Mittwoch, 7. August 2019

Lektüremonat Juli 2019.


Lektüremonat Juli 2019

Andrea Levy: Eine englische Art von Glück.

Vier Biographien werden in der Zeit des Zweiten Weltkrieges und der Jahre danach miteinander verknüpft: das junge Ehepaar jamaikanischer Einwanderer und ihrer britischen Vermieter. Ihre Entwicklung verläuft in gewisser Weise parallel, ähnlich und doch ganz unterschiedlich. Beide sind eher Zufallsehen, die Männer abwesend, erst im Krieg, dann der Brite verschollen, der Jamaikaner ins „Mutterland“ England vorausgereist. Die Frauen sind initiativer, viel geeigneter, ihr Leben selbständig in die Hand zu nehmen, während die Männer dem Lauf der Dinge folgen. Doch die Frauen können aus der ihnen auferlegten Rolle ebenso wenig ausbrechen, Queenies frei(zügig)es Leben endet ebenso schnell mit der Rückkehr ihres Ehegatten, wie Hortenses Ausbildung zur Lehrerin mit gehobenen Manieren auf Jamaika ihr alles andere als die erhoffte Anerkennung, geschweige denn einen Beruf verschafft. Bernard unterliegt den kleinbürgerlichen Zwängen seiner Erziehung – zu denen auch ein ausgeprägter Rassismus gehört – der es Einwanderern wie Gilbert schwer macht, in dieser Gesellschaft überhaupt anzukommen. Was an Andrea Levys (geboren 1956) Buch am meisten erschüttert, ist eben jener alltägliche, tief verankerte und allgemein akzeptierte Rassismus, dem allein schon die räumliche Nähe zu einem Farbigen zuwider ist – und der sich jederzeit im Recht sieht. Dass Hortense und Gilbert England als Sehnsuchtsland verstehen, wird ebenso wenig anerkannt, wie Gilberts Dienst in der Armee – er diente in der Royal Air Force genau wie Bernard; auch die Diskrepanz, dass man gemeinsam ein zutiefst rassistisches Regime bekämpft, wird nicht wahrgenommen. Trotzdem gelingt es Levy mit ordentlicher Portion Humor Sympathien für alle ihre nicht ganz einfachen Charaktere zu wecken. Die Übersetzung tat sich schwer mit dem Slang, hat zwar ihr bestes versucht, in allem gelungen erscheint dies jedoch nicht. Dem Lesevergnügen tut dies aber keinen Abbruch.

Henry Troyat: La neige en deuil.

Marcellin und Isaie sind zwei sehr unterschiedliche Brüder, die in einem hochgelegenen Gebirgsdorf wohnen. Isaie, wesentlich älter, ist eigentlich mehr Vaterfigur, er liebt das ruhige Leben als Hirte in den Bergen, doch Marcellin drängt es fort, er will die Langeweile des Dorfes hinter sich lassen und sein Glück in der Stadt versuchen. Doch der von ihm gegen den anfänglichen Widerstand Isaies geplante Verkauf des gemeinsamen Elternhauses als Sommerdomizil für einen reichen Auswärtigen scheitert. Nachdem hoch oben ein Passagierflugzeug an den Felsen zerschmettert ist, wittert er eine neue Chance. Zwar ist ein Rettungstrupp unter dem besten Bergführer des Ortes ebenfalls umgekommen, noch dazu besteht aufgrund des strengen Winters keinerlei Aussicht, Überlebende zu finden. Marcellin glaubt aber Gerüchten, das Flugzeug habe zudem Gold transportiert. Eindringlich überredet er seinen Bruder, einst selbst ein gefragter Bergführer, heimlich den gefährlichen Aufstieg zu wagen – der lässt sich aus Liebe zu dem Jüngeren darauf ein. Der Trip gelingt mit Mühe, doch als Marcellin beginnt, die Leichen zu plündern, stellt sich heraus, dass eine junge Frau noch am Leben ist. Isaie will sie retten, doch Marcellin kann keine Zeugen gebrauchen… Spannender Roman des Akademiemitgliedes Henri Troyat (1911-2007) mit offenem Ausgang.         

Sarah Hall: The Wolf Border.

Die „Wolfsgrenze“, so erklärt ein Hinweis vor Anfang des Textes, ist ein umgangssprachlicher Begriff aus Finnland, mit dem Städter den Übergang zum Hinterland, der „Provinz“ bezeichnen. Nun, Wölfe, Grenzen und Menschen sind die Hauptakteure in diesem vor wenigen Jahren erschienenen und vielfach gepriesenen Roman der britischen Autorin Sarah Hall (geboren 1974). Ein politisch engagierter, bestens vernetzter und mit dem größten Grundbesitz Englands ausgestatteter Earl verfolgt das ehrgeizige Projekt, auf seinem weitläufigen Privatterrain das erste wildlebende Wolfspärchen auszusiedeln. Nachdem er die politischen Stellen überzeugt hat, gelingt ihm dies letztlich auch bei der Wolfsexpertin Rachel Caine, die allerdings eher aufgrund familiärer Umstände – ihre Mutter liegt im Sterben, sie ist nach einer durchzechtem Nacht von einem Kollegen schwanger – aus ihrer bisherigen Anstellung in die Heimat zurückkehrt, die sie vor langem verlassen hat. Während die Leitung des Wolfsprojektes auch aufgrund der netten Kolleg*innen mehr oder weniger nach Plan verläuft, sind die familiären Probleme schwieriger zu lösen: Rachel entscheidet sich nach langem Zögern gegen eine Abtreibung, gibt jedoch dem Vater des Kindes weiterhin nicht Bescheid. Das Verhältnis zu ihrem Bruder nach dem Tod der Mutter renkt sich besser ein als das mit ihrer Schwägerin, doch bricht die Ehe schließlich auseinander, woran der
drogensüchtige Bruder hauptschuldig ist. Derweil geht Rachel in ihrer Mutterrolle auf und auch das Wolfspärchen bekommt nach Nachwuchs. Dagegen bricht etwas anderes auseinander: anders als bei der realen Entscheidung sprechen sich die Schotten im Roman für eine Abtrennung von Großbritannien aus. Dem Earl spielt dies in die Hände, offenbar verfolgte er von Beginn an ganz andere Pläne, wie Rachel bemerkt, als die Tiere durch Sabotage aus dem Schutzgebiet ausbrechen. Halls Buch liest sich gut und man gewinnt bald Sympathien für ihre Figuren – was nicht gänzlich unproblematisch ist, denn selbst die zweifelhaften Charaktere entpuppen sich (fast) alle als eigentlich doch im tiefsten Innern nette Kerle –, mit der Zeit stellen sich hin und wieder Längen ein, auch die Schilderungen ihrer Mutterliebe zerren etwas an den Nerven, letztlich folgt man der Geschichte weiterhin mit einer gewissen Freude am Lesen, fragt sich aber am Ende, was man da eigentlich gelesen hat.

Jürgen Fuchs: Fassonschnitt.

Mit 18 wird Jürgen Fuchs (1950-1999), in Ausbildung bei der DDR-Reichsbahn, zur NVA eingezogen. Sein literarischer Bericht schildert die ersten beiden Wochen in der Ausbildungskaserne Johanngeorgenstadt, die den jungen Mann in zahlreiche Dilemmata und Zweifel stürzen. Wie kann er unter dem Drill, der Unter- und Einordnung, dem als sinnlos Erkannten seine Integrität bewahren? Wo fängt das stumpfe Mitmachen an, das gedankenlose oder sogar akzeptierte Unterwerfen, wo ist die eselbstgesetzte Grenze, die nicht mehr überschritten werden darf? Und lohnt sich ein Widersetzen, sei es noch so klein, überhaupt, da es doch letztlich kaum einem auffällt, den großen Betrieb nicht stört, stattdessen einem selbst – der doch z.B. studieren möchte – schadet, vielleicht darüber hinaus auch der Familie? Fuchs‘ Buch über eine noch dazu vielen Westdeutschen vermutlich völlig fremde Problematik ist ein unglaublich reflektiertes und auch selbstkritisches Buch, das eigene Handlungen ständig hinterfragt, sich selbst dabei ertappt, Dinge zu tun, die man nicht gewollt hat oder einfach hinnimmt, weil es bequemer ist – oder vielleicht gar nicht falsch? Es ist auch keiner dieser oftmals ins Klischee abdriftenden Kasernenhofromane mit geschundenen Rekruten und fanatischen preußischen Offizieren, sondern ein schonungsloser Bericht, der auch dem Gegenüber gerecht werden möchte, gerade weil er sich seiner selbst nicht sicher ist. Dadurch ist er wesentlich subversiver. Dies hatten auch die Behörden der DDR erkannt. Fuchs wurde nach dem Biermann-Vorfall ausgewiesen, aber noch immer als so gefährlich erachtet, dass die Stasi in auch im Westen zermürben wollte. Nach der Wende setzte sich Fuchs dementsprechend für die Aufarbeitung und die Aufklärung über die Stasi-Verbrechen ein.

Stefan Andres: Die Dumme.

Stefan Andres (1906-1970) war einer der meistgelesenen Dichter der Nachkriegszeit, in den Jahren zuvor hat er sich mit mal mehr mal weniger Erfolg durch die Innere Emigration laviert, berühmt wurde sein Camouflage-Buch „Der Großtyrann und das Gericht“ (1936). Heute gehört er schon zu den fast Vergessenen. „Die Dumme“, ein Roman aus dem Spätwerk, ist alles andere als ein misogynes Buch, wie der Titel suggerieren könnte. Tatsächlich ist dies das abschätzige Urteil der Männer über die junge Lina, die tatsächlich naiv und gutgläubig, deren zielgerichtetem Charme nicht widerstehen kann. Zu spät begreift sie den Egoismus der Herren der 60er Jahre, egal ob in Ost oder West, der rheinische Kapitalist ist keineswegs sympathischer als der überzeugte Kommunist in Ost-Berlin, zu dem er sie abschiebt. Der eine braucht nur eine hübsche Gespielin, der andere versucht sie zudem zu erziehen. Hinter beidem steckt eine tiefgehende Menschenverachtung, die jeden als dumm abqualifiziert, der sich dieser nicht unterordnet. Andres Roman war damit durchaus mutig, seine auf einem (christlichen) Humanismus basierende Botschaft wird man in keinem der beiden Deutschlande gern gehört haben. Bitter ist vielmehr, dass der Typus unabhängig ist von irgendwelchen längst verschwundenen Staatsgrenzen und das Buch dadurch aktueller wirkt denn je – es müsste viel mehr solcher Dummen geben.

Robert Seethaler: Die Biene und der Kurt.

Einer der meistgelesenen Autoren unserer Tage ist der Österreicher Robert Seethaler (geboren 1966), mit jeder Neuerscheinung Direktkandidat auf der Bestsellerliste. Begonnen hat dies alles einst – „einst“ war 2006 – noch nicht ganz so erfolgreich, aber durchaus beachtenswert mit diesem schrägen Debüt über zwei Außenseiter, die gemobbte 16jährige Brillenträgerin Biene aus dem katholischen Mädchenheim auf der Flucht und dem dicklichen Alt-Rock’n’Roller Kurt Heartbreakin‘ Dvorcak auf Provinztour über die Stallbühnen und Gasthäuser in eher entlegenen Teilen der Republik. Ihm und seinem glitzernden Heartbreakin‘-Mobil läuft die Außenseiterin erst über den Weg, dann hinterher, dann steht sie kurzzeitig mit ihm auf der Bühne, dann gibt’s ordentlich Krach und zum Ende eine Versöhnung plus tragischen Ausklang. Dies ist die Kurzversion der Erlebnisse eines denkbar ungleichen Teams, das wenige Höhen und viele Tiefen durchlebt. All das erfordert nun nicht so ganz hegelianische Verstandeskünste, aber darüber trösten der äußerst unterhaltsame schnoddrig-naive Erzählton, die beiden sympathischen Hauptcharaktere und der schwarze Humor des Buches hinweg. Für‘s Vergnügen zwischendurch.

Margriet de Moor: Der Jongleur. 

Eine Pension im Amsterdam der Nachkriegszeit: dort versammeln sich verschiedene Varieté-Künstler*innen, vom Zauberer über einen Leitermann bis zum einbeinigen Schnellzeichner und dem titelgebenden Jongleur, um von dort zu ihren Auftritten auf den Bühnen der Stadt zu gelangen. Man kennt sich, man tauscht sich aus, aber harmonisch geht es nicht unbedingt zu. So fädelt der Zauberer eine Intrige gegen den Jongleur ein, da er bemerkt, dass dieser ein Auge auf seine Geliebte, die Taubenkünstlerin „Mis Daisy“ (die falsche Schreibung ist Teil des Künstlernamens) geworfen hat – und es damit ehrlicher meint als er selbst. So recht kommt der kurze Roman der Niederländerin de Moor (geboren 1941) nicht in Fahrt. Obwohl sonst eine Meisterin, verliert sich die Geschichte etwas im Nichts, zwar gekonnt mit Anspielungen verfahrend und die Erzähltechnik perfekt beherrschend wie der Jongleur seine Kunststückchen, aber es fehlt der sonst jeden Roman de Moors zum Erlebnis machende melancholische Grundton mit seiner einfühlsamen Betrachtung der Charaktere. Man sollte ganz schnell zu einem ihrer anderen Bücher greifen, um erst gar keine Enttäuschung aufkommen zu lassen.                             

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