Rose
Tremain: Melodie der Stille.
Die
Jahre 1629/30 am dänischen Königshof, wo der melancholische Träumer Christian
IV. regiert, der einerseits von Ideen beseelt ist, die er – wie seine
Schlossbauten – in die Tat umsetzt, andererseits politisch wie privat
unglücklich agiert, er verliert gegen die katholische Liga im Reich, er
ruiniert den Staatshaushalt, er deckt die Betrügereien seiner Gattin auf. Rose
Tremain (geboren 1943), Britin, verwebt persönliche Schicksale um Christians
Hof auf äußerst kunstvolle Weise in ihrem klugen historischen Roman, der seinem
Titel alle Ehre macht, denn er widmet sich den Ereignissen auf ruhige, trotzdem
spannende Art, in der die liebevoll geschilderten Personen – selbst die
bösartigeren – bei Leser und Leserin Sympathie erwecken. König Christian liebt
es, seine Gäste durch indirekte Musik zu verblüffen. Rose Tremain verblüfft durch
ihr stilles Schreiben, hinter dem großes Können nicht nur zu erahnen ist.
Marie
Hermanson: Muschelstrand.
Was
soll man über Marie Hermanson (geboren 1956) schon sagen? Marie Hermanson ist
Marie Hermanson ist Marie Hermanson. Oder anders: eine literarische Göttin. Die
Schwedin besitzt die Fähigkeit, unglaublich Spektakuläres im positiven Sinne
unglaublich unspektakulär zu erzählen. Schreckliche, groteske und bizarre
Ereignisse treten in den Alltag der Gegenwart, ständig kommt es zu
verblüffenden Wendungen, unerklärlichen Vorkommnissen, traurigen Ereignissen
und doch verfallen Hermansons Geschichten nie dem plump Sensationellen oder der
billigen Kolportage. Dies liegt an den zahlreichen Künsten der Autorin, die
eine äußerst genaue Beobachterin (und Beschreiberin) ist, in deren Texten
selbst die abseitigste Nebenbemerkung ihren genauen Platz hat, wo alles mit
allem verknüpft ist, aber nichts mit oberflächlichen Erklärungen abgehandelt
wird, wo die Figuren mit Sympathie geschildert werden, wie seltsam sie sich
auch verhalten mögen. Dies alles gilt naturgemäß auch für „Muschelstrand“,
Hermansons berühmtestem Roman. Ulrika, eine Ethnologin, reist mit ihren beiden
Kindern zu den Sommerhäusern, wo sie einst die Sommer ihrer Kindheit und Jugend
verbrachte. An besagtem Muschelstrand finden sie durch Zufall ein menschliches
Skelett. In Rückblenden erinnert sich Ulrika an die Ferien vor gut 25 Jahren,
als bei der Nachbarsfamilie ein Kind verschwand. Doch dieses ist nicht das
Skelett – denn das Kind kehrte auf mysteriöse Weise wieder. Als mit Hermanson
Vertrauter ist man etwas überrascht, dass die Parallelgeschichte, Kristinas
Biographie, die Erklärung für dieses Geschehen zu liefern scheint. Was
natürlich – es ist eben doch ein Hermanson – nicht der Fall ist. Aber die
Pointen sollen nicht verraten werden. Marie Hermanson gehört zu den
Schriftsteller*innen, zu denen man greift, wenn man verlässlich intelligent und
extrem spannend auf hohem Niveau unterhalten werden will. Suchtfaktor.
Wie
schreibt man über die fortschreitende Alzheimerkrankheit des eigenen Vaters?
Zahlreiche Gefahren tun sich auf: weinerlich-sentimentale Betroffenheitsprosa,
ein Ratgebertonfall, der Bescheidwissen vorgaukelt, oder eine Distanzierung in
nüchternem, quasi-klinischem Ton. Hinzukommt bei solch einem persönlichen und
sehr intimen Thema (ähnlich wie in der Tagebuch- und Briefliteratur) ein
möglicher Voyeurismus – noch dazu, wenn man eine öffentliche Person ist wie
Arno Geiger (geboren 1968), immerhin der erste Träger des Deutschen
Buchpreises. Gerade weil Geiger ein reflektierter Schriftsteller ist, entgeht
er diesen Fallen, weder schreibt er einen dokumentarischen Bericht, noch ein
Tagebuch des Verfalls, keinen nostalgischen Rückblick auf das Leben des Vaters
– auch wenn sein Buch naturgemäß durchaus solche Elemente enthält, entzieht
sich die Schilderung der Wirkung der seit vielen Jahren voranschreitenden
Krankheit gängigen Mustern. Geiger beschönigt nichts, dramatisiert aber auch
nicht, er schreibt eine äußerst liebevolle Hommage an den Vater, ohne zu
verklären, weder die alten noch die krankheitsbedingten Konflikte werden
verschwiegen. Und auch ratgeberhaft ist das Buch nicht, da Geiger eine an und
für sich banale, aber oft übersehene Erkenntnis betont: da Alzheimer das Gehirn
und damit den Sitz unserer Persönlichkeit angreift, lassen sich – anders als
etwa bei Leberkrankheiten – keine allgemeinen Aussagen treffen. Auch bei Geiger
ist die immer umfassender werdende Betreuung des Vaters schwierig, doch die
ursprüngliche Persönlichkeit August Geigers, die durch die Reduktion teils
geradezu verstärkt wird, seine Selbstgenügsamkeit, seine fast buchstäbliche
Bodenständigkeit und seine mit Humor gepaarte Gelassenheit ermöglichen auch
eine neue Verbundenheit – ein tröstlicher Effekt, der die entfremdete Familie
wieder enger zusammenschweißt. Wie gesagt, die Verläufe sind verschieden, auch
Geigers Vater hat Momente des Verdämmerns, der Aggression, aber Geigers Buch
mahnt dazu, sich auf die neue Welt des Erkrankten einzulassen, zu begreifen,
dass hier etwas Neues, Unumkehrbares entsteht, dass in aller Unzugänglichkeit
und Fremdheit akzeptiert werden muss, um den zugegeben schwierig Umgang
miteinander zu ermöglichen. Und so wenig man es angesichts des Themas glauben
mag, das Buch besitzt auch einen – sicher etwas traurigen, aber deutlichen
vorhandenen – Humor. „Der alte König in seinem Exil“ ist ein großes Werk, ein
wichtiges Buch, das jedem empfohlen sei zu lesen.
„Der
Schatten des Windes“ mutierte kurz nach seinem Erscheinen 2001 sehr schnell zu
einem internationalen Bestseller mit Millionenauflage. Kein Wunder, vereint der
Spanier Zafón (geboren 1964) doch gekonnt den klassischen Schauerroman mit
Kolportage und Thriller. Deswegen erleben wir hier alles, was man erwarten
darf: ein mysteriöses Buch im Buch mit geheimnisvollem Autor, skurrile Figuren,
verfallende Villen, Särge in versteckten Krypten, einen ultrabösen Schurken,
eine Liebesgeschichte, Kapitel, die mit der Ankündigung des eigenen Todes
enden, schöne Frauen, hässliche Intrigen, großstädtisches Flair – und was nicht
noch alles, was hier nicht verraten werden darf. Nun, wenn es so einfach wäre,
würden wir alle Beststeller nach diesem Rezept schreiben – natürlich gehört ein
ordentliches Talent dazu, diese Elemente zu verknüpfen und das Ganze auf einem
sprachlich lesbaren Niveau zu erzählen. Ohne Zweifel ist dies Zafón gelungen.
Sein Roman ist ein flüssiges, ungemein spannendes Buch mit vielen Wendungen,
Rätseln und Figuren zum Gernhaben (und Hassen). Das Frauenbild ist etwas
altbacken – sie sind nur Ergänzungsfiguren zu den handelnden Männern – und der
politische Hintergrund des Spanischen Bürgerkrieges bleibt reichlich diffus. Die
spanische Literatur wird das Buch nicht revolutionieren, aber ein
unterhaltsamer Lesespaß ist es allemal.
Es
steht Roman auf dem Umschlag, doch eigentlich ist „König Alkohol“ ein
autobiographischer Großessay. London (1876-1916) schildert seine Erlebnisse mit
dem Alkohol seit Kindertagen, als er – mit fünf Jahren – seinen ersten
versehentlichen Vollrausch hatte. Das Buch ist sein Plädoyer gegen den
verderblichen Einfluss des Alkohols, dem er sich selbst nie entziehen konnte –
nun war aber London keineswegs ein Schweralkoholiker, diesen Fall (hervorragend
geschildert in Hans Falladas „Der Trinker“) hält er nicht ganz zu Unrecht, weil
klinisch, auch für nicht repräsentativ, sondern London war ein
Gesellschaftstrinker, der oft sehr lange abstinente Phasen hatte, in denen er
nicht nur keinen Tropfen anrührte, sondern ihm das Verlangen danach völlig
abging. Die Gefahr und die Macht des Alkohols sah London also in dessen
Fähigkeit, sozial verbindend zu sein, vereinfacht gesagt: beim gemeinsamen
Gläschen sitzt es sich angenehmer, man kommt leichter ins Gespräch, man hat
etwas Verbindendes. Erst später tritt auch bei London der Spezialfall auf, dass
er glaubt, ohne das tägliche Pensum mangele es ihm an kreativer Kraft – er
bezieht das allerdings auch auf körperliche Kräfte, wenn etwa der Alkohol
schwere Arbeit erträglicher macht. London sah nur eine Hoffnung: die Frauen. Sie
allein hielt er für fähig, die Prohibition durchzusetzen. Dass diese letztlich
ebensowenig Erfolg haben würde, musste London nicht mehr erleben: er starb
vierzigjährig. Über die Todesursache bestehen bis heute Zweifel – dass der
Alkohol dabei eine Rolle gespielt haben könnte, wird man wohl kaum in Abrede stellen können.
Man
sollte Klappentexten nicht allzu viel Vertrauen schenken, aber der Buchrücken
der Taschenbuchausgabe von Martina Hefters (geboren 1965) Roman ist doch recht
aufschlussreich. „Eine junge Frau durchlebt, an der Rezeption eines Hotels
sitzend, die Nacht, in der ihr Freund seine Sachen packt und sie verläßt.“ Dies
und nicht mehr steht dort – und dem ist inhaltlich auch nichts hinzuzufügen.
Nun, beigefügt ist dem ganzen noch ein Halbsatz aus der NZZ, verkündend, das
dieses Buch „brillant mit der Sprache operiert“, was man von eben jenem
Halbsatz nicht behaupten kann. Erfahrene Klappentextleser*innen wissen, dass
eine lobende Kritik der NZZ ähnlich wie eine enthusiastische Rezension der FAZ
für gewöhnlich ein Buch charakterisiert, das solides Handwerk mit zäher
Langeweile vereint. Quod erat demonstrandum.
Die
etwas befremdliche Form des Titels – im Original: "The Last Tycoon" – geht auf
die frühe und auch an anderer Stelle oft mehr als fragwürdige Übersetzung
zurück; allen Ernstes wird dort beispielsweise „grandfather clock“ mit
„Großväteruhr“ übersetzt. Fitzgeralds (1986-1940) Roman blieb Fragment, nur der
Beginn ist ausgearbeitet, der weitere Verlauf anhand von Entwürfen und
Konzepten halbwegs rekonstruierbar. Und das ist ein Verlust. Zwar klingt es
nach gar nicht wenig, wenn man weiß, dass immerhin gut 180 Seiten vollendeter
Text vorhanden sind, doch auf diesen hat die Handlung erst einigermaßen Fahrt
aufgenommen, um die späteren teils sehr spektakulären Ereignisse vorzubereiten.
Monroe Stahr ist der letzte Tycoon, eine Art Wunderkind im untergehenden
Hollywood der großen Studiofilme, Produzent mit intuitivem Gespür, mit Übersicht
und Respekt vor dem was er tut und den zahlreichen Mitarbeitern, die ihn
vielleicht nicht unbedingt lieben, aber achten. Doch auch der Herrscher
über seine Firma hat nicht die Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten wie einen
Film, wo er geradezu allmächtig ist. Er ist – mit 35 – bereits todkrank und
Witwer, seine neue Liebe entgleitet ihm. Und wo Erfolg ist, sind Neider.
Fitzgeralds geradezu genialer Coup ist es, dass Leben Stahrs aus der Sicht der
Tochter seines Erzfeindes schildern zu lassen, die unglücklich in ihn verliebt
ist. Leider werden wir nie mehr erfahren, wie die Geschichte weitergeht…
Januar 2018
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