insbesondere Marie Lina, teils fragwürdig handeln, wird unsere Sympathie zu sehr auf sie gelenkt, als dass wir uns unwohl fühlen würden bei der Identifikation, wie es ja mindestens bei einer Mörderin sein sollte. Auch fehlt die de Moor’sche melancholische Grundstimmung wie in ihren besten Werken. Es ist alles ein bisschen zu glatt, eben gerade trotz der Brüche zu bruchlos erzählt. Das ist, aufgrund der hohen Ansprüche, die man beim Lesen eines Textes von Margriet de Moor längst hat, sehr schade.  

 


Rainer Erler: Fleisch.

Auch seinen wohl erfolgreichsten Film verarbeitete Rainer Erler (geboren 1933) zu einem Roman unter gleichem Titel: „Fleisch“. Monica, deutsche Austauschstudentin in den USA, findet dort die Liebe ihres Lebens, Mike, heiratet und macht sich mit ihm auf zu einer traditionellen amerikanischen Hochzeitsreise zu zweit einmal quer durchs Land. Als sie im Süden angekommen und damit schon nahe am Schlusspunkt ihres Roadtrips sind, suchen sie sich ein kleines abgelegenes Motel bei El Paso zum Übernachten aus. Doch die Nacht verläuft alles andere als romantisch. Ausgerechnet ein Krankenwagen fährt in das Motel, die Sanitäter stürmen mit gezogener Waffe in den Raum und entführen Mike. Monica entkommt nach einer Flucht in die Wüste, doch als sie am nächsten Tag zurückkehrt, will die Wirtin von all dem nichts mitbekommen haben – selbst Gäste habe sie gestern keine gehabt, Monica sei ihr völlig unbekannt. Stattdessen kommt der Krankenwagen zurück. Allein, in Unterwäsche, rennt Monica ein weiteres Mal davon, bis sie auf dem Highway ein Trucker aufgabelt. Der ist auf dem Weg vom Süden in den Norden, unter Termindruck, gut drei Tage Fahrt ohne Unterbrechung, der Anhänger voll mit viel Fleisch, zu viel, der Truck ist wissentlich gegen die Vorschriften überladen. Mit der Polizei möchte er folglich nichts zu tun haben – er hat für Kontrollen weder Zeit noch die korrekten Papiere. Und die Geschichte des verstörten Mädchens klingt schließlich auch nicht unbedingt plausibel, zudem ist unklar, wie ihr oder ihrem Mann überhaupt geholfen werden kann. Trotzdem lässt sich Bill schließlich auf die Suche mit ein – denn tatsächlich taucht der ominöse Krankenwagen bald wieder auf. Und immer mehr Abgründe tun sich auf, die belegen, dass Monica recht hatte und nun in Gefahr ist – von Mike ganz zu schweigen. Das Bild des ein Mädchen verfolgenden Sanitätsautos – naturgemäß auch auf dem Titelcover abgebildet – beweist das suggestive Vermögen des Regisseurs Erler, schließlich ist es ein visueller Vertrauensbruch, ausgerechnet vor einem Rettungswagen fliehen zu müssen. Auch sonst gewohnt spannend, literarisch nicht zu hoch zu bewerten, aber als Thriller ein Reißer, der sich eines kritischen Themas annimmt, mit der für Erler typischen Komplottstruktur, die wir schon aus „Die letzten Ferien“ kennen.

 

Peter Härtling: Eine Frau.

Vielen ist Peter Härtling (1933 bis 2017) als Verfasser gleich mehrerer Jugendbuchklassiker bekannt, doch schrieb er zugleich zahlreiche Romane und Biographien für das erwachsene Publikum, von denen vor allem letztere durchaus ebenfalls sehr erfolgreich waren. „Eine Frau“ ist gewissermaßen eine Mischung aus beiden, wobei der Titel, reichlich forsch, in seiner Exemplarität natürlich hohe Ansprüche vorgibt. Beispielhaft wird dementsprechend das Leben der Katharina Wüllner vorgeführt, Tochter gutbürgerlicher Dresdner Fabrikanten, knapp nach der Jahrhundertwende geboren, es herrscht eine liberale, im Rahmen freigeistige Atmosphäre, es gibt Künstler in der Familie, einen jüdischen Zweig, eine Sehnsucht zum Aussteigen, die aber nur von einer der Schwestern wirklich gewagt wird – in den 1920er Jahren und mit bösen Folgen. Katharina hat diesen Drang auch verinnerlicht, bewegt sich jedoch stets meist noch innerhalb der Grenzen des Zulässigen, gelegentliche quasi-anarchistische Ausflüge, die sie sich zu verschiedenen Zeiten, von der Kindheit bis ins Alter, durchaus erlaubt, sind immer nur kurzzeitig. Und so durchlebt sie Kriege, eine wenig ersprießliche Ehe, die großen Welt- und privaten Familienkrisen, Verfolgungen unter den Nazis, den Absturz von der Fabrikantengattin zum proletarischen Flüchtling und zieht am Ende ihres Lebens eine nüchterne, sogar böse Bilanz gegenüber ihrer Familie. Der – natürlich wie immer mit Vorsicht zu genießende – Klappentext zitiert ein Kritikerurteil, das das Buch als „ernst zu nehmenden Unterhaltungsroman“ charakterisiert. Das kann man so sehen, sofern man es nicht als vergiftetes Lob versteht, da die Bezeichnung „Unterhaltungsroman“ im deutschsprachigen Raum nicht unbedingt als Qualitätsmerkmal gilt, aber so unzutreffend hier nicht ist. Denn „Eine Frau“ schafft leider eben keine exemplarische Figur, wie der Titel suggeriert, höchstens in ihrer Einseitigkeit. Katharina Wüllner ist zwar immer ein bisschen neben der ‚offiziellen Linie‘, aber nie allzu sehr, sie ist – in der Konstruktion Härtlings – damit aber auch stets in allen Zeitläuften auf der richtigen Seite. Das ist zwar in der jeweiligen Situation eventuell unbequem, aber für die heutigen Leser:innen, an die der Roman sich ja richtet, ist das unproblematisch – und hier liegt das Problem. Katharina Wüllner verhält sich nie – wohlgemerkt, aus heutiger Sicht – kontrovers, allenfalls bedingt bei ihrer Abschiedsrede von der Familie. Sie bleibt stets sympathisch und gibt den Leser:innen keine widerständigen Momente. Sie handelt, wenn man so möchte, erwartbar – und dies, auf eingefahrene Muster, auf Lesererwartungen im Voraus zu reagieren, zeichnet den Unterhaltungsroman aus, ernst zu nehmend oder nicht. 

 

Wolfgang Fienhold, Harald Brehm (Hg.): Die letzten 48 Stunden.

Es war an sich eine reizvolle Idee: Die Herausgeber wandten sich an zahlreiche Kolleg:innen, um sie zu bitten, eine Geschichte über die letzten 48 Stunden der Menschheit zu verfassen, Form egal, Inhalt natürlich auch. Unschwer erkennt man darin bereits die Entstehungszeit, eine typische Idee der als apokalyptisch verschrienen und damit dem Klischee entsprechenden 1980er Jahre. In diesem Fall der ersten Hälfte des Jahrzehnts, was bald zum Problem wird. Während der Einstieg dank Georges Hausemer noch überrascht und die Erwartungen hochhält, stellt sich bald ein Gefühl ein, das nur noch mit wenig Verblüffendem rechnet. Für gut 80% der Autor:innen ist das Weltende gemäß dem Zeitgeist nur als Atombombenabwurf und/oder -krieg denkbar. Das ist aufgrund der realen Bedrohung und angesichts des historischen Hintergrunds verständlich, aber auf die Dauer doch reichlich ermüdend. Die Reaktionen der jeweiligen Protagonist:innen der Geschichten sind dementsprechend ähnlich vorhersehbar: Panik oder Gelassenheit, Verzweiflung, Hass, Nutzen der letzten Chancen oder Resignation, sarkastischer Humor oder Gewaltausbrüche, Sturz in Liebesabenteuer oder Rache an alten Feinden. Hauptsächlich in Kurzgeschichten, mit einigen wenigen Ausnahmen in Form von Lyrik oder Einaktern, schildern die Verfasser:innen ihre Vorstellungen des Weltuntergangs und beweisen zwar alle, dass sie gut schreiben können, doch nur wenige können von der momentanen Lage abstrahieren, selten hat sich Marxens Diktum vom Sein, dass das Bewusstsein bestimmt, so deutlich niedergeschlagen. Man darf vermuten, dass das Buch fünf Jahre später – nach dem Atomunfall von Tschernobyl – oder den Debatten um das Waldsterben viele Geschichten zu diesen Themen aufgewiesen hätte, genaugenommen könnte man den Wettbewerb alle paar Jahre neu ausschreiben. Insgesamt wirkt der spannende Ansatz etwas verschenkt, auf das Ende hin (!) quält man sich ein bisschen durch, froh, dass der Umfang der einzelnen Texte überschaubar ist.  

 

Erik Fosnes Hansen: Momente der Geborgenheit.


Der Titel klingt wie eine Mischung aus Kitsch-Ratgeber und Rosamunde-Pilcher-Schmonzette, so dass man sich ohne Kenntnis des Autors Hansen (geboren 1965) und dessen großartigem Titanic-Roman „Choral am Ende der Reise“ wohl im Normalfall schnellstmöglich am Regal dem nächsten Buch zuwenden würde. Das wäre ein Fehler. Unter anderem, weil man hier gleich drei Romane in einem bekommt. Der schrullige Altpatriarch ist tot. Wilhelm Bolt lebt zurückgezogen nur mit einem Diener und einem Affen auf einem Gut, hält weiterhin die Fäden seiner Geschäfte in der Hand und sich die Familie vom Leib, betreibt akribische Studien und ist ein leicht bösartiger Kauz mit einer undurchschaubaren Vergangenheit. Bis eines Tages durch Zufall seine Großnichte Lea bei ihm auftaucht, eine aufmüpfige Ausreißerin, die er, anfangs, natürlich sofort wieder loshaben will. Soweit die – scheinbare – und nicht gerade neue Grundkonstellation, die beiden Außenseiter finden zusammen, die Beziehung ist nicht unproblematisch, aber bald bilden die beiden ein auf gegenseitiger Sympathie fußendes Bündnis. Doch dann stirbt Bolt, die Verwandtschaft rückt an, es ist ein großes Erbe zu erwarten. Und tatsächlich, im Testament verteilt der Senior großzügig die Aktienpakete an die wenig geschätzte Meute. Lea geht mit einer einzigen Aktie fast leer aus. So scheint es. Doch sie bekommt den Gutshof zum Nießbrauch, die Aufsicht über die Stiftung des Vermögens und vor allem ist ihr Anteilsschein die einzige Vorzugsaktie, d.h. ohne ihre Zustimmung läuft nichts. Die Familie rast, aber was macht Lea mit ihrer Verantwortung? Soll sie sich wirklich, wozu sie schon Bolt überreden wollte und nun der Notar drängt, in die Machenschaften des Geschäftslebens vertiefen? Als sie sich eines Tages aufrafft, einen Blick in die Kontorbücher ihres Großonkels zu werfen, die er jeden Tag pedantisch geführt hat, stellt sie fest, dass sie nicht Zahlentabellen, sondern eine Sammlung von Meldungen über seltsame Zufälle aller Art enthalten. Bolt arbeitete an einer monumentalen Studie über die Wirkungen des Zufälligen. Bruch. Wir sind plötzlich auf einer einsamen Leuchtturminsel, wo vor kurzem ein Schiff gestrandet ist. Offenkundig hat der Fehler des sonst so zuverlässigen Assistenten dazu geführt, dass dies nicht rechtzeitig entdeckt wurde – mit der Folge mehrerer Toter, die nun am Strand aufgelesen, gereinigt und aufbewahrt werden müssen. Josefa, die junge Tochter, einziges Kind des Leuchtturmwärters, wird an jenem Tag das erste Mal zum Waschen der Leichen mitherangezogen. Doch sie entwickelt eine seltsame Krankheit mit Anfällen, womöglich Epilepsie, und alles Leben auf der kleinen Insel verändert sich. Bruch: Wir sind plötzlich in der italienischen Renaissance, am Hofe eines reichen Granden, der an einer scheußlichen Krankheit leidet. Als lustigem Einfall kommt der Hofgesellschaft bei einem dekadenten Bankett, eine schäbige Kirche zu besuchen, wo seit kurzem ein angeblich wundertätiges, aber recht schlechtgemaltes Marienbild für Aufregung sorgt. Das Bild ist wirklich scheußlich und die Freigeister der Gesellschaft, darunter ein Kardinal, natürlich über den Köhlerglauben der einfachen Bevölkerung erhaben. Doch tatsächlich verschwindet die Krankheit des Gastgebers nach dem Besuch. Er lässt das Bild entfernen und will nun alles über dessen Herkunft herausbekommen – was nicht leicht ist, da er nicht einmal den Maler kennt. Drei Geschichten, die nicht nur so gut wie gar nicht zusammenzuhängen scheinen – nur in der Leuchtturmepisode gibt es einmal eine kurze, gut versteckte Anspielung auf das Gut des Bolt – und die, was viele Leser:innen sicher frustrieren wird, nicht nur unverhofft auftauchen, sondern jeweils auch völlig unerwartet ohne Auflösungen ebenso abrupt enden. Hansen erweist sich einmal mehr als begnadeter Erzähler, was sich am besten wiederum in der Leuchtturmgeschichte erweist, doch er verlangt seinem Publikum einiges ab. Das an Paul Auster geschulte Präsentieren augenscheinlich zusammenhangloser unvollendeter Textbrocken, dazu gelegentliche Einschübe des magischen Realismus, wenn wir über das Denken des Affen erfahren, den Blickwinkel des toten Bolt einnehmen oder kurzzeitig mit dem Teufel unterwegs sind. Letzteres ist fast überflüssig, dazu ist die Renaissance-Episode in manchem etwas zu lang und zu klischeehaft geraten, aber insgesamt ist der Roman ein Lesererlebnis der besonderen Art, sofern man sich durch die Unabgeschlossenheit nicht abschrecken lässt. Allerdings verspricht der Text an einer Stelle, dies sei nur der erste Teil eines Werkes gewesen – aber darf man dem trauen?

 

Alexander Häusser: Karnstedt verschwindet.

Noch ein Erbe im Norden. Unerwartet hat Simon erfahren, dass sein früherer bester Freund aus Schulzeiten, zu dem er allerdings seit gut zwanzig Jahren keinen Kontakt mehr hatte, nicht nur verschwunden und für tot erklärt worden ist, sondern ihn zum Erben eingesetzt hat. Er fährt also nach Dänemark, wo Karnstedt zuletzt auf einem alten Bauernhof lebte, einem durchaus großzügigen Anwesen, wie Simon feststellt. Doch was genau hat es mit Karnstedts seltsamem Abgang, der offensichtlich im Norden des Landes ins Meer gegangen ist, was nur anhand seines Autos und der zurückgelassenen Kleider am Strand belegt werden kann, tatsächlich auf sich? Was hatte er für Gründe, ist er überhaupt tatsächlich tot – und warum setzte er Simon als Erben ein? Die Nachfragen des Anwalts bringen den unverhofft Bedachten dazu, auch über den Bruch ihrer Freundschaft zu reflektieren, der Verbindung zweier Außenseiter, die an sich wenig miteinander gemein hatten. Karnstedt, hochintelligent, aber durch eine Anomalie gezeichnet, die verursachte, dass er keinerlei Körperbehaarung, also selbst als Kind schon eine Glatze besaß, was den Mitschüler:innen Anlass genug für ständiges Mobbing war, zog Simon in seine Fantasien über Entdeckungsreisen, aber auch in seine Rache-Intrigen mit hinein, die später fatale Folgen haben werden. Simon kann sich schließlich nicht mehr sicher sein: Handelte Karnstedt wirklich als Freund oder war er, Simon, nur ein Puzzlestück in dessen raffinierten Plänen? Und da ist noch ein Aspekt der Freundschaft der beiden, der ihn zutiefst verunsicherte und mit zum Bruch führte. Nun, in Dänemark, wo er ursprünglich das Anwesen so schnell wie möglich hatte verkaufen wollen, gerät Simon erneut quasi postum in die Verstrickungen seines Freundes, aber auch seiner eigenen Vergangenheit mit ihren düsteren Flecken. Und dann ist da noch die Nachbarin, die angeblich mehr über Karnstedt wusste, aber regelrecht vor Simon flieht. Aus gutem Grund. Ein richtig guter, absolut gelungener kurzer Roman Alexander Häussers (geboren 1960), spannend, aber unaufgeregt, melancholisch, aber nicht larmoyant, mit kontroversen Charakteren, flüssig geschrieben und leider viel zu wenig bekannt. Das muss sich ändern.  

 

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen.


Über mangelnde Wahrnehmung musste sich Jenny Erpenbeck (geboren 1967) dank ihres 2015 erschienenen Buches „Gehen, ging, gegangen“ bald keine Sorgen mehr machen. Er galt schnell als Roman der Stunde und erhielt dementsprechende mediale Aufmerksamkeit sowie in der Folge beachtliche Verkaufszahlen. Hat er das Lob verdient? Grundsätzlich ja, Erpenbeck hatte einen Roman über die schwierige Situation von Flüchtlingen in Deutschland geschrieben, der zu einem Zeitpunkt erschien, als das Thema mehr als kontrovers diskutiert wurde, zum Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise. Anlass war ein Flüchtlingscamp auf einem öffentlichen Berliner Platz, wo abgelehnte oder Asylbewerber mit unsicherem Status für bessere Verhältnisse kämpften und auf ihre unsichere Situation aufmerksam machten. Darüber zu schreiben klingt anstrengend und nach didaktischer Thesenliteratur, den Eindruck könnte verstärken, dass die Autorin daraus keinen besonders aufregenden Plot webt, womit sie aber auch der Gefahr des Voyeurismus entgeht. Ihr Kniff ist ganz clever, sie wählt als Vermittlerfigur einen gutsituierten, gebildeten und frisch pensionierten Literaturprofessor, der mit seiner neu gewonnenen Freizeit nichts recht anzufangen weiß. Dass er sich einmal in der Flüchtlingshilfe engagieren würde, hat ihm sicher nicht vorgeschwebt, obwohl ihn das Geschehen in Berlin durchaus interessiert. Es ist aber vorerst eher Neugier, die ihn treibt, sich näher mit den Vorgängen dort zu befassen. Die ersten Versuche, der Besuch bei einer Flüchtlingsinitiative, schrecken ihn eher ab. Doch das Ganze lässt ihm keine Ruhe, auch ein schlechtes Gewissen spielt eine Rolle, und so geht er vor, wie er es von der Wissenschaft gewohnt ist: als Studie. Er möchte die Geflüchteten zu ihrer Situation und ihrer Herkunft, ihren Gründen und ihren Hoffnungen befragen. Nüchterne Distanz lässt sich aber bei seinen Besuchen in der Asylunterkunft nicht aufrechterhalten, der gutbürgerliche Professor erhält nicht nur immer mehr Einblicke in das unsichere Dasein in Deutschland, sondern auch über die Schicksale, die zur Flucht getrieben haben. Und es wird ihm immer mehr abverlangt, dadurch aber auch sein dahinplätscherndes Pensionärsleben mit neuem Sinn erfüllt. Es gibt vieles zu kritisieren an dem Roman, sprachlich ist er keine Offenbarung, der Professor ist in vielem extrem naiv, seine Unkenntnis der afrikanischen Verhältnisse ist geradezu unterirdisch, sicher muss man nicht jede Hauptstadt des Kontinents kennen, aber seine Wissenslücken sind so eklatant, er müsste sich seit Jahren von jeglichem Nachrichtenkonsum ausgeschlossen haben – was er nicht hat, wie der Text selbst erwähnt. Diese Art Untertreibung hat das Buch gar nicht nötig, die Funktion des Professors liegt ja nicht in der Vermittlung geographischer Kenntnisse, sondern in der von Leben, die wir uns nicht vorstellen können – hier sind wir nämlich alle naiv. Und darin liegt auch die Kraft des Textes. Man mag darüber streiten, ob die überbordende Hilfsbereitschaft von Verwandten und Bekannten, als die Unterkunft geräumt werden muss und viele Asylbewerber in die Illegalität abtauchen müssen, realistisch ist. Letztlich ist auch die Verzahnung der Biographie des Professors mit seiner DDR-Vergangenheit eher überflüssig wie auch seine Affären; was das Buch aber wertvoll und lesenswert macht, ist das sich Einlassen auf die Lebenswege der Menschen, die hier angekommen sind. Hat das Buch also trotz aller Mängel seinen Bestsellerstatus verdient? Es hat.   

 

Philippe Curval: Ist da jemand?

Clément ist mit seiner Frau Nina in Paris unterwegs, die Stimmung ist gefährlich, man ergeht sich in vorsichtigem versöhnlichem Überschwang, nachdem man sich wieder einmal heftig gestritten hatte. Beim Bummeln passiert jedoch vor dem Schaufenster eines Elektrogeschäftes ein Unfall, ein ausgestellter Fernseher implodiert, es gibt Verletzte, Clément wird davongeschleudert, rafft sich aber sogleich auf, um Nina zu helfen. Doch diese ist nirgends auffindbar. Ist sie in Panik nach Hause gelaufen? Doch die Suche bleibt erfolglos. Weder kommt Nina in der Nacht zurück, noch ist sie bei ihren Eltern, noch sonstwo anzutreffen. Zur Polizei geht er nicht, es besteht immer noch der Verdacht, dass Nina ihm doch noch mehr grollt als gedacht und wie in der Vergangenheit schon ihn mit mehrtägiger Abwesenheit bestraft. Vollends mysteriös wird die Angelegenheit jedoch, als ein Arbeitskollege nebenbei berichtet, er habe Nina gesehen, nur kurz, dann sei sie wie in Luft aufgelöst gewesen. Cléments Suche deutet tatsächlich darauf hin, dass seine Frau hin und wieder irgendwo auftaucht – und schließlich begegnet er ihr selbst. Doch sie ist seltsam abwesend, geradezu verzweifelt und obwohl er sie mit nach Hause nehmen kann, gelingt es ihm nicht, sie zu halten. Umso überraschender, dass sie urplötzlich wieder da ist, unverändert, mit der Erklärung, sie habe ihn nur einige Zeit schmoren lassen wollen, von früheren Kurzzeitauftritten kann keine Rede sein. Ist der starke Trinker Clément irgendwelchen Phantasien aufgesessen – oder phantasiert er gerade die Rückkehr seiner Frau? Aber er weiß inzwischen, dass hinter dem Vorfall mit dem Fernseher und dem Verschwinden Ninas mehr steckt, etwas nicht nur für ihn Bedrohliches. Diese Nina kann nicht die echte Nina sein. Philippe Curval (geboren 1929) ist bei uns kaum bekannt, in Frankreich dagegen eine Legende als Erneuerer der heimischen Science-Fiction. Neben dem berichteten Plot verhandelt der Roman zahlreiche weitere Themen, darunter prominent den Umbau der Stadt Paris zur modernen menschenfeindlichen Metropole, illustriert u.a. am Abriss und Neubau der Halles – passend zum Erscheinen des Buches Ende der Siebziger – und anderer Bausünden, die Gentrifizierungsdebatten vorausnehmend, dazu den Anarchismus, der sich zum Beispiel in Ninas Vater manifestiert. Zugleich Thriller, ist die Lösung zu Ninas rätselhaftem Verschwinden zwar wieder klassische Science-Fiction, auch nicht gerade glaubwürdig, aber höchst originell und trotzdem gut nachvollziehbar. Ein außergewöhnliches Buch aus dem Nachbarland.