Heimito von Doderer: Ein Mord den jeder begeht.
Auch wenn das Komma auf dem Buchdeckel fehlt, dieser Titel gehört sicher zu den genialsten, die sich ein Autor bisher ausgedacht hat. Das reißerische Mord, zu Genüge von Krimis bekannt, aber in Verbindung mit einer Behauptung, die rätselhaft ist, neugierig macht oder auch für Abwehr sorgt. In jedem Falle möchte man wissen, welchen Mord man – selbst – eigentlich begeht. Apropos Falle. In diese lockt einen Doderer (1896-1966), wenn man so möchte (und ihn nicht schon kennt), denn natürlich handelt es sich nicht um einen Krimi. Hauptfigur ist der junge Conrad Castiletz, eine absolute Durchschnittsperson, gemüts- und gefühlsarm, wenig interessiert und angepasst, ohne Anschluss zu haben. In der Schule, in der Ausbildung und letztlich insgesamt unauffällig, kommt er überall gut an und durch. Nur gelegentlich hat er kurze Momente, wo er aus seiner Rolle ausbricht, etwa als er spontan eine Schlange tötet, oder sich auf einer Zugfahrt an einem derben Jux beteiligt. Aber nicht einmal er selbst kann sich diese kurzen Unterbrechungen seines Daseins erklären, sie sind wie die plötzlichen Zornausbrüche seines Vaters. Castiletz geht seinen vorbestimmten Weg, fleißig und geradlinig. Und so trifft er während seiner Ausbildungszeit die Tochter eines Textilfabrikanten und heiratet sie. Die Ehe ist nicht sonderlich glücklich, man lebt bald nebeneinanderher, Castiletz interessiert sich mehr für das Schicksal seiner schönen Schwägerin, die vor über acht Jahren scheinbar Opfer eines Raubüberfalls während einer Bahnfahrt wurde. Jetzt erwacht ein unwiderstehlicher Drang, eine Aufgabe in ihm: Er möchte den Mord an Louison Veik aufklären, an dem so vieles mysteriös erscheint. Allein in einem Zugabteil wurde sie in einem Tunnel der Strecke Stuttgart-Erfurt-Berlin getötet. Das Fenster stand offen, die Tür war verschlossen, ihr Schmuck gestohlen. Doch Castiletz‘ Nachforschungen bringen ganz andere Umstände zutage und er muss erkennen, dass er selbst an dem Geschehen nicht unbeteiligt war. Doderer präsentiert uns eine psychologische Studie eines scheinbaren Durchschnittsmenschen und wie gewohnt tut er dies mit literarischer Brillanz. Seine Kunst liegt im Verweben zahlreicher Motive, die immer wieder offen und unterschwellig im Roman auftauchen, Metaphern machen sich selbständig, Neologismen tauchen erst überraschend auf und werden zur akzeptierten, weil treffenden Gewohnheit. Natürlich fehlen auch die Doderer-typischen Nebencharaktere nicht, ausgestattet mit markanten, ebenfalls meist in nur einem Wort zusammengefasten Zügen, Katalysatoren von Castiletz‘ Entwicklung. Wer sich an die großen, umfangreichem Romane des Meisters noch nicht herantraut, der kann hier mit seiner zukünftigen Doderersucht beginnen.
Rainer Erler: Die letzten Ferien.
Das außergewöhnliche Schaffen Rainer Erlers (geboren 1933) haben wir schon an früherer Stelle gebührlich und zurecht hervorgehoben, „Die letzten Ferien“ sind etwas konventioneller, aber entsprechen ebenfalls dem typischen Erler-Doppel 'Buch zum eigenen Film'. Beate fliegt mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater auf die Kanarischen Inseln. Es sind eigentlich keine Ferien, aber man kann bei diesem Ziel natürlich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, auch wenn der Grund der Reise eher Anlass zu gemischten Gefühlen gibt. Beate soll dort an ihrem achtzehnten Geburtstag den Nachlass ihres Vaters, der kürzlich verstorben ist, antreten. Der arbeitete auf den Inseln als Immobilien- und Grundstücksspekulant und hinterließ ein nicht unbeträchtliches Vermögen. Großer Grund zur Trauer besteht ohnehin nicht, Beates Vater war kaum anwesend in ihrer Kindheit, die Eltern hatten sie früh ins Internat abgeschoben. Das Verhältnis zur Mutter und erst recht ihrem Stiefvater – dem Rechtsanwalt der Familie – ist deutlich unterkühlt. Der Aufenthalt auf den Kanaren ist für Beate somit mehr oder weniger ein Pflichttermin, gereizte Gespräche mit den Eltern, umgeben von ältlichen Pauschaltouristen in Hotelburgen. Abwechslung verspricht die zufällige Bekanntschaft mit einem einheimischen Spanier. Eher aus Langeweile und Abwechslungssehnsucht lässt sie sich näher auf ihn ein, verabredet sich schließlich mit ihm zu einer Erkundungstour abseits der Massenstrände. Man sonnt sich in einer einsamen Bucht, man hat Sex, Miguel möchte noch mit seinem kleinen Boot hinaus aufs Meer. Beate ist skeptisch, aber lässt sich überreden. Draußen auf dem Wasser wird Miguel plötzlich aggressiv. Mit aller Gewalt beginnt er unversehens, Beate aus dem Boot werfen – als ihm dies gelungen ist, versucht er sie mit der Schiffsschraube zu überfahren. Nur indem sie sich unter das Boot klammert, kann sich das Mädchen retten, Miguel glaubt, seine Tat vollendet zu haben. Beate rettet sich entkräftet ans Ufer, beziehungsweise wird von der Flut dort angespült. Ein einsamer Hippie, der sie dort findet, bringt sie in eine Gemeinschaft von Aussteigern, die kärglich und kaputt in einem Ruinendorf weitab der bevölkerten Inselgegenden leben. Mit deren Hilfe kommt sie ins Hotel zurück, doch als sie dort eintrifft, sind ihre Eltern alles andere als freudig überrascht. Im Gegenteil: Am Frühstückstisch taucht nicht nur ein Beate täuschend ähnlich aussehendes Mädchen auf, sondern auch – Miguel. Das Buch ist kein literarisches Meisterwerk, will es auch nicht sein, aber ein spannender Thriller. Auch wenn Erler die Hinweise manchmal etwas zu deutlich setzt, was auch Methode sein kann, um die Frage nach dem Wie zu stellen, ist die Konstellation gerade an dem Punkt ihrer Ausweglosigkeit naturgemäß am faszinierendsten: Beate wird klar, dass sie einem Komplott zum Opfer gefallen ist, allein auf einer Insel, halbnackt und ohne Papiere, wo sie niemand kennt, ihre Eltern sie verleugnen, ihr Mörder sie verfolgt, ihre Identität ausgewechselt wurde. Alles läuft nach Plan zugunsten ihrer Eltern.
Dieter Wellershoff: Der Liebeswunsch.
„Wir waren ein menschliches Mobile – vier Figuren verbunden an unsichtbaren Fäden“, heißt es an einer Stelle des Romans, der aufgrund seiner Konstellation naturgemäß unausweichlich Assoziationen an Goethes 'Wahlverwandtschaften' weckt. Zusammengeführt werden die vier per Zufall durch eine Schlüsselübergabe: Die Studentin Anja übernimmt den leichten Job, während einer vierwöchigen Abwesenheit des Ärztepaares Marlene und Paul das Haus zu hüten. Während man gemütlich im Garten sitzt, kommt ein Freund der Besitzer vorbei, Leonhard, wortgewandter und erfolgreicher Jurist, der Anja während ihrer Hütezeit erst Hilfe bei eventuell auftauchenden Fragen, später fast täglich Gesellschaft anbietet. Aus dem netten Gesprächsarrangement wird eine Verlobung, der eine schnelle Hochzeit folgt. Leonhard, dem Paul einst Marlene ausgespannt hat, ist glücklich, doch noch eine Frau gefunden zu haben, noch dazu eine so junge, die er, wie er glaubt, bilden und nach seinen Vorstellungen formen kann. Doch Anja zeigt sich schon auf der Hochzeitsreise – natürlich Italien – als wenig geeignetes Objekt seiner Lehrversuche. Stets unbeteiligt, nie durchschaubar, innerlich desinteressiert und gleichgültig, aber auch unsicher, stellt sie sich bald als ebenso labil dar wie gesamte Ehe, woran auch das gemeinsame Kind nichts ändern wird. Man bleibt eng mit Marlene und Paul verbunden, auch davon erhofft sich Leonhard eine Stabilisierung seiner Ehe, doch sorgt er letztlich damit nur für eine Annäherung von Anja und Paul. Marlene ist es, die beiden auf die Schliche kommt. Somit geht alles in die Brüche: Leonhards ohnehin unrettbare Ehe mit Anja, aber auch deren Affäre mit Paul, der diese wiederum sofort beendet, weil er hofft, damit seine Beziehung zu Marlene zu retten. Was nicht gelingt. Während sich die Wege aller trennen, die Kontakte untereinander lose werden, geht Anja den schwersten Gang: Sie verliert den Zugang zu ihrem Kind, obwohl Leonhard, immer korrekt, sich ihr gegenüber recht wohlwollend verhält, und driftet ab in die Alkoholsucht, ihre Gleichgültigkeit wird zu einer Gleichgültigkeit allem und ihr selbst gegenüber. Gekonnt und sehr bewegend, gleichzeitig unaufgeregt und mit großem Einfühlungsvermögen in seine Charaktere, deren verschiedene Perspektiven uns Dieter Wellershoff (1925-2018) miterleben lässt, führt er die gescheiterten Beziehungsentwürfe vor, ohne zu ver-urteilen. Schuldzuweisungen gibt es nicht, auch keine Patentlösungen, die verschiedenen Vorstellungen des Liebeswunsches sind nur nicht miteinander zu vereinbaren.
Siegfried Lenz: Duell mit dem Schatten.
Ein ehemaliger Oberst der deutschen Wehrmacht fährt mit seiner Tochter in die lybische Wüste, wo er einst im Afrikafeldzug gekämpft hat. Denn es gibt da noch eine Sache zu klären: Seinen früheren Fahrer, mit dem er vor der Gefangennahme durch die Engländer geflüchtet war, ließ er bei diesem Versuch zu entkommen irgendwann zurück. Auch als er einen Schuss hörte, kehrte er nicht zu der Stelle um, wo er ihn verlassen hatte. Was war aus dem Mann geworden? Und trug der Oberst Schuld? Dies möchte er mit sich selbst ausmachen – zumindest ist das die Version, die er seiner Tochter vorträgt. Zwar alt und inzwischen recht gebrechlich, kaum geeignet für eine anstrengende Suche in der Wüstenhitze, ist der einstige Offizier allerdings kaum ein von Zweifeln oder Reue zerknirschter Rückkehrer an die Stelle einstiger Schuld, um endlich seinen Frieden zu finden. Diktatorisch und rechthaberisch, manipulativ und rücksichtslos treibt er sein Vorhaben voran, seine hilflose und unterwürfige Tochter herumkommandierend und seine Verachtung spüren lassend. Erst als er in der Wüste verlorengeht und sie auf zwei Engländer stößt, die sie auf der Suche nach ihrem Vater unterstützen, gelingt es ihr langsam, sich aus dessen Bann zu befreien und die wahre Geschichte hinter dem Vorfall im Krieg zu erfahren. Ein früher Roman Siegfried Lenz‘ (1926-2014), der sich mit seinem bevorzugten Thema der deutschen Schuld und dem Umgang mit ihr befasst – damals, 1953, nur wenige Jahre zurückliegend und für viele eher ein zu verschweigendes Tabu. Allerdings handelt es sich hier um innerdeutsche Schuld, ein Kameradschaftsverbrechen, das eher die allgemeine Grausamkeit des Krieges entlarvt. Das Buch krankt auch etwas an der Figur des Obersten, der als stereotyp brutaler Kommisskopf, der unsympathischer nicht sein könnte, dargestellt wird und im Gegensatz zu den anderen Figuren in apodiktisch-pathetischen Sätzen spricht. Er ist von Beginn an als geradezu Über-Bösewicht abgestempelt, buchstäblich eine Charge, was die zugrundeliegende Frage der Schuld recht einfach gestaltet, allzu leicht lässt er sich als menschliches Monstrum beiseiteschieben. Diese Charakterisierung eines deutschen Offiziers, der auch sonst alles andere als ein ‚Held‘ ist, war in den 1950er Jahren sicher mutig, zur Debatte aber trägt der ja deutlich auf den genannten Konflikt hin angelegte Roman jedoch letztlich nur wenig bei.
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