Samstag, 11. Juni 2022

Das neue Buch: "Historische Pfade Franken".

Für Ausflüge (nicht nur mit dem 9-Euroticket) in die Geschichte eignet sich Franken besonders gut: Ausgewählte Ziele, mal bestens bekannt, mal weniger bekannt, von Wertheim an der Tauber und am Main bis nach Hölle im Frankenwald und von Münnerstadt bis Weissenburg gibt es in meinem neuen Buch (und für die Liebhaber:innen von historischen Lost Places ist darin natürlich auch das ein oder andere zu finden).


Überall, wo es gute Bücher gibt, bitte unterstützt eure lokalen Buchhandlungen!  




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Donnerstag, 9. Juni 2022

Lektüremonat Mai 2022.

 

Halldór Laxness: Salka Valka.


Ein kleines Fischerdorf an der mittleren Küste Islands, im Nirgendwo, bewohnt von Menschen, die nur notdürftig ihr Dasein fristen, in Abhängigkeit gehalten vom reichsten Mann vor Ort, dem Kaufmann Johann Bogesen, der ein raffiniertes Schuldensystem geschaffen hat, mit dem er die Kontrolle über das Dörfchen behält. Dort landen mit dem Linienschiff eine Frau und ihre Tochter, doch niemand will ihnen Aufnahme gewähren, weder der Pastor, noch Bogesen, noch der Arzt, alle winden sich mit Argumenten aus der Verantwortung, selbst die Heilsarmee kann sich erst zur Hilfe überwinden, als die Frau bei einer ihrer Versammlungen ein Erweckungserlebnis hat. Tatsächlich großzügig zeigt sich nur das versoffene Großmaul Steinthor, der die beiden bei Verwandten in einer schäbigen Hütte unterbringt. Salka Valka, so der Kosename der 11jährigen bemerkt bald, dass sie sich ihrer Mutter entfremdet, die einerseits immer stärker von ihrem naiven Jesusglauben geprägt wird, anderseits zunehmend in den Bann Steinthors gerät, der jedoch weder vom Alkohol noch von anderen Frauen lässt. Salka selbst findet nicht in die Gemeinschaft, sie ist ein selbstbewusstes, weil auf sich allein gestelltes Kind, forsch und nie um eine Erwiderung verlegen. Von den Kindern des Dorfes gehänselt, hat sie nur in dem älteren Jungen Arnaldur eine Art Freund, da dieser, selbst ein Außenseiter, ihr Lesen und Schreiben beibringt. Ihre Mutter träumt derweil von einer Hochzeit mit Steinthor, der sich allerdings davonmacht, als die Geburt des gemeinsamen Kindes bevorsteht und nachdem er versucht hat, Salka zu vergewaltigen. Nachdem sie diesen Schock überwunden hat, versucht Sigurlina ihr Leben zu konsolidieren, indem sie dem Antrag eines Bauern nachgibt, der sie zur Frau haben möchte, doch die Hochzeit verzögert sich, das Kind stirbt und plötzlich taucht Steinthor wieder auf. Sigurlina läuft wieder zu ihm über, alles scheint von vorne zu beginnen. Doch wieder verschwindet Steinthor kurz vor der Hochzeit, die zweifach Betrogene sucht den Tod im Meer. Nun könnte man für den zweiten Teil einen Bruch erwarten, der auch kommt, aber in überraschender Form. Salka, nun eine junge Frau, wohnt allein in einer schmuck eingerichteten Hütte, sie hat Anteil an einem Schiff und eine wichtige Position im neugegründeten Schifferverein, offenkundig auch Geld – gesandt von einem Unbekannten aus Amerika. Es ist ihr also gelungen, sich eine Position im Ort zu erarbeiten, mit der sie hofft, die Verhältnisse dort verbessern zu können. Sie ist immer noch eine Außenseiterin, die als zu männlich gilt, aber nun eine mit Ansehen. Doch die Kämpfe mit dem Monopolisten Bogesen, der sich gern als liebender Patriarch gibt, werden immer härter, das Dörfchen gerät in die Schwankungen der isländischen Politik, zwischen freisinnigen Unabhängigkeitskämpfern wie Bogesen und sozialistischen Ideengebern wie dem plötzlich zurückkehrenden Arnaldur, der vor Ort agitiert, Streiks organisiert und fanatische Reden schwingt. Salka ist hin- und hergerissen, beide Möglichkeiten scheinen ihr keine Optionen, beides wird auf dem Rücken der armen Schichten ausgetragen – hinzukommt ihre uneingestandene Liebe zu Arnaldur. Noch komplizierter wird ihre Lage durch das Auftauchen des scheinbar geläuterten – und inzwischen vermögenden – Steinthor, sie gerät in Gefahr, den Weg ihrer Mutter einzuschlagen. Doch dafür ist Salka nicht beeinflussbar genug, sie hält trotz aller Versuchungen an der ihr eigenen Mischung aus Instinkt, Vernunft und Selbstlosigkeit fest, für die sie jedoch hohe Preise zu zahlen hat. Halldór Laxness (1902 bis 1998) bewies mit "Salka Valka" einmal mehr, warum er zu den Literaturnobelpreisträgern gehört, die diese Auszeichnung auch tatsächlich verdient haben. Die Schilderung der tristen Atmosphäre des Dorfes, der einzelnen, oft äußerst wankelmütigen Charaktere seiner Bewohner, der verhärteten Obrigkeit in Form des huldvollen Pastors, des dem Wahnsinn verfallenen Arztes oder des sich selbst bemitleidenden ausbeuterischen Bogesen, durch einen nicht selten ironisch sarkastischen Erzähler, vor allem aber die Gestaltung der Hauptfiguren, über Sigurlina bis Steinthor, von Arnaldur bis vor allem zu Salka, deren Perspektive wir hauptsächlich einnehmen, erweist er sich als einer der ganz Großen. Denn keine dieser Personen ist eindeutig, selbst da, wo unsere Sympathien liegen, gibt es keine einfachen Linien, gerade Salka ist eine Person, mit der man auch streiten kann, sie weiß ihre Unabhängigkeit von allen zu wahren, passt sich nicht an, bleibt dadurch aber auch allein. Sie geht keine geraden Wege, ringt mit ihren Entschlüssen, liegt dadurch auch falsch, macht es sich nie bequem. Sie ist eine der viel zu wenig bekannten, ganz großen Frauengestalten der Literatur des 20. Jahrhunderts und "Salka Valka" ein Meisterwerk.  

 


Per Olof Sundman: Ingenieur Andrées Luftfahrt.

Anders als bei uns ist der 1897 von dem schwedischen Beamten Salomon August Andrée unternommene – zweite – Versuch, den Nordpol mithilfe eines Ballons zu erreichen in seinem Heimatland ebenso legendär wie unvergessen. Per Olof Sundman (1922 bis 1992) schildert das Unternehmen aus der Sicht des jungen Ingenieurs Knut Fraenkel, der sich darum bemüht, den freigewordenen dritten Platz in dem Fluggefährt einnehmen zu dürfen, nachdem der am ersten durch fehlende Winde bedingten abgesagten Startversuch beteiligte Nils Ekholm inzwischen zum Kritiker des gesamten Unternehmens geworden war. Fraenkel bekommt die Stelle und bereitet sich mit seinem Kollegen Strindberg und dem Ersatzmann Swedenborg sie hießen tatsächlich so und waren entfernte Verwandte der bekannteren Träger dieser Namen – intensiv auf die Reise vor, während Andrée weiterhin seinem Beruf nachgeht und eher im Stillen wirkt. Die Begeisterung der Bevölkerung, verbunden mit viel schwedischem Nationalstolz, ist groß, auch wegen der parallelen Erfolge anderer Polarexpeditionen, etwa – ausgerechnet des Norwegers Fritjof Nansen. Nachdem diesmal die Wetterlage günstiger scheint, kann der Flug schließlich von Spitzbergen aus starten. Doch Fraenkel muss bald feststellen, dass das ganze Unternehmen weitaus weniger akribisch und wissenschaftlich gesichert vorbereitet worden war, als er geglaubt hatte. Nach und nach verliert er seine Illusionen über das Vorhaben, vor allem aber über den Leiter Andrée. Schon früh hatten dieser und Strindberg zuviel Ballast abgeworfen und die zur Steuerung notwendigen Schleppseile in einem Panikanfall gekappt, an sich treibt der Ballon nun unkontrolliert über dem Eis und droht ständig aufzuschlagen, was nach drei Tagen auch der Fall ist – weit entfernt vom Pol und dem Ziel einer einmonatigen Luftfahrt. Fraenkel und auch Strindberg wird bewusst, dass Andrée elementare Grundsätze vernachlässigt und sich generell idealistischen Phantasien hingegeben hatte, was sich bei dem nun notwendigen Versuch zeigt, einen Weg zu angelegten Vorratslagern zu finden. Unter Führung des überforderten und wenig entscheidungsfreudigen Andrée schlägt man Wege ein, die schließlich zur Aufgabe führen, da die unter extremen Mühen zurückgelegten Kilometer jeweils durch die Bewegungen des Packeises wieder konterkariert werden. Es bleibt nur die Errichtung eines Winterlagers im Eis, doch das erste Schneehaus wird zerstört, man muss sich auf eine Gletscherinsel zurückziehen, entkräftet und krank. Strindberg stirbt. Und er wird nicht der einzige bleiben. Dem Geschehen angemessen schildert Sundman – für ihn typisch – das Scheitern der berühmten Expedition und den Verlust der Illusionen bei den jungen Teilnehmern in einem äußerst knappen, unterkühlten Tonfall. Die langsame Entlarvung des gesamten Unternehmens als von Vorneherein zum Scheitern verurteilt geht einher mit den zunehmend bedrängenden Umständen, die sich als mehr und mehr aussichtlos erweisen. Spannend und hart.

 

Matthias Brandt: Raumpatrouille.

In Matthias Brandts (geboren 1961) kurzem Band mit kurzen Erzählungen stoßen wir ständig auf Doppelungen. Es sind autobiographische Geschichten aus der Sicht eines Kindes in der Bundesrepublik der 1970er Jahre aus dem beschaulichen Bonn, das nebenher auch Bundeshauptstadt ist. Nun ist Brandt ein bekannter Schauspieler und sein Vater ein gewesener – zur Zeit des Textes aktiver – Bundeskanzler. Das reizt natürlich – eben – doppelt. Eine ohnehin berühmte Persönlichkeit schreibt über sich und seine noch berühmtere Familie, dazu kommt der wiederum zweifache Kunstgriff, dass die Leser:innen einerseits gewissermaßen mit Schlüsselromanelementen gelockt werden, andererseits der Nostalgiefaktor keine geringe Rolle spielt, der sich unter anderem in der wiederkehrenden exakten Benennung von bestimmten Gegenständen und Namen manifestiert, vom Bonanza-Rad bis Wim Thoelke. Die eigentlich interessante Doppelung ist aber, wie banal, sprich ununterschieden von anderen – unseren – Kindheiten ein Kanzlerkind aufwächst, es sind dieselben beziehungsweise ähnlichen Befürchtungen, Erlebnisse, Fantasien, die wir alle hatten, was einerseits beruhigend ist, andererseits die Identifikation und damit den Erfolg des schmalen Bändchens – bei den Leser:innen erklärt. Das man zum Besuch beim älteren Nachbarn geschickt wird, geschniegelt und leicht verlegen, ist nichts Besonderes, auch wenn es sich in diesem Fall um einen ehemaligen Bundespräsidenten handelt. Die wenigsten von uns wurden vermutlich je von Personenschützern zum Übernachten bei einem Schulfreund gefahren, aber dieses Gefühl, dort soviel mehr zu dürfen, dass die Gasteltern ganz anders und locker seien – die böse Ironie ist, dass es sich um tatsächlich um einen totalen Spießeralbtraum handelt –, das sich letztlich in eine moralische Krise und abruptes Heimweh verwandelt, weil man es als Verrat an der eigenen Familie empfindet, so oder so ähnlich haben das sicher viele erlebt. Das alles ist womöglich nicht der Gipfel der Höhenkamp-Literatur, aber auch mehr als das Geschreibsel eines sich selbstverwirklichenden Schauspielers, es ist eine unterhaltsame und auch durchaus nachdenklich stimmende Lektüre.       

 

Arthur C. Clarke: Die sieben Sonnen.

Es ist nicht immer ganz leicht mit dem Schreiben von Science-Fiction: Setzt man seine Geschichte in vergleichsweise naher Zukunft an – etwa dem Jahr 2050 –, so besteht die Gefahr, dass das eigene Werk von eben jener Zukunft eingeholt wird und sich viele Voraussagen als peinlich falsch herausstellen. Verschiebt man die Abläufe in scheinbar sichere Gefilde, beispielsweise die Zeit um 2350, so kann es passieren, dass man dort Erfindungen als erstaunlich und unglaublich innovativ präsentiert, die inzwischen für jede:n Leser:in längst Alltag geworden sind, so wie es manchem Erzeugnis der Star-Trek-Serien erging. Oder man macht es wie Arthur C. Clarke (1917 bis 2008) in den „Sieben Sonnen“ und geht komplett auf Nummer sicher, in dem man die Handlung einfach kurzerhand in eine Zeit nach Tausend Millionen Jahren ansetzt. Die Menschheit hat sich beim Versuch, ein galaktisches Imperium zu errichten, reichlich übernommen, wurde im Gegenzug von sogenannten Invasoren auf die dabei größtenteils zerstörte Erde zurückgedrängt und lebt nun als Restbestand geschützt in der einzig verbliebenen Stadt Diaspar. Um den eigenen Bestand zu erhalten, aber auch, um jegliche Wiederholung der vergangenen Katastrophen zu verhindern, sind die Überlebenden wohlbehütet, selbstvergessen und an allem um sie herum völlig desinteressiert. Die Menschheit hat Unsterblichkeit erreicht, in der der Einzelne nach gut tausend Jahren Lebensspanne in ein Stadium der Regeneration verfällt, aus dem er nach einiger Zeit, angereichert mit den Erinnerungen seiner Vorleben, wiederersteht zu dem bequemen, von Maschinen und Robotern umsorgten Leben in Diaspar. Doch Alvin ist anders: Er besitzt keine Erinnerung an Vorleben, er ist tatsächlich ein „neues“ Geschöpf. Dies macht ihn zum Außenseiter, aber versieht ihn auch mit ungewohnten Eigenschaften: etwa Neugier. Alvin möchte wissen, ob es außerhalb Diaspars wirklich nichts gibt als reine Wüste – die natürliche Furcht der Bewohner vor der Außenwelt fehlt ihm. Über Umwege gelingt es ihm, Diaspar zu verlassen – und tatsächlich stellt er fest, dass mit Lys noch eine weitere menschliche Gemeinschaft auf dem Planeten lebt. Diese ist freier als Diaspar, doch verlangt genauso streng, nicht mit der Stadt in Kontakt zu kommen. Alvin ist gezwungen, entweder dort zu bleiben oder sein Gedächtnis an den Aufenthalt löschen zulassen. Doch er hat andere Pläne, er will mehr Wissen und er will Veränderung. Mit seiner Flucht zurück nach Diaspar löst er konsequenzenreiche Veränderungen aus. Clarke, einer der Altmeister der Nachkriegs-Science-Fiction, verhandelt hier, für ihn, der sich sonst hauptsächlich für die technische Weiterentwicklung interessierte, eher ungewöhnlich, überwiegend philosophische Themen – auch vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. Insgesamt sind die „Sieben Sonnen“ ein Thesenroman, mit anderen Worten: nicht unbedingt ein actionreicher Pageturner. Somit mehr etwas für Liebhaber:innen des Genres oder Hardcore-Clarke-Fans.  

 

Henri Bosco: Le mas Théotime.


Pascal Dérivat lebt seit zehn Jahren auf einem Landgut in einer höhergelegenen Region der Provence, er bewohnt dort das Herrenhaus (frz. mas) Théotime, während auf dem zum Areal gehörenden Gehöft die Familie Alibert, die für die Landwirtschaft und auch seine Versorgung zuständig ist, untergebracht ist. Es ist ein beschauliches Leben, geprägt von den täglichen Arbeiten und den Anforderungen der Jahreszeiten und es ist auch einsam, mit den zurückhaltenden Alibert versteht sich Pascal fast wortlos, das Dorf ist weit, die Nachbarn, einzelne kleinere verstreute Gehöfte machen sich, bis auf einen, kaum bemerkbar. Da wird Pascal die Ankunft seiner Cousine Geneviève angekündigt. Sie soll sich bei ihm von einer unglücklichen Beziehung erholen. Er ist wenig begeistert, sein Verhältnis zu Geneviève war immer äußerst zwiespältig, während er tief im Inneren seine Liebe zu ihr verbarg, gab er sich äußerlich rüde, bis hin zu einem Skandal auf einem Familienfest, als er sie bei einem Annäherungsversuch schlug – einer der Gründe, warum er sich vom Großteil der Familie zurückzog auf das Landgut. Doch Geneviève hatte ihm schon längst verziehen und bald scheint sie sich nicht nur in das ruhige Leben auf Théotime einzufügen, Pascal spürt die alten Gefühle wieder in sich hochkommen, die auch von ihr erwidert werden, ohne dass es zu einer Aussprache kommt. Ein Zwischenfall sorgt dann für die Störung des Idylls. Geneviève hatte Clodius aufgesucht, den Nachbarn, der seit Jahren aus Tradition eine unverbrüchliche Feindschaft mit den Bewohnern Théotimes pflegt, obwohl er ein Cousin Pascals ist. Dieser holt Geneviève vom Nachbarhof, wobei er Clodius zurückstößt, der zu Boden fällt und liegenbleibt. Über Tage herrscht Unsicherheit: Hat er Clodius getötet, da dieser seitdem nicht mehr aufgetaucht ist? Wäre das schlimmer als die Rache, die dieser mit Sicherheit nehmen würde, falls er überlebt hat? Zu allem Unglück leidet Geneviève unter der Situation, sie begibt sich auf einige Zeit zu einem Verwandten in ihrem Heimatort. Doch Clodius erscheint nach einigen Tagen wieder, sich anfangs harmlos gebend, bereitet er, wie befürchtet, einen langsamen, quälenden Feldzug gegen seine Nachbarn vor. Doch eines Tages liegt er tot vor seinem Haus, erschossen. Pascal wird nur kurz verdächtigt, noch erstaunlicher aber ist, dass der ihn hassende Cousin ihm als letzten Verwandten sein Gut vererbt hat. Pascal steht vor der Entscheidung, dieses Erbe anzutreten oder zu verweigern, das ihn auf immer mit Clodius verbinden wird. Derweil versteckt er den Mörder seines Cousins bei sich auf dem Hof, wo er ihn zufällig entdeckt, aber nicht verraten hat. Er will das Motiv für die Tat wissen, handelt es sich doch bei dem Mann um einen ihm völlig Unbekannten, der Kleidung nach ein Städter. Nichts ist geblieben vom beschaulichen Landleben, Pascal ist mit zahlreichen Dilemmata konfrontiert, die Aliberts entfremden sich ihm und irgendwann steht plötzlich wieder Geneviève vor der Tür, die sich ihm weiterhin aus scheinbar unersichtlichen Gründen verweigert. Doch der Grund ist längst bei ihm zuhause – der Mann, den er versteckt. Henri Bosco (1888 bis 1976) ist bei uns so gut wie unbekannt, in Frankreich gilt er als einer der großen Jugendschriftsteller. „Le mas Théotime“ wie viele seiner Werke in der Provence angesiedelt, ist ein äußerst karges Buch, das von seinem Personal lebt. Es sind eigenbrötlerische Charaktere, in sich gekehrt, es wird unglaublich wenig gesprochen miteinander, aber sehr viel geschwiegen. Selten wird etwas offen gesagt, teils verzweifeln die Figuren aber auch an ihrer Sprachlosigkeit, ihrer Unfähigkeit, ihre Gefühle auszudrücken. Die Einsamkeit zeigt ihre beiden Seiten, das Genügsame, Glücklichmachende, aber auch das Hilflose, Alleingelassene. Ein großartiges Portrait einer Landschaft und ihrer Menschen. 

 

Alissa Walser: Die kleinere Hälfte der Welt.

Manche Bücher altern schnell. Der dünne Band mit Erzählungen von Alissa Walser (geboren 1961) stammt aus dem Jahr 2000 und wirkt schon heute so, als würde er inzwischen nicht mehr geschrieben werden. Ob das gut oder schlecht ist, darüber kann man trefflich diskutieren, in jedem Fall hat man beim Lesen dieser Geschichten, in den sexuelle Gewalt eine offene oder unterschwellige Rolle spielt, ein zumeist mindestens ungutes Gefühl. Zwar sind die Männer das ausübende Element, beherrscht von ihrer Triebhaftigkeit, zwar scheinen einige Frauen mit ihrer Macht, die sie dadurch über ihr Gegenüber erlangen, zu spielen oder diese selbstbewusst zu nutzen, aber es gibt auch einen schwer durschaubaren Graubereich, in dem gerade die Mädchen eher Opfer ihrer eigenen Verführungskünste werden, sie das Unheil fast bewusst heraufbeschwören, was leider etwas zu sehr an die Kurze-Rock-Debatte erinnert. Aber vielleicht muss das jede:r für sich entscheiden, wenn er oder sie sich an die nicht ganz einfache Lektüre der Erzählungen macht.    

 


Robert Seethaler: Ein ganzes Leben.

Andreas Egger wächst in einem kleinen Alpendorf auf, eine glückliche Kindheit ist es nicht. Er wird von entfernten Verwandten aufgezogen, seine Mutter – der Vater ist unbekannt – ist früh gestorben. Seinen Pflegeeltern dient er nur als zusätzliche Arbeitskraft und als Prügelobjekt, während einer der unzähligen Bestrafungen wird er so sehr misshandelt, dass sein Bein bricht und er fortan hinkt. Trotzdem wächst er zu einem kräftigen Burschen heran, der bald gegen Bedenken wegen seiner Behinderung eine verantwortungsvolle Aufgabe beim Seilbahnbau bekommt und seine Liebe findet, eine zugezogene Kellnerin. Es scheint alles im Lot, man hat ein kleines Häuschen außerhalb des Dorfes, lebt bescheiden, aber glücklich. Doch eine Lawine zerstört das Haus und tötet Marie, Egger verzweifelt und zieht in den Krieg, aus dem er erst nach langer Gefangenschaft zurückkehrt. Er verdingt sich erfolgreich als Fremdenführer für die immer zahlreicheren Touristen, die in das prosperierende Dorf einfallen, später entwickelt er sich zum Eigenbrötler, zieht in einen verfallenen Stall, stirbt. Ein ganzes Leben ist vorbei. Wieder ein Bestseller aus der Feder Robert Seethalers (geboren 1966), der von seiner nüchternen Erzählweise und einem ebenso klaren Plot lebt. Der Erfolg beruht auf der gekonnten Verknüpfung von Vertrautem: Der recht einfach gestrickte, aber liebenswerte Dorfkauz, die Kindheit beim bösartigen Bauern, überhaupt das seltsame Leben der Dorfbewohner, gespickt mit grausigen Details und kuriosen Bräuchen, alles vor imposanter Kulisse, der Einfall des Fremden in Form der Seilbahnarbeiter und der Touristen, die zerstörerische Lawine – ein Klassiker des Genres! –, die Verbundenheit mit der Heimat, die schon eine Busreise zu den Nachbarorten exotisch und gefährlich wirken lässt, und einiges mehr. All das ist nicht neu, aber nett aufbereitet, man liest es recht gern, weil es gut geschrieben ist und weil man es schon kennt. Nicht mehr, nicht weniger.