José Lezama
Lima: Paradiso. st 2708
Julio Cortázar
hat den 1966 erschienenen Roman, der ähnlich seines eigenen Rayuela, zu
den großen, aber einem weiten Publikum eher unbekannt geblieben Gründungstexten
der lateinamerikanischen Literaturerfolge gehört, auf das Höchste geschätzt. Er
war nicht der einzige: Paradiso des Kubaners José Lezama Lima
(1910-1976) entfaltete unter den Romanciers Mittel- und Südamerikas einen
enormen Einfluss, so gut wie jeder der in den folgenden Jahren mit dem
Literaturnobelpreis geehrten von dort stammenden Autoren berief sich auf das
Buch, von Octavio Paz bis Mario Vargas Llosa.
Der Roman selbst
ist ein Paradies – allerdings keines das frei von Sünden oder gar dem Tod wäre,
einem der Hauptmotive des Buches –, wenn man darunter einen Garten der Fülle
versteht. Er ist ein Paradies an Wissen, an gedanklichem Reichtum, ein
intellektuelles Sammelsurium, dessen Spektrum Bereiche erfasst und vereint, die
von der lateinamerikanischen Geschichte und Politik, von der Theologie und dem
esoterisch-archaischen Aberglauben, von der Philosophie Nietzsches,
Aristoteles, Thomas von Aquins ebenso handeln wie von Kochkünsten, Homosexualität,
den Militärs in Mittelamerika und den Exilkubanern in den Vereinigten Staaten.
Alle Themen gehen durch ihre Verbindung in endlosen Verzweigungen,
Zersplitterungen und Wiederbegegnungen auf, in denen die Heilsgeschichte, die
Hausgeschichte und die auf ein fließendes Schicksal projizierten
Bildkoordinaten zusammentrafen (90). Eine Beschreibung, die sich eigentlich
auf die komplexen Familienverhältnisse der Hauptfigur José Cemí bezieht, doch
nicht minder auf den Roman anwenden lässt – in dem immer wieder solche
zweideutigen selbstreferentiellen Bemerkungen anzutreffen sind.
Denn – unter
anderem – ist Paradiso ein Familienroman, wenn auch ganz sicher kein
traditioneller, so wenig, wie das Paradies, die geschilderte Kindheit, Schul-
und Studentenzeit José Cemís einen sorglosen und gottbehüteten Garten Eden
darstellt. Sollte man in die Falle der Erinnerung geraten, der Verklärung, wird
man allzu schnell ernüchtert: das sind Augenblicke falscher Fülle, bald
sehen wir, dass sie auf Stilisierungen beruhen und in einem Schirmständer Halt
suchen (110), das brutale Terpentin der Zeit hat die Erinnerung vermindert,
verkleinert und zuletzt in dieser einzigen Geste zusammengefasst, als wäre sie
ein Käfig mit offener Tür, um einen Vogel zu fangen (110). Und wie das
Leben im Käfig seine Vor- und Nachteile für den Insassen hat, so auch das
Gedächtnis, es macht unfrei und birgt Gefahren, beschränkt die Wahrnehmung und
ist doch bequem, ein nach außen hin geschützter Zufluchtsort, der Trost durch –
täuschende – Verlässlichkeit spendet: Nach dem Tod ihres Sohnes Andresito
bestand ihr Beitrag zur Unterhaltung im stetigen Heraufrufen seiner Person. Sie
umgab sich mit einem Schwarm von Erinnerungen, die erschöpfte Gegenwart glitt
unvermittelt in die Vergangenheit über. Sobald sie José Eugenio sah, zog sie
ihn in ihr Rückwärtsdenken hinein, in diese Unbestimmtheit rings um die
Hauptströmung, die aus der Vergangenheit aufstieg. Sich an alles so zu
erinnern, dass die einzig vollständige Erinnerung abgedrängt wurde, dass sie, die
alles begleitete, nicht eindrang (155).
Der Tod, es
wurde schon erwähnt, ist ein wiederkehrendes Motiv des Romans, was einen bei
einer, noch dazu so personreichen Familiengeschichte, kaum verwundern mag, und
doch kommt er – für Leser*innen und Betroffene – oft unvermittelt. Gerade die
anfangs bestimmende Hauptperson, der Vater José Cemís, ein Oberst von
fröhlicher Strenge, er schien seine Frau und seine drei Kinder auf den Pfaden
seines entschlossenen Blutes vor sich her zu treiben, auf denen alles durch Fröhlichkeit
und Klarheit und geheime Kraft erreichbar zu sein schien (22). Zu sein
schien. Denn das Leben dieser erzkreolischen Titanengestalt, dieses
Erhalters (269), endet kläglich an einer Krankheit im Alter von nur 33
Jahren, die Fülle der empfangenen Gaben, der Freude am genau geübten
Handwerk, seine Art, das Schicksal der Familie wie ein junger Christophorus zu
tragen, waren in der Einsamkeit des Lazaretts erloschen, im ungeselligen Tod,
in einem verstümmelten, unauslotbaren Geschick (217). Ferne von allem:
Familie, Freunde, einem für einen Militär als ehrenhaft betrachten Sterben.
Vertreibung aus dem Leben. Es ist nicht der einzige Tod dieser Art im Roman.
Cemí, der Havannenser aus der Stadtmitte, der genügend Zeit hat, um
jedes einzelne Ding, und mag es noch so unbedeutend sein, nach allen Seiten zu
durchleuchten (406), gibt damit ein Verfahren für den Text vor, das sich
insbesondere in den hochgelehrten, alles andere als ironiefreien Unterhaltungen
mit seinen beiden widersprüchlichen Freunden Fronesis und Foción widerspiegelt,
dem detailreichen und tiefdringenden Betrachten eines Gegenstandes in jedem
Sinne des Wortes, das zugleich dem Austarieren des schwierigen
Dreiecksverhältnisses der drei jungen Männer zu- und untereinander dient. Die
Gespräche sind auch symptomatisch für ein an Joyce geschultes Changieren
zwischen verschiedenen Stilen und Literatursprachen, wie es sich in zahlreichen
Kapiteln des Textes findet, der in manchen Passagen wie ein klassischer
realistischer Familienroman daherkommt, dann wieder wie ein philosophischer
Essay oder ein sokratischer Dialog. Ein herausragendes Beispiel ist das VIII.
Kapitel, welches zwischen ebenso poetischen wie obszönen, grotesken wie
ironischen Beschreibungen von (homo)sexuellen Praktiken abwechselt. Was an
Limas Roman wohl – auch noch in der Übersetzung – am meisten beeindruckt, ist
sein Umgang mit Sprache. Das Spielfeld der Worte (392) wird von ihm auf
das Virtuoseste genutzt, Paradiso ist ohne Zweifel auch ein Paradies der
Sprache. Dadurch wird es zum Genuss, doch ist es mit Paradiesen so eine Sache.
Auch wenn man sich nach ihnen sehnt, sind sie schwer zugänglich. Dass Limas
Romanwelt leicht und unbeschwert zu betreten sei, wäre eine Illusion, doch wer
sich in dieses nur scheinbar verschlossene Paradies vorwagt, wird reichlich
belohnt werden.
Vorgänger (Teil 12): Ingeborg Bachmann - Malina.
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