Jeremias
Gotthelf: Die schwarze Spinne.
1842,
im Zeitalter des Biedermeier, schreibt ein protestantischer Schweizer
Landpfarrer eine Erzählung, die in einem Berner Dörfchen spielt… Klingt
langweilig? So entstand nicht nur ein Klassiker der deutschsprachigen
Literatur, sondern einer der frühesten und noch immer unter die Haut gehenden
Horrortexte der Weltliteratur. Sicher, das klingt etwas reißerisch und verdeckt
die zahlreichen Qualitäten der „Schwarzen Spinne“, aber falsch ist es nicht,
wie jeder bald erfährt, der das Buch zur Hand nimmt. Es fängt harmlos an, eine
Taufe im Dorf, es wird reichlich gegessen und getrunken, man hat es gemütlich.
Bis man den Großvater nach einer Kuriosität fragt, einem alten Holzstück im
ansonsten neuerrichteten Haus. Dahinter verbirgt sich ein böses Geheimnis. Im
Mittelalter hatten die Dorfbewohner einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, um
eine an sich unerfüllbare Frondienstaufgabe rechtzeitig erledigen zu können.
Das geschieht auch, doch dann wollen die Bauern nichts mehr von der nun
fälligen Forderung des Teufels wissen: ein ungetauftes Kind. Die Frau, die den
Pakt mit ihm im Namen aller geschlossen hat und glaubte, den Teufel überlisten
zu können, entwickelt daraufhin ein Muttermal auf der Wange, das sich zu einer
schwarzen Spinne entwickelt. Dass die Dorfbewohner sie fortan meiden, nutzt
ihnen nichts, das Mal bricht auf und entlässt Tausende von Spinnen, die ins Tal
einfallen und alles Vieh töten. Doch nicht genug, in einem zweiten Schub verwandelt
sich die Frau selbst in eine große schwarze Spinne und beginnt nach und nach
die Bevölkerung zu töten. Ein Entkommen scheint unmöglich… Jeremias Gotthelf
(1797-1854) schuf ein bis heute vielfältig interpretiertes Werk, dass zwar
nicht frei von zeitlichen Einflüssen ist – der Einfluss des Bösen wird stets
vermittelt durch fremde Frauen –, aber noch immer unglaublich fasziniert. In
Gehirne hineinwachsende Spinnenbeine erwartet man nicht unbedingt in einem Werk
des Biedermeier, Gotthelf nutzt gerade den Kontrast mit dem Rahmen der
bäuerlichen Kindstaufe geschickt, um den Schrecken zu steigern, biedermeierlich
beruhigend einlullend ist an diesem kleinen Meisterwerk wahrlich nichts.
Joseph
Conrad: Die Schattenlinie.
Aus
einem unbestimmten Gefühl heraus verlässt ein noch junger Erster Offizier
seinen bisherigen Posten, mustert ab und will in die englische Heimat
zurückreisen, als er unverhofft aufgrund seines guten Rufes und des Mangels an
Kapitänen ein eigenes Kommando über ein Schiff in Südostasien erhält.
Naturgemäß ergreift er diese Chance, reist zu seinem neuen Schiff, das sich als
gut erhaltener Segler herausstellt. Doch birgt es eigene Geheimnisse: wie der
misstrauische Erste Offizier, der wohl selbst gern das Kommando übernommen
hätte, berichtet, starb der Vorgänger des neuen Kapitäns auf See; damit nicht
genug: der offenkundig lebensmüde Offizier wollte vorher noch sich, sein Schiff
und die gesamte Mannschaft zugrunde richten, nur sein Tod verhinderte dies.
Doch der Erste Offizier ist überzeugt, dass der tote Kapitän gleichwohl alles
daran setzen wird, sein wer noch zu vollenden. Tatsächlich erweist sich die
Fahrt als Höllentrip. Während auf dem Ozean Totenstille herrscht, das Schiff
sich in einer extremen Flaute tagelang nicht fortbewegt, befällt die Mannschaft
nach und nach eine Fieberkrankheit, die sie zunehmend reduziert. Der schwer
erkrankte Erste Offizier scheint zudem in eine Art Wahnsinn verfallen und warnt
ständig vor dem Fluch des früheren Kapitäns – nicht zu Unrecht: dieser hat in
der Bordapotheke das lebensrettende Chinin ausgetauscht. Allein auf hoher See,
mit von Tag zu Tag weniger handlungsfähiger Mannschaft, einem verrückten Ersten
Offizier treibt das Schiff auf die Stelle zu, an der der Vorgängerkapitän
seebestattet wurde. Ein Sturm zieht auf… Im Vorwort wehrte sich Conrad
(1857-1924) gegen eine allzu mystifizierende Auslegung seines Buches, die aber
natürlich nicht unbedingt abgestritten werden kann – Conrad selbst empfand
seinen autobiographisch inspirierten Abenteuerroman eher als Schilderung einer
menschlichen Bewährungsprobe. Auch nicht falsch.
Robert
Specht: Tisha.
Zwei
– auch etwas ärgerliche – Kuriositäten vorneweg. Genaugenommen ist der Autor
ein Etikettenschwindel, Robert Specht hat zwar die Erlebnisse der Lehrerin Anne
Hobbs Purdy aufgezeichnet und in erzählerische Form gebracht, ihr sollte aber
zumindest das Recht zustehen, als Mitautorin genannt zu werden – und dies an
erster Stelle. Zweite Seltsamkeit: die deutsche Ausgabe wird als Jugendbuch
verkauft; das mag zwar einerseits die Verwendung als eventuelle Schullektüre
fördern – wogegen nichts spricht – andererseits verbaut man sich hierdurch
einen größeren Leserkreis, den das Buch zweifellos verdient hat, den
erwachsenes Publikum verirrt sich selten in die Jugendbuchabteilung auf der
Suche nach eigener Lektüre. Und das ist schade. Der autobiographische Bericht Anne
Hobbs, die mit 19 eine Stelle an einer Mini-Dorfschule im Alaska des Jahres
1927 antritt, ist ein äußerst lesenswerter Einblick in eine völlig unbekannte
Gesellschaft. Alaska ist zwar seit gut sechzig Jahren Teil der Staaten, aber
nicht nur geographisch weit, weit entfernt von den Roaring Twenties. Die
Menschen leben dort in winzigen Siedlungen oder einzelnen Hütten, oft tagelang
voneinander, im Winter bei Temperaturen von nicht selten unter -50°C. Die
Bewohner setzen sich zusammen aus den ersten Pionieren, gealterten
einzelgängerischen Goldwäschern und Fallenstellern, die ein karges Leben
außerhalb der Siedlungen führen, der nächsten Generation, Familien, die ihr Glück
suchen in den bereits wieder halbzerfallenen Ansiedlungen des Goldbooms und die
Indianer (nicht Eskimos), die durch den Einfluss der Weißen ihr angestammtes
Leben umgestellt haben und dadurch ins Elend geraten sind. Hobbs, ein Landkind
aus dem Herzen der USA, ist dies eine fremde Welt, in der sie sich durchsetzen
muss. Die Menschen sind froh, eine Lehrerin zu haben für ihre Kinder, aus den
Zwängen des Alltags heraus besteht auch eine selbstverständliche
Hilfsbereitschaft, aber auch der Druck, sich den Regeln dieser eingeschworenen
Gemeinschaft zu unterwerfen. Hobbs eckt bald an, als sie die strikte Trennung
von Weißen und Indianern nicht akzeptieren will. Dass diese als anständig
angesehen werden, ändert nichts daran, dass ein tief verankerter Rassismus
gleichzeitig deren Existenz nicht ertragen kann, als Hobbs indianische Kinder
unterrichten will und zuviel Umgang mit einem Halbblut pflegt, bekommt sie den
tiefen Hass mancher Einwohner zu spüren, der auch vor rabiaten Methoden nicht
zurückschreckt. Das besondere an Hobbs Buch ist, dass es keinem
Schwarz-Weiß-Denken unterliegt, es wird keine Verklärung der Indianer
betrieben, deren teils abstoßendes Elend auch als Folge von Unwilligkeit und
Trägheit geschildert wird, noch eine Verurteilung des extrem ambivalenten
Verhaltens vieler Einwohner. Und auch sich selbst gegenüber ist Hobbs durchaus
kritisch, als außenstehende muss sie erkennen, dass sie oft das Denken ihrer
Mitmenschen nicht nachvollziehen kann – sie aber auch sehr viel Verständnis für
deren raue Eigenschaften aufbringt. Insgesamt ein nicht nur spannendes, sondern
sehr einsichtsvolles Buch, das den Leser*innen viel Raum zum eigenen Urteil
lässt. Das ist gut für die Jugend, aber auch für alle anderen.
konrad
bayer: das gesamtwerk.
es hat zumeist traurige gründe, wenn ein „gesamtwerk“ nur einen noch dazu mit gut 400 seiten nicht sonderlich umfangreichen einzelband umfasst. das gilt naturgemäß auch für konrad bayer (1932-1964) – siehe die Lebensdaten –, mitglied der in den fünfziger jahren etablierten, heute legendären „wiener gruppe“ um h.c.artmann, friedrich achleitner, oswald wiener, gerhard rühm und eben konrad bayer, die im anschluss an den expressionismus, dadaismus und surrealismus experimentelle literatur schuf, die sich vor allem auf die sprache in allen varianten konzentrierte. nicht unbedingt leicht lesbare hausmannskost, wie auch bayer zeigt, der hauptsächlich kurze texte für die bühne, prosaskizzen, ein paar gedichte und einen unvollendeten roman hinterließ, die gerhard rühm im vorliegenden band gesammelt hat. mal amüsant, mal makaber, mal spracharmut entlarvend, ist heute kaum mehr nachvollziehbar, welche skandalkraft solche texte in den fünfziger jahren noch hatten – nicht weil sie gealtert wären – obwohl diese literaturform heute kaum mehr gepflegt, geschweige denn gelesen wird –, sondern weil sie kaum mehr erregungspotential besitzt. heute ist sie längt literaturgeschichte, mit allen konsequenzen. und immer noch der beweis, dass konsequente kleinschreibung das lesevergnügen nicht stört.
Hanna
Johansen: Die stehende Uhr.
Eine
Frau in einem Zug, der wohin auch immer fährt, vielleicht vorwärts, vielleicht
rückwärts, vielleicht aber auch gar nicht. Mitfahrer und Mitfahrerinnen tauchen
auf, verschwinden wieder, lassen Gepäckstücke mit seltsamen Inhalten zurück.
Mehr geschieht nicht in Hanna Johansens (geboren 1939) kurzem Roman und selbst
das klingt in der Zusammenfassung noch spannender als das Buch tatsächlich ist.
Ein typisches Produkt der endenden Siebziger Jahre, schon den schrecklichen
politisch enttäuschten Selbstbespiegelungssubjektivismus der Achtziger
vorwegnehmend; bestes Kennzeichen: fast jeder zweite Satz ist eine Frage. Eine
auf gut 170 Seiten ausgewalkte Metapher von der allgegenwärtigen Unsicherheit.
Nur der Titel ist perfekt: Man hat beim Lesen das Gefühl, kein bisschen
voranzukommen. Zäh und langweilig, zu gewollt metaphysisch.
Sylvie
Germain: Das Buch der Nächte.
Dass
man – bzw. Frau – in den 1980er Jahren, zumindest im Nachbarland, ganz anders
schreiben konnte, bewies Sylvie Germain (geboren 1954) mit ihrem fulminanten
Debüt von 1984, das bezeichnenderweise erst 1991 auf deutsch erschien. Wäre
Germain Lateinamerikanerin, würde man sie sicher dem magischen Realismus
zuordnen, so könnte man eher, um an die französische Tradition anzuknüpfen, von
einem symbolischen Realismus sprechen, verwoben mit der des Familienromans, den
geschildert wird das Leben der Familie Péniel aus dem Norden, einst
Kanalschiffer, dann nach dem Ende dieses Metiers zwangsläufig auf dem Land
sesshaft geworden. Im kargen, rauen Außenseiterleben besteht der harte
Realismus des Buches, zeitlich abgesteckt durch die drei – von den Deutschen
ins Land getragenen – Kriege von 1870 bis 1945. Doch die Péniels sind nicht nur
gekennzeichnet durch ihre Herkunft vom Wasser und einer stetigen Unruhe, die
das einstige Leben ständiger Bewegung in ihnen zurückgelassen hat, sie alle
besitzen sprechende Beinamen und außergewöhnliche Merkmale, blonde Schatten,
Goldflecken in den Augen, blutende Muttermale, Buckel und ähnliches, manches
vererbt, manches individuell. Ihr Leben ist oft geprägt von Extremen, etwa dem
Fluch, ihren Ehefrauen den Tod zu bringen, nur Zwillinge zu gebären, auf ewig
zu verstummen oder einfach ins Nichts zu verschwinden. Über allem schwebt aber
eine Abfolge von Unglücken, Nächte, wie der Titel sie nennt. Germains Buch ist
zugleich von großer poetischer Kraft und sprachlicher Schönheit, die jedoch das
äußerst düstere Geschehen, das sie erzählt, nur bedingt abmildert. Große,
innige Liebe wird in diesem Buch nicht selten auf schreckliche, brutale Weise
zerstört. Ein unglaublich eindringliches Meisterwerk.
Joanna
Bator: Sandberg.
Sandberg,
Piaskowa Góra, ist eine neue Plattenbausiedlung der Stadt Walbrzych in
Westpolen, errichtet vor allem für die verdienten Bergmänner, denen in dem riesigen Hochhaus moderne Wohnungen zugeteilt werden. So auch Stefan und Jadzia Chmura und deren Tochter Dominika, dem Mittelpunkt dieser Familiensaga aus dem Nachkriegspolen, die sich über ihre Personen weit verzweigt zwischen den Ereignissen des Krieges und dem Untergang des Kommunismus. Dazu kommen die Geschichten der Mitbewohner und Nachbarn, der kurz- und langfristigen Ehe- und Liebespartner, die alle mit den Chmuras verbunden sind. Es ist eine Gesellschaft der größtmöglichen Tristesse, ohne dass Bator (geboren 1968), eine der führenden Autorinnen Polens, in einen voyeuristischen Blick auf soziales Elend verfällt; ihre Personen entstammen auch nicht den untersten Schichten, sondern eher einem kleinbürgerlichen Milieu, Menschen mit Träumen – Ansehen, Aufstieg, Urlaub – die sich nie erfüllen. Der Grund ist oft das Scheitern an sich selbst, nicht weniger aber auch Neid und Missgunst, Opportunismus und Korruptheit. Bator geht mit dem Schicksal ihrer Figuren wenig gnädig um, erspart auch den Leser*innen nichts, und doch ist das Buch bei aller Vergeblichkeit keine der Depression verfallende Lektüre, sondern ein mitfühlendes, spannendes, sogar amüsantes Werk. Das liegt naturgemäß an der Erzählkunst der Autorin, an den lebendigen Personen, die sie nicht vorführt, sondern menschlich zeigt, wobei die Frauen zwar die größeren Träume haben, die ihnen nicht selten von (ihren) Männern zerstört werden, sie sind aber auch überlebensfähiger, die meisten der Männer in dem Buch sterben früh und recht unschön. Für das deutsche Publikum gibt es zudem interessante Aspekte, über die selten nachgedacht wird. Die Neubewohner Schlesiens, zu dem auch Walbrzych gehört, sind selbst Vertriebene aus dem annektierten Ostpolen, sie sind fremd in fremden Wohnungen, die noch voll sind von deutschen Rückständen. Ungute Erinnerungen an die Fritze. Zunehmend werden aber die Deutschen, natürlich nur die der „Be-eR-De“, zum sehnsüchtigen Versprechen, als Arbeitgeber, als Schwiegersöhne. Ein Buch, durch das man auf bestmögliche Weise viel erfahren kann über unser Nachbarland, über Unterschiede und viel Gemeinsames.
Westpolen, errichtet vor allem für die verdienten Bergmänner, denen in dem riesigen Hochhaus moderne Wohnungen zugeteilt werden. So auch Stefan und Jadzia Chmura und deren Tochter Dominika, dem Mittelpunkt dieser Familiensaga aus dem Nachkriegspolen, die sich über ihre Personen weit verzweigt zwischen den Ereignissen des Krieges und dem Untergang des Kommunismus. Dazu kommen die Geschichten der Mitbewohner und Nachbarn, der kurz- und langfristigen Ehe- und Liebespartner, die alle mit den Chmuras verbunden sind. Es ist eine Gesellschaft der größtmöglichen Tristesse, ohne dass Bator (geboren 1968), eine der führenden Autorinnen Polens, in einen voyeuristischen Blick auf soziales Elend verfällt; ihre Personen entstammen auch nicht den untersten Schichten, sondern eher einem kleinbürgerlichen Milieu, Menschen mit Träumen – Ansehen, Aufstieg, Urlaub – die sich nie erfüllen. Der Grund ist oft das Scheitern an sich selbst, nicht weniger aber auch Neid und Missgunst, Opportunismus und Korruptheit. Bator geht mit dem Schicksal ihrer Figuren wenig gnädig um, erspart auch den Leser*innen nichts, und doch ist das Buch bei aller Vergeblichkeit keine der Depression verfallende Lektüre, sondern ein mitfühlendes, spannendes, sogar amüsantes Werk. Das liegt naturgemäß an der Erzählkunst der Autorin, an den lebendigen Personen, die sie nicht vorführt, sondern menschlich zeigt, wobei die Frauen zwar die größeren Träume haben, die ihnen nicht selten von (ihren) Männern zerstört werden, sie sind aber auch überlebensfähiger, die meisten der Männer in dem Buch sterben früh und recht unschön. Für das deutsche Publikum gibt es zudem interessante Aspekte, über die selten nachgedacht wird. Die Neubewohner Schlesiens, zu dem auch Walbrzych gehört, sind selbst Vertriebene aus dem annektierten Ostpolen, sie sind fremd in fremden Wohnungen, die noch voll sind von deutschen Rückständen. Ungute Erinnerungen an die Fritze. Zunehmend werden aber die Deutschen, natürlich nur die der „Be-eR-De“, zum sehnsüchtigen Versprechen, als Arbeitgeber, als Schwiegersöhne. Ein Buch, durch das man auf bestmögliche Weise viel erfahren kann über unser Nachbarland, über Unterschiede und viel Gemeinsames.
Anonymus:
Die lüsterne Gouvernante.
Wir
erinnern uns an den letzten Monat, als wir in Zusammenhang mit Andrea de Nérciat auf Eco verwiesen, der den Unterschied zwischen Erotik und Pornographie
in Literatur mit dem Vorhandensein einer erkennbaren Handlung charakterisierte.
Nun, das Buch dieses Anonymus, erschienen in der Reihe Heyne Exquisit, einem
typischen Kind der 1970er Jahre, hat zwar einen bekloppten Titel, aber eben
auch eine Handlung: Die junge Journalistin Ann bekommt von ihrem Chefredakteur
und Teilzeitgeliebten einen Auftrag, der ihr den Aufstieg in der Redaktion
garantieren soll. Die Motive sind unedel: Ihr Chef möchte sich an einem Richter
rächen, der ihn wegen seiner Eskapaden mit Minderjährigen, zu einer Geldstrafe
verurteilt hat. Ann soll nun Schmutziges im Leben des Juristen ausfindig
machen. Doch da gibt es nichts, der ältere Herr ist ein freundlicher,
unbescholtener Mitbürger, wie Ann, die sich als Gouvernante bei ihm einschleicht,
bald herausfindet. Auch der verwitwete Sohn scheint zwar ein charmanter
Schwerenöter zu sein, aber dies allein ist schließlich nicht strafbar. Anns
Chef wird ungeduldiger, ihr Vorhaben droht zu scheitern. Soweit die Handlung,
die also porno-untypisch ist, wie übrigens auch der Verzicht auf allzu viel
Anatomie. Ann wird zwar als selbständige Frau der Zwischenkriegszeit
apostrophiert, die einfach Lust am Sex hat, so ganz plausibel erscheint das
nicht, da sie sich, um ihre Aufgaben zu erfüllen, dann doch stets deren Willen
beugt. Ziemlich schmalspurig ist auch ihre psychologische Motivation, die
jedesmal doch ziemlich abrupt wechselt. Und dass sie am Schluss mit der Köchin
durchbrennt, ist auch nur bedingt emanzipatorisch, abgesehen davon, dass sie
ohnehin nicht bereit ist, die Männer völlig aufzugeben. Dass der oder die
Autorin aus den 1920er Jahren meinte, lieber anonym bleiben zu wollen, ist heute
kaum noch nachzuvollziehen. Das Buch ist zwar sicher noch immer keine
Kindergartenlektüre, aber doch vergleichsweise brav. Im Verbund mit einer
immerhin halbwegs spannenden Geschichte ist das vielleicht sogar der Grund,
warum man es auch heute noch lesen kann.
Yasushi
Inoue: Das Jagdgewehr.
Ein
früherer Schulkamerad, nun Redakteur einer Jägerverbandszeitschrift, bittet den
mit ihm befreundeten Ich-Erzähler, um ein Gedicht zum Thema Jagd. Dieser
schickt ein in modernem Stil gehaltene, reimlose melancholische Betrachtung,
die tatsächlich abgedruckt wird. Anfangs erwartet der Dichter noch mindestens
verstörte Reaktionen der Leser, doch nichts geschieht, bis nach über zwei
Monaten doch ein Brief eintrifft. Der keineswegs empörte, sondern tief
betroffene Leser, der sich selbst als der Mann zu erkennen gibt, der durch
reinen Zufall das Gedicht inspiriert hat, sieht in dem Dichter eine
Möglichkeit, Verständnis zu gewinnen für eine ihn nicht mehr verlassene Schuld.
Er schickt ihm drei Briefe, die er erhalten hat: von seiner Nichte, von deren verstorbener
Mutter – seiner Geliebten – und von seiner Ehefrau, der Betrogenen. Die
Geschichte eines Vergehens - Ist es eines? Und an wem und vom wem wurde es
begangen? – aus der Sicht von drei betroffenen Frauen. Die Erzählung Yasushi
Inoues (1907-1991) ist ein Klassiker der modernen japanischen Literatur, der
auch im Westen auf große Resonanz traf.
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