Sven
Regener: Neue Vahr Süd.
Nachdem
der (literarische) Ausklang des alten Jahres nicht gerade sonderlich
brillierte, galt es, zum neuen das Risiko eines miesen Anfangs wenigstens zu
minimieren. Folglich schien Sven Regeners (geboren 1961) „Neue Vahr Süd“
hierfür eine passende Wahl. Regeners Zweitling nach dem Erfolg von „Herr
Lehmann“ folgt der Spur seines damaligen Protagonisten, allerdings nicht
chronologisch, sondern rückblickend auf dessen unfreiwillige Bundeswehrzeit, die zugleich
seinen Abschied von den Eltern und schlussendlich auch aus Bremen bedeutet. Unfreiwillig
ist hierbei eine Art umfassende Charakterisierung von Frank Lehmanns Handeln:
Zur Bundeswehr wird er eingezogen, weil er vergessen hat zu verweigern, was
auch im Nachhinein ein weiteres Mal scheitert, unfreiwillig zieht er bei seinen
Eltern aus in eine mehr als chaotische Jungs-WG aus gescheiterten
Revolutionären, unfreiwillig steht er am Ende im Weserstadion bei einem
Gelöbnis der Bundeswehr und damit im Mittelpunkt von Randale, die durch seine
Kumpane mitorganisiert wurde. Es ist das Jahr 1980, und die Ereignisse ereignen
sich halt irgendwie, ähnlich ziellos wie die schier endlosen Diskussionen und
Gespräche aller Beteiligten. Zu Beginn des Romans scheint sich dieser zähe
Stillstand auf den Text zu übertragen, bis man in dessen Sog gerät und bemerkt,
dass unterhalb der ständigen – aber vom Autor klug proportionierten –
Wiederholungen doch etwas vorangeht, wobei dies für die Leser*innen oft weitaus
lustiger zu beobachten ist als für die Akteure. Die man deshalb dann leider mit
großem Bedauern zurücklässt. Regener hat jedoch mit „Der kleine Bruder“ bereits
für Nachschub gesorgt.
Fiona
Kelly: Auf Hexenjagd.
Auch
im neuen Jahr stehen Jugendromane auf dem Leseplan, dieses Mal ein Krimi aus
der Feder der britischen Autorin Fiona Kelly (geboren 1959) aus den 1990ern.
Ein nicht ganz passender Vergleich mit den berühmten ??? drängt sich auf, haben
wir doch drei jugendliche Hauptfiguren, die in ihrer Heimatstadt Fälle lösen,
womit die Gemeinsamkeiten auch schon erschöpft sind. Hauptunterschied: es
handelt sich um drei Mädchen, die noch dazu kein spektakuläres Umfeld –
Freundschaft mit einem gewissen Star-Regisseur – aufweisen können, im
Gegenteil. Das gerade lässt „Auf Hexenjagd“ zu einem angenehmen Lesevergnügen
werden. Die Autorin schreibt spannend, mit zurückhaltendem Humor, der Fall ist
nachvollziehbar und keineswegs überkonstruiert, vor allem aber ist sie nicht in
die Falle getappt, „obercoole“ Mädchen auf dem Reißbrett zu erschaffen, sondern
recht lebensnahe Figuren. Das Buch hat insgesamt einen sympathischen Unterton
weiblicher Solidarität, ohne, wie gesagt, ein Klischeebuch nur für Mädchen zu
sein. Und das, obwohl eine der
Hobby-Detektivinnen ein Pferd besitzt.
Chimo:
sagt Lila.
Mitte
der 1990er Jahre wurde dieser Roman als literarische Sensation gefeiert. Unter
dem Pseudonym „Chimo“ ließ ein unbekannter angeblicher Banlieue-Bewohner einem
Verlag zwei vollgeschriebene Schulhefte zukommen. In zweifelhafter Grammatik
schildert er die erste Verliebtheit eines jungen Einwandererjungen in die
offensive Lila, die ihn mit ihren sexuellen Wunscherzählungen aufreizt. Dies
alles in einer Umgebung ohne Zukunft, wie sich am Ende einmal mehr zeigen wird.
Die Literaturkritik rätselte vor allem an der vermeintlichen Autorschaft herum,
insbesondere der Frage, ob es sich um ein authentisches Dokument oder eine
Fiktionalisierung durch eine*n etablierte*n Autor*in handelt; die oftmaligen
Reflexionen über das Schreiben – eher eine Gewohnheit von erfahrenen
Praktiker*innen – deuten doch auf letzteres hin. Der Enthusiasmus über den
Inhalt ist heute nurmehr schwerlich nachvollziehbar. Lila erscheint doch genau
besehen als eine ziemliche Männerphantasie, die letztlich doch dem Denken eben
jener Jugendlichen entsprungen zu sein scheint, von denen sie sich angeblich
unterscheidet. Und auch die Milieu-Schilderungen dürften eher den wohligen
Grusel der gutbürgerlichen Leserschaft bedienen, die das Buch so sehr gefeiert
hat und für die die Revolution schon beginnt, wenn ab und zu mal ein Komma
fehlt.
Carlos
Ruiz Zafón: Der Gefangene des Himmels.
Der
dritte Roman in der mit „Der Schatten des Windes“ begonnenen Barcelona-Reihe
von Bestsellerautor Carlos Ruiz Zafón (geboren 1964) setzt in gewohnter Manier
die Bücher-Geschichte(n) seiner Vorgänger fort. Genaugenommen gäbe es über den
Roman auch nicht mehr zu sagen. Das Rezept kennt man: Ein Titel am Rande des
Kitsches, obskure, sehr spannende Vorgänge, die jeweils mit Büchern,
Schriftstellern, dunklen Vergangenheiten der Franco-Zeit zusammenhängen, in
Barcelona spielen und von Zafón virtuos und mit treffsicheren Dialogen
berichtet werden. So erfährt man mehr über die Hintergründe der bereits
bekannten Protagonisten, die immer etwas zu gut und etwas zu böse sind. Und der
vierte Band wird dank offenem Ende schon vorbereitet. Das ist alles nicht mehr
neu, aber immer noch gut gemacht und als Bahn- oder Wartezimmerlektüre geradezu
perfekt.
Lion
Feuchtwanger: Der jüdische Krieg.
Den
Auftaktband seiner Josephus-Trilogie benannte Lion Feuchtwanger (1884-1958)
nach dem Hauptwerk seines Protagonisten, des jüdisch-römischen
Geschichtsschreibers Flavius Josephus. Erwartungsgemäß erzählt Feuchtwanger
nicht einfach die antike Schrift nach, sondern gestaltet in der ihm eigenen
Manier die Figuren mit einer komplexen Psychologie aus, wobei er den
historischen Hintergrund zwar grob, aber nur sehr frei nachzeichnet. Ob
Feuchtwanger damit tatsächlich, wie der Klappentext im Innern vorgibt, Verständnis für
die jüdischen Zeitgenossen im 20. Jahrhundert zu erwecken vermochte, darf eher
bezweifelt werden. Feuchtwanger ist zu sehr kluger Romancier, der nicht gewillt
ist, die Schattenseiten seiner Hauptfigur, aber auch des Jüdischen Krieges
insgesamt, zu verheimlichen, ihm interessieren komplexe Vorgänge, weshalb
Josephus, der die Römer fanatisch bekämpft, um dann zu ihnen überzulaufen,
keineswegs ein Mensch ist, der unbedingt Herzenswärme erweckt. Wie alle
Feuchtwanger-Romane ein Leseereignis, trotz der kuriosen sprachlichen Unsitte,
die römischen Namen zu verkürzen (Tiber für Tiberius etc.), aber damit ist er
im Deutschen – Augustin für Augustinus und der Irrsinn, Horatius zu Horaz zu
verstümmeln – ja alles andere als ein Pionier. Gleichwohl nicht das herausragendste
seiner Werke, manchmal befällt einen die Lust, einfach zum antiken „Original“
zu wechseln.
Federico
García Lorca: Diwan des Tamarit/ Diván del Tamarit.
Wie
es sich für einen guten Lyrikband gehört – und man es von einem Verlag wie
Suhrkamp naturgemäß auch erwarten kann – ist das kurze Bändchen, das mehrere
Gedichtsammlungen des großen – oder unumwunden: des sicher größten des 20.
Jahrhunderts – spanischen Schriftstellers Federico García Lorca (1989-1936),
zweisprachig. Die erste Abteilung Gedichte – der titelgebende „Diwan des
Tamarit“ – setzt sich zusammen aus oft nicht immer leicht zugänglichen Texten
in freieren Formen zu den ewigen Menschheitsthemen Liebe und Tod, die zweite
lässt schon in der Überschrift „Sonette der dunklen Liebe“ anklingen, dass
Lorca dem Thema treu blieb, hier jedoch etwas konventioneller – damit aber auch
lesbarer – die klassische Sonettform anwandte. Berühmter sind Lorcas Dramen –
lesenswert ist seine Lyrik allemal.
Walter
Benjamin: Sonette.
Wir
bleiben also bei Sonetten und widmen uns einem Autoren, von dem wir erst
kürzlich sein Buch „Berliner Kindheit um 1900“ besprochen hatten: Walter
Benjamin (1892-1940). Der ist nun nicht gerade als Lyriker im Gedächtnis
geblieben, was nicht unbedingt daran liegt, dass das lange verschollen
geglaubte Manuskript seiner Sonette erst Anfang der 1980er Jahre in Paris
wiederentdeckt wurde. Benjamins Gedichte widmen sich fast ausschließlich der
Erfahrung des Selbstmordes eines mit ihm befreundeten Ehepaares, das sich bei
Ausbruch des Ersten Weltkrieges umgebracht hatte. Dementsprechend sind
Benjamins Sonette geprägt vom Verlust durch Tod, dies in der strengen Form des
Sonettes, wohl um das Unbegreifliche fassbarer zu machen. Dabei zeigt er sich,
etwas überraschend, ästhetisch irgendwo zwischen Hofmannsthal und George,
unberührt vom zeitgenössischen Expressionismus der Entstehungszeit. Beeindruckendes
Zeugnis einer Freundschaft. Loben muss man zudem die sehr schöne Ausstattung
des Bibliothek-Suhrkamp-Bandes mit viel Zusatzmaterial zum Hintergrund.
Ernst-Wilhelm
Händler: Kongress.
Das
ist ein sehr seltsamer Roman. Vordergründig handelt er von der drohenden
Zusammenlegung zweier Philosophischer Fakultäten unterschiedlicher
theoretischer Ausrichtung an der Universität zu einer einzigen und den damit
einhergehenden Konflikten innerhalb eines der beiden Institute. Fast erwartbar
nutzt Ernst-Wilhelm Händler (geboren 1953) dies zu leider oft sehr drögen
theoretischen Dialogen, wie er auch sonst einen Hang zu sehr ausschweifenden
Beschreibungen hat, dazu kommen nicht immer nachvollziehbare ästhetische Exzentritäten
wie der Verwendung von Punkten nach Fragen, dies aber wiederum nicht sehr
konsequent. Klingt alles nicht nach begeisternder Lektüre – doch das fast schon
verwirrende ist, dass der Roman trotz Längen, Weitschweifigkeiten und manchem
geradezu aufdringlichem Klischee – exzessive Gewaltdarstellung, Hang zur Pornographie
– einen doch mit einem Gefühl nach mehr zurücklässt. Händlers lakonischer Stil
belegt durchaus, dass er fesselnd schreiben kann, auch sein Umgang mit den
Lesererwartungen ist virtuos, scheint doch der zweite Teil des Buches mit dem
eigentlichen Thema kaum mehr zu tun zu haben. Scheint. Aber ist das so?
Danilo
Kis: Garten, Asche.
Ein
ungewöhnlicher Blick auf die – oder besser: aus der – Kindheit ist der Roman
„Garten, Asche“ des serbischen Schriftstellers Danilo Kis (1939-1989). Zu
Beginn taucht der Vater so gut wie gar nicht auf, die Angst des Sohnes ist
bestimmt von seiner plötzlichen Gewissheit, sterblich zu sein, vor allem jedoch
dessen, dass auch seine Mutter irgendwann tot sein wird, wie überhaupt alle um
ihn herum – und nicht zuletzt er selbst. Dies bleibt zwar eine interne
Erkenntnis, das Geschehen verlagert sich jedoch zunehmend auf den Vater,
eigentlich ein unscheinbarer, gewissenhafter Bahnbeamter, der einst einen
umfassenden Fahrplan verfasst hat, den er nun für die neueste Auflage zu
verbessern und zu erweitern sucht. Dieses Unterfangen gerät jedoch ins
Unermessliche, als er mehr und mehr Sichtweisen, Blickwinkel und Theorien als
Grundlage dieses Buches einarbeiten möchte. Letztlich verfällt der Vater über
diesem ausufernden Projekt in den Wahnsinn, was den Abstieg der Familie und
seine eigene zukünftige Existenz als Wanderprophet zur Folge hat, bis es
schließlich zu seinem Verschwinden und Wiederkehr als völlig andere Person
führt. Ein ungewöhnliches Buch, das von seiner melancholischen Skurrilität
lebt.
Ingeborg
Bayer: Trip ins Ungewisse.
Die
2017 verstorbene Ingeborg Bayer (1927-2017) gehört zu den erfolgreichsten
deutschsprachigen Jugendschriftstellerinnen. „Trip ins Ungewisse“, 1971
erstmals erschienen, unterstreicht diesen Ruf. Inga, 17, führt ein frustvolles
Leben: der Vater Alkoholiker, der seinen Beruf aufgeben musste, gewalttätig,
wenn er nicht gerade in der Entziehungsklinik einsitzt, die Mutter
unselbständig und wenig verständnisvoll ihrer Tochter gegenüber, dazu eine
ungeliebte Ausbildung zur Kosmetikerin. Trost findet sie lediglich in ihrer
Clique ähnlich vom Leben enttäuschter Jugendlicher und in der Sehnsucht nach
der unschuldigen Kindheit. Aus der stammt Ben, ihr Sandkastenfreund, der nun
nach zwei Jahren zurück in die Stadt kommt. Doch die erste Wiederbegegnung
verläuft fatal: der joviale, aber vernunftergebene Ben hat nichts mehr gemein
mit dem ausgelassenen Rebellen früherer Tage, fast jedes Gespräch endet in
Streitigkeiten. Denn Ben ist nicht einverstanden mit Ingas Clique und deren
Anführer Mac, ihre liebste Freizeitbeschäftigung, das Kiffen, sieht er als
bloße Lebensflucht ohne Ziel an. Inga schwankt zwischen dem klugen, aber
nervigen ‚Moralapostel‘ Ben und dem freien, aber letztlich nur dem egoistischen
Genuss ergebenen Mac. Am Schluss scheint sie von allen verlassen dazustehen.
Das bemerkenswerte an Bayers Buch ist, dass es sich weigert, eindeutig Stellung
zu beziehen. So werden Ingas Unsicherheiten auch zu unseren eigenen: Ben
verkörpert die Vernunft, aber helfen seine sicher richtigen Ansichten
tatsächlich konkret weiter? Mac steht für ungezwungene Geborgenheit, aber auch
für das Desinteresse an ihrer Person. Und Inga selbst? Hat sie nicht recht mit
ihrer Suche nach ihren wahren Begabungen, mit dem Ausprobieren, solange dies
noch möglich ist, und im sich wehren gegen Einordnungen und als falsch erkannte
Gewissheiten? Oder hängt sie damit falschen Träumen und Versprechungen – wie
den Drogen – nach? Ein Roman, wie ein Roman sein soll: nämlich die Leser*innen
zum Grübeln anregend.
René
Schickele: Der Wolf in der Hürde.
1931
erschien René Schickeles (1883-1940) Abschlussroman seiner Trilogie „Das Erbe
am Rhein“, die sich mit der Geschichte des Elsass, Schickeles Heimat, befasste.
Hauptfigur ist Aggie Ruf, eine Schriftstellerin, die dem charmanten Blender
Silvio Wolf verfällt, undurchschaubarer Herkunft und voller zweifelhafter
politischer Pläne. An und für sich ein spannender Plot, doch erinnert
Schickeles in vielem an Otto Flakes – einem guten Freund – Roman „Hortense“;
was nichts Gutes zu bedeuten hat, wie man sich erinnert. Eine übermetaphorische
Sprache mit zu viel „wie" und „als wäre…“, kaum angebracht für ein brisantes
zeitgenössisches Thema, eine Protagonistin, die launenhaft bis überspannt
wirkt, weswegen einen letztlich ihr Schicksal recht kalt lässt, auch weil ihr
Gegenstück, der angeblich so charismatische Silvio Wolf, diese Wirkung auf die
Leserin und den Leser nicht hat, was wohl daran liegen mag, dass alle
Sympathieträger des Buches stets betonten, was er für ein durchtriebener Lügner
sei, sich ihm aber nie ernsthaft entgegenstellen, was nicht unbedingt
überzeugend psychologisch motiviert ist – wie übrigens auch der seltsame
Salonkommunismus, der sich als Heimatpatriotismus tarnt. Insgesamt schlingert das
Buch zwischen Themaverfehlung und Angestaubtheit. Schade – das Leben des
Pazifisten Schickele zwischen Deutschland und Frankreich ist da weitaus
spannender.
Vladimir
Tendrjakow: Die reinen Wasser von Kitesh.
Nachrichtenflaute
in der kleinen Sowjetstadt Kitesh. Der Redaktionssekretär Samson Popjonkin
hofft auf Veränderung, als ihn sein Chefredakteur zu sich ruft. Dieser bittet
ihn, einen alarmierenden Artikel über die Verschmutzung des örtlichen
Flüsschens zu veranlassen, an und für sich ein alter Hut, aber Popjonkin durchschaut,
dass dahinter mehr stecken muss: offenbar hat sein Chef Anweisung von ganz
oben, sich mit dem mächtigen Kombinatsleiter anzulegen. Eine heikle Sache,
weshalb Popjonkin sich in alle Richtung absichert: er lässt den Artikel von
einem verkrachten Dichter schreiben und vom Chefredakteur mit dessen
Unterschrift abzeichnen. Tatsächlich schlägt der Bericht ein wie eine Bombe. Ganz
Kithesh diskutiert. Doch der Artikel bringt noch viel mehr ins Rollen, die
Folgen werden bald unüberschaubar und bedrohlich. Der skeptische Pessimist
Tendrjakow (1923-1984) beherrscht auch die Mittel der Satire, mit sanfter
Ironie schildert er Opportunismus und Manipulation in der Diktatur, ein
großartiger Kurzroman des Meisters mit vielen Wendungen und einem
hintergründigen Ende.
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