Von der Utopie zur Dystopie entwickelten sich die
Zukunftsvorstellungen in der Literatur. Ein Blick in die Geschichte mit
Beispielen.
Die Utopie und ihr späteres Gegenstück, die
Dystopie, sind Literaturformen in Zeiten des Umbruchs. Dabei dient sie nicht
dem Eskapismus, sondern reagiert auf die Mißstände der Zeit mit den Mitteln der
Fiktion (Staatsroman, Satire). Die klassische Utopie verlagert den „Nicht-Ort“
räumlich auf Inseln oder an unzugängliche Orte, die Dystopie verschiebt - und
gewinnt dadurch an Brisanz - den Akzent auf die Zukunft. Die der Gattung
immanente „Realisierungsmöglichkeit“ (Ernst Bloch), die sie von anderen Genres
(Science Fiction) unterscheidet, dient der Belehrung und der Besserung der eigenen
Gegenwart, wird jedoch in der Form dystopischen „Linienverlängerung“ (T.W.
Adorno) auch zur Warnung vor der bereits eingeschlagenen (Fehl-)
Entwicklung.
Thomas Mores Utopia und Francis Bacons New Atlantis
Der gattungsgründende Roman Utopia (1516) des englischen Humanisten Sir Thomas More setzte für
Jahrhunderte die Maßstäbe des Genres: ein Schiffsreisender landet unvermutet
auf der Insel der Utopier, die ihm ausführlich ihr Staatswesen, ihre Kultur und
Lebensphilosophie im Dialog erläutern. Die glückliche Welt Utopias ist dabei
das positive Gegenbild zum England des jungen 16. Jahrhunderts, dessen Zustände
More in einer Rahmenerzählung schildert. Kommunismus, Friedliebigkeit,
Religionsfreiheit, Ende der Armut, Bildungszugang für alle, gehören zu den
Errungenschaften der Utopier und auch der Bewohner von Neu-Atlantis, die der
Philosoph Francis Bacon nach ähnlichem Schema wie More 1624 in einem Fragment
vorstellt. Die herausragende Rolle der (Natur-) Wissenschaften und die
Einführung einer maßgeblichen Elite auf Neu-Atlantis wirken ebenfalls
stilbildend.
H.G.Wells und
die Wende
Fortschrittsoptimismus und Elitarismus verbinden
sich bei H.G. Wells im Fin de Siècle zu widersprüchlichen Zukunftsvisionen.
Während mit The Time Machine (1895)
die erste Dystopie der Weltliteratur erscheint, die der Menschheit eine fatale
Entwicklung in der Zukunft prophezeit, in der sich die Klassengegensätze und
die Bequemlichkeiten des technischen Progresses zu einer Horrorvision
verschärfen, kreiert Wells zehn Jahre später eine Art Meta-Utopie: A Modern Utopia (1905). Der Erzähler
reagiert nicht nur auf vorhandene utopische Konzepte, er ruft stets die
Fiktionalität seiner Gedanken in Erinnerung - ohne jedoch deren Notwendigkeit
zu bezweifeln. A Modern Utopia - mit
anderen optimistischen Werken Wells - war auch aufgrund seiner Forderung nach
einer Elite und eugenischer Auslese der eigentliche Ansatzpunkt für die Kritik
der englischen Dystopien.
Aldoues
Huxley: Brave New World
In Aldous Huxleys Zukunftsstaat, der Brave New World (1932), sind die Ideale
H.G. Wells, Elite und Auslese, verwirklicht, die entindividualisierten Menschen
durchaus zufrieden und glücklich - da sie durch Konditionierung keine anderen
Gedanken zu fassen in der Lage sind. Alle Störfaktoren eines unbeschwerten
Lebens sind abgeschafft: Kultur, Armut, Versorgungsmängel, Religion.
Gefährlichste Bedrohung des staatlichen Gemeinwesens ist ein Übermaß an
Individualität, wie es noch in einigen Reservaten vorkommt, die nicht in den
Weltstaat integriert wurden. Huxleys Zukunftsvision ist abwägend: die Aufgabe
des Individuellen ist verbunden mit einem sorglosen Glück, das Festhalten führt
in Konsequenz zum Unglück und Scheitern.
George Orwell:
1984
Individualität ist auch in George Orwells noch
stärker totalitärem Staat aus dem Jahre 1984
(1948) ein destruktives Verbrechen. Stärker beeinflußt von den Entwicklungen
des Faschismus und Stalinismus, setzt sich hier die Entmachtung des Einzelnen
durch Überwachung und Bedrohung durch. In dem Terrorstaat, der auf die Brechung
des Willens bis tief ins Bewußtsein aus ist, wird schon eine Liebesbeziehung
zum anarchistischen Aufbegehren, das der Staat mit Folter und Gehirnwäsche -
erfolgreich - bekämpft. Der direkte Eingriff in das Denken und die ständige
Manipulation der Außenwelt – vor allem. mit Hilfe der Sprache Newspeak - ermöglichen die Unterwerfung
des Individuums. Als totalitäre Herrschaftsvision wurde Orwells berühmtestes
Werk geradezu sprichwörtlich.
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