Montag, 28. Oktober 2019

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (13) - José Lezama Lima: Paradiso.


José Lezama Lima: Paradiso. st 2708

Julio Cortázar hat den 1966 erschienenen Roman, der ähnlich seines eigenen Rayuela, zu den großen, aber einem weiten Publikum eher unbekannt geblieben Gründungstexten der lateinamerikanischen Literaturerfolge gehört, auf das Höchste geschätzt. Er war nicht der einzige: Paradiso des Kubaners José Lezama Lima (1910-1976) entfaltete unter den Romanciers Mittel- und Südamerikas einen enormen Einfluss, so gut wie jeder der in den folgenden Jahren mit dem Literaturnobelpreis geehrten von dort stammenden Autoren berief sich auf das Buch, von Octavio Paz bis Mario Vargas Llosa.
Der Roman selbst ist ein Paradies – allerdings keines das frei von Sünden oder gar dem Tod wäre, einem der Hauptmotive des Buches –, wenn man darunter einen Garten der Fülle versteht. Er ist ein Paradies an Wissen, an gedanklichem Reichtum, ein intellektuelles Sammelsurium, dessen Spektrum Bereiche erfasst und vereint, die von der lateinamerikanischen Geschichte und Politik, von der Theologie und dem esoterisch-archaischen Aberglauben, von der Philosophie Nietzsches, Aristoteles, Thomas von Aquins ebenso handeln wie von Kochkünsten, Homosexualität, den Militärs in Mittelamerika und den Exilkubanern in den Vereinigten Staaten. Alle Themen gehen durch ihre Verbindung in endlosen Verzweigungen, Zersplitterungen und Wiederbegegnungen auf, in denen die Heilsgeschichte, die Hausgeschichte und die auf ein fließendes Schicksal projizierten Bildkoordinaten zusammentrafen (90). Eine Beschreibung, die sich eigentlich auf die komplexen Familienverhältnisse der Hauptfigur José Cemí bezieht, doch nicht minder auf den Roman anwenden lässt – in dem immer wieder solche zweideutigen selbstreferentiellen Bemerkungen anzutreffen sind.
Denn – unter anderem – ist Paradiso ein Familienroman, wenn auch ganz sicher kein traditioneller, so wenig, wie das Paradies, die geschilderte Kindheit, Schul- und Studentenzeit José Cemís einen sorglosen und gottbehüteten Garten Eden darstellt. Sollte man in die Falle der Erinnerung geraten, der Verklärung, wird man allzu schnell ernüchtert: das sind Augenblicke falscher Fülle, bald sehen wir, dass sie auf Stilisierungen beruhen und in einem Schirmständer Halt suchen (110), das brutale Terpentin der Zeit hat die Erinnerung vermindert, verkleinert und zuletzt in dieser einzigen Geste zusammengefasst, als wäre sie ein Käfig mit offener Tür, um einen Vogel zu fangen (110). Und wie das Leben im Käfig seine Vor- und Nachteile für den Insassen hat, so auch das Gedächtnis, es macht unfrei und birgt Gefahren, beschränkt die Wahrnehmung und ist doch bequem, ein nach außen hin geschützter Zufluchtsort, der Trost durch – täuschende – Verlässlichkeit spendet: Nach dem Tod ihres Sohnes Andresito bestand ihr Beitrag zur Unterhaltung im stetigen Heraufrufen seiner Person. Sie umgab sich mit einem Schwarm von Erinnerungen, die erschöpfte Gegenwart glitt unvermittelt in die Vergangenheit über. Sobald sie José Eugenio sah, zog sie ihn in ihr Rückwärtsdenken hinein, in diese Unbestimmtheit rings um die Hauptströmung, die aus der Vergangenheit aufstieg. Sich an alles so zu erinnern, dass die einzig vollständige Erinnerung abgedrängt wurde, dass sie, die alles begleitete, nicht eindrang (155).
Der Tod, es wurde schon erwähnt, ist ein wiederkehrendes Motiv des Romans, was einen bei einer, noch dazu so personreichen Familiengeschichte, kaum verwundern mag, und doch kommt er – für Leser*innen und Betroffene – oft unvermittelt. Gerade die anfangs bestimmende Hauptperson, der Vater José Cemís, ein Oberst von fröhlicher Strenge, er schien seine Frau und seine drei Kinder auf den Pfaden seines entschlossenen Blutes vor sich her zu treiben, auf denen alles durch Fröhlichkeit und Klarheit und geheime Kraft erreichbar zu sein schien (22). Zu sein schien. Denn das Leben dieser erzkreolischen Titanengestalt, dieses Erhalters (269), endet kläglich an einer Krankheit im Alter von nur 33 Jahren, die Fülle der empfangenen Gaben, der Freude am genau geübten Handwerk, seine Art, das Schicksal der Familie wie ein junger Christophorus zu tragen, waren in der Einsamkeit des Lazaretts erloschen, im ungeselligen Tod, in einem verstümmelten, unauslotbaren Geschick (217). Ferne von allem: Familie, Freunde, einem für einen Militär als ehrenhaft betrachten Sterben. Vertreibung aus dem Leben. Es ist nicht der einzige Tod dieser Art im Roman.
Cemí, der Havannenser aus der Stadtmitte, der genügend Zeit hat, um jedes einzelne Ding, und mag es noch so unbedeutend sein, nach allen Seiten zu durchleuchten (406), gibt damit ein Verfahren für den Text vor, das sich insbesondere in den hochgelehrten, alles andere als ironiefreien Unterhaltungen mit seinen beiden widersprüchlichen Freunden Fronesis und Foción widerspiegelt, dem detailreichen und tiefdringenden Betrachten eines Gegenstandes in jedem Sinne des Wortes, das zugleich dem Austarieren des schwierigen Dreiecksverhältnisses der drei jungen Männer zu- und untereinander dient. Die Gespräche sind auch symptomatisch für ein an Joyce geschultes Changieren zwischen verschiedenen Stilen und Literatursprachen, wie es sich in zahlreichen Kapiteln des Textes findet, der in manchen Passagen wie ein klassischer realistischer Familienroman daherkommt, dann wieder wie ein philosophischer Essay oder ein sokratischer Dialog. Ein herausragendes Beispiel ist das VIII. Kapitel, welches zwischen ebenso poetischen wie obszönen, grotesken wie ironischen Beschreibungen von (homo)sexuellen Praktiken abwechselt. Was an Limas Roman wohl – auch noch in der Übersetzung – am meisten beeindruckt, ist sein Umgang mit Sprache. Das Spielfeld der Worte (392) wird von ihm auf das Virtuoseste genutzt, Paradiso ist ohne Zweifel auch ein Paradies der Sprache. Dadurch wird es zum Genuss, doch ist es mit Paradiesen so eine Sache. Auch wenn man sich nach ihnen sehnt, sind sie schwer zugänglich. Dass Limas Romanwelt leicht und unbeschwert zu betreten sei, wäre eine Illusion, doch wer sich in dieses nur scheinbar verschlossene Paradies vorwagt, wird reichlich belohnt werden.      

Vorgänger (Teil 12): Ingeborg Bachmann - Malina.

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