Donnerstag, 7. Februar 2019

Lektüremonat Januar 2019.


 
Sven Regener: Neue Vahr Süd.
Nachdem der (literarische) Ausklang des alten Jahres nicht gerade sonderlich brillierte, galt es, zum neuen das Risiko eines miesen Anfangs wenigstens zu minimieren. Folglich schien Sven Regeners (geboren 1961) „Neue Vahr Süd“ hierfür eine passende Wahl. Regeners Zweitling nach dem Erfolg von „Herr Lehmann“ folgt der Spur seines damaligen Protagonisten, allerdings nicht chronologisch, sondern rückblickend auf dessen unfreiwillige Bundeswehrzeit, die zugleich seinen Abschied von den Eltern und schlussendlich auch aus Bremen bedeutet. Unfreiwillig ist hierbei eine Art umfassende Charakterisierung von Frank Lehmanns Handeln: Zur Bundeswehr wird er eingezogen, weil er vergessen hat zu verweigern, was auch im Nachhinein ein weiteres Mal scheitert, unfreiwillig zieht er bei seinen Eltern aus in eine mehr als chaotische Jungs-WG aus gescheiterten Revolutionären, unfreiwillig steht er am Ende im Weserstadion bei einem Gelöbnis der Bundeswehr und damit im Mittelpunkt von Randale, die durch seine Kumpane mitorganisiert wurde. Es ist das Jahr 1980, und die Ereignisse ereignen sich halt irgendwie, ähnlich ziellos wie die schier endlosen Diskussionen und Gespräche aller Beteiligten. Zu Beginn des Romans scheint sich dieser zähe Stillstand auf den Text zu übertragen, bis man in dessen Sog gerät und bemerkt, dass unterhalb der ständigen – aber vom Autor klug proportionierten – Wiederholungen doch etwas vorangeht, wobei dies für die Leser*innen oft weitaus lustiger zu beobachten ist als für die Akteure. Die man deshalb dann leider mit großem Bedauern zurücklässt. Regener hat jedoch mit „Der kleine Bruder“ bereits für Nachschub gesorgt.
 
Fiona Kelly: Auf Hexenjagd.
Auch im neuen Jahr stehen Jugendromane auf dem Leseplan, dieses Mal ein Krimi aus der Feder der britischen Autorin Fiona Kelly (geboren 1959) aus den 1990ern. Ein nicht ganz passender Vergleich mit den berühmten ??? drängt sich auf, haben wir doch drei jugendliche Hauptfiguren, die in ihrer Heimatstadt Fälle lösen, womit die Gemeinsamkeiten auch schon erschöpft sind. Hauptunterschied: es handelt sich um drei Mädchen, die noch dazu kein spektakuläres Umfeld – Freundschaft mit einem gewissen Star-Regisseur – aufweisen können, im Gegenteil. Das gerade lässt „Auf Hexenjagd“ zu einem angenehmen Lesevergnügen werden. Die Autorin schreibt spannend, mit zurückhaltendem Humor, der Fall ist nachvollziehbar und keineswegs überkonstruiert, vor allem aber ist sie nicht in die Falle getappt, „obercoole“ Mädchen auf dem Reißbrett zu erschaffen, sondern recht lebensnahe Figuren. Das Buch hat insgesamt einen sympathischen Unterton weiblicher Solidarität, ohne, wie gesagt, ein Klischeebuch nur für Mädchen zu sein. Und das, obwohl eine der Hobby-Detektivinnen ein Pferd besitzt.
 
Chimo: sagt Lila.
Mitte der 1990er Jahre wurde dieser Roman als literarische Sensation gefeiert. Unter dem Pseudonym „Chimo“ ließ ein unbekannter angeblicher Banlieue-Bewohner einem Verlag zwei vollgeschriebene Schulhefte zukommen. In zweifelhafter Grammatik schildert er die erste Verliebtheit eines jungen Einwandererjungen in die offensive Lila, die ihn mit ihren sexuellen Wunscherzählungen aufreizt. Dies alles in einer Umgebung ohne Zukunft, wie sich am Ende einmal mehr zeigen wird. Die Literaturkritik rätselte vor allem an der vermeintlichen Autorschaft herum, insbesondere der Frage, ob es sich um ein authentisches Dokument oder eine Fiktionalisierung durch eine*n etablierte*n Autor*in handelt; die oftmaligen Reflexionen über das Schreiben – eher eine Gewohnheit von erfahrenen Praktiker*innen – deuten doch auf letzteres hin. Der Enthusiasmus über den Inhalt ist heute nurmehr schwerlich nachvollziehbar. Lila erscheint doch genau besehen als eine ziemliche Männerphantasie, die letztlich doch dem Denken eben jener Jugendlichen entsprungen zu sein scheint, von denen sie sich angeblich unterscheidet. Und auch die Milieu-Schilderungen dürften eher den wohligen Grusel der gutbürgerlichen Leserschaft bedienen, die das Buch so sehr gefeiert hat und für die die Revolution schon beginnt, wenn ab und zu mal ein Komma fehlt.                               
 
Carlos Ruiz Zafón: Der Gefangene des Himmels.
Der dritte Roman in der mit „Der Schatten des Windes“ begonnenen Barcelona-Reihe von Bestsellerautor Carlos Ruiz Zafón (geboren 1964) setzt in gewohnter Manier die Bücher-Geschichte(n) seiner Vorgänger fort. Genaugenommen gäbe es über den Roman auch nicht mehr zu sagen. Das Rezept kennt man: Ein Titel am Rande des Kitsches, obskure, sehr spannende Vorgänge, die jeweils mit Büchern, Schriftstellern, dunklen Vergangenheiten der Franco-Zeit zusammenhängen, in Barcelona spielen und von Zafón virtuos und mit treffsicheren Dialogen berichtet werden. So erfährt man mehr über die Hintergründe der bereits bekannten Protagonisten, die immer etwas zu gut und etwas zu böse sind. Und der vierte Band wird dank offenem Ende schon vorbereitet. Das ist alles nicht mehr neu, aber immer noch gut gemacht und als Bahn- oder Wartezimmerlektüre geradezu perfekt.   
 
Lion Feuchtwanger: Der jüdische Krieg.
Den Auftaktband seiner Josephus-Trilogie benannte Lion Feuchtwanger (1884-1958) nach dem Hauptwerk seines Protagonisten, des jüdisch-römischen Geschichtsschreibers Flavius Josephus. Erwartungsgemäß erzählt Feuchtwanger nicht einfach die antike Schrift nach, sondern gestaltet in der ihm eigenen Manier die Figuren mit einer komplexen Psychologie aus, wobei er den historischen Hintergrund zwar grob, aber nur sehr frei nachzeichnet. Ob Feuchtwanger damit tatsächlich, wie der Klappentext im Innern vorgibt, Verständnis für die jüdischen Zeitgenossen im 20. Jahrhundert zu erwecken vermochte, darf eher bezweifelt werden. Feuchtwanger ist zu sehr kluger Romancier, der nicht gewillt ist, die Schattenseiten seiner Hauptfigur, aber auch des Jüdischen Krieges insgesamt, zu verheimlichen, ihm interessieren komplexe Vorgänge, weshalb Josephus, der die Römer fanatisch bekämpft, um dann zu ihnen überzulaufen, keineswegs ein Mensch ist, der unbedingt Herzenswärme erweckt. Wie alle Feuchtwanger-Romane ein Leseereignis, trotz der kuriosen sprachlichen Unsitte, die römischen Namen zu verkürzen (Tiber für Tiberius etc.), aber damit ist er im Deutschen – Augustin für Augustinus und der Irrsinn, Horatius zu Horaz zu verstümmeln – ja alles andere als ein Pionier. Gleichwohl nicht das herausragendste seiner Werke, manchmal befällt einen die Lust, einfach zum antiken „Original“ zu wechseln.     
 
Federico García Lorca: Diwan des Tamarit/ Diván del Tamarit.
Wie es sich für einen guten Lyrikband gehört – und man es von einem Verlag wie Suhrkamp naturgemäß auch erwarten kann – ist das kurze Bändchen, das mehrere Gedichtsammlungen des großen – oder unumwunden: des sicher größten des 20. Jahrhunderts – spanischen Schriftstellers Federico García Lorca (1989-1936), zweisprachig. Die erste Abteilung Gedichte – der titelgebende „Diwan des Tamarit“ – setzt sich zusammen aus oft nicht immer leicht zugänglichen Texten in freieren Formen zu den ewigen Menschheitsthemen Liebe und Tod, die zweite lässt schon in der Überschrift „Sonette der dunklen Liebe“ anklingen, dass Lorca dem Thema treu blieb, hier jedoch etwas konventioneller – damit aber auch lesbarer – die klassische Sonettform anwandte. Berühmter sind Lorcas Dramen – lesenswert ist seine Lyrik allemal.
 
Walter Benjamin: Sonette.
Wir bleiben also bei Sonetten und widmen uns einem Autoren, von dem wir erst kürzlich sein Buch „Berliner Kindheit um 1900“ besprochen hatten: Walter Benjamin (1892-1940). Der ist nun nicht gerade als Lyriker im Gedächtnis geblieben, was nicht unbedingt daran liegt, dass das lange verschollen geglaubte Manuskript seiner Sonette erst Anfang der 1980er Jahre in Paris wiederentdeckt wurde. Benjamins Gedichte widmen sich fast ausschließlich der Erfahrung des Selbstmordes eines mit ihm befreundeten Ehepaares, das sich bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges umgebracht hatte. Dementsprechend sind Benjamins Sonette geprägt vom Verlust durch Tod, dies in der strengen Form des Sonettes, wohl um das Unbegreifliche fassbarer zu machen. Dabei zeigt er sich, etwas überraschend, ästhetisch irgendwo zwischen Hofmannsthal und George, unberührt vom zeitgenössischen Expressionismus der Entstehungszeit. Beeindruckendes Zeugnis einer Freundschaft. Loben muss man zudem die sehr schöne Ausstattung des Bibliothek-Suhrkamp-Bandes mit viel Zusatzmaterial zum Hintergrund.
 
Ernst-Wilhelm Händler: Kongress.
Das ist ein sehr seltsamer Roman. Vordergründig handelt er von der drohenden Zusammenlegung zweier Philosophischer Fakultäten unterschiedlicher theoretischer Ausrichtung an der Universität zu einer einzigen und den damit einhergehenden Konflikten innerhalb eines der beiden Institute. Fast erwartbar nutzt Ernst-Wilhelm Händler (geboren 1953) dies zu leider oft sehr drögen theoretischen Dialogen, wie er auch sonst einen Hang zu sehr ausschweifenden Beschreibungen hat, dazu  kommen nicht immer nachvollziehbare ästhetische Exzentritäten wie der Verwendung von Punkten nach Fragen, dies aber wiederum nicht sehr konsequent. Klingt alles nicht nach begeisternder Lektüre – doch das fast schon verwirrende ist, dass der Roman trotz Längen, Weitschweifigkeiten und manchem geradezu aufdringlichem Klischee – exzessive Gewaltdarstellung, Hang zur Pornographie – einen doch mit einem Gefühl nach mehr zurücklässt. Händlers lakonischer Stil belegt durchaus, dass er fesselnd schreiben kann, auch sein Umgang mit den Lesererwartungen ist virtuos, scheint doch der zweite Teil des Buches mit dem eigentlichen Thema kaum mehr zu tun zu haben. Scheint. Aber ist das so?    
 
Danilo Kis: Garten, Asche.
Ein ungewöhnlicher Blick auf die – oder besser: aus der – Kindheit ist der Roman „Garten, Asche“ des serbischen Schriftstellers Danilo Kis (1939-1989). Zu Beginn taucht der Vater so gut wie gar nicht auf, die Angst des Sohnes ist bestimmt von seiner plötzlichen Gewissheit, sterblich zu sein, vor allem jedoch dessen, dass auch seine Mutter irgendwann tot sein wird, wie überhaupt alle um ihn herum – und nicht zuletzt er selbst. Dies bleibt zwar eine interne Erkenntnis, das Geschehen verlagert sich jedoch zunehmend auf den Vater, eigentlich ein unscheinbarer, gewissenhafter Bahnbeamter, der einst einen umfassenden Fahrplan verfasst hat, den er nun für die neueste Auflage zu verbessern und zu erweitern sucht. Dieses Unterfangen gerät jedoch ins Unermessliche, als er mehr und mehr Sichtweisen, Blickwinkel und Theorien als Grundlage dieses Buches einarbeiten möchte. Letztlich verfällt der Vater über diesem ausufernden Projekt in den Wahnsinn, was den Abstieg der Familie und seine eigene zukünftige Existenz als Wanderprophet zur Folge hat, bis es schließlich zu seinem Verschwinden und Wiederkehr als völlig andere Person führt. Ein ungewöhnliches Buch, das von seiner melancholischen Skurrilität lebt.
 
Ingeborg Bayer: Trip ins Ungewisse.
Die 2017 verstorbene Ingeborg Bayer (1927-2017) gehört zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Jugendschriftstellerinnen. „Trip ins Ungewisse“, 1971 erstmals erschienen, unterstreicht diesen Ruf. Inga, 17, führt ein frustvolles Leben: der Vater Alkoholiker, der seinen Beruf aufgeben musste, gewalttätig, wenn er nicht gerade in der Entziehungsklinik einsitzt, die Mutter unselbständig und wenig verständnisvoll ihrer Tochter gegenüber, dazu eine ungeliebte Ausbildung zur Kosmetikerin. Trost findet sie lediglich in ihrer Clique ähnlich vom Leben enttäuschter Jugendlicher und in der Sehnsucht nach der unschuldigen Kindheit. Aus der stammt Ben, ihr Sandkastenfreund, der nun nach zwei Jahren zurück in die Stadt kommt. Doch die erste Wiederbegegnung verläuft fatal: der joviale, aber vernunftergebene Ben hat nichts mehr gemein mit dem ausgelassenen Rebellen früherer Tage, fast jedes Gespräch endet in Streitigkeiten. Denn Ben ist nicht einverstanden mit Ingas Clique und deren Anführer Mac, ihre liebste Freizeitbeschäftigung, das Kiffen, sieht er als bloße Lebensflucht ohne Ziel an. Inga schwankt zwischen dem klugen, aber nervigen ‚Moralapostel‘ Ben und dem freien, aber letztlich nur dem egoistischen Genuss ergebenen Mac. Am Schluss scheint sie von allen verlassen dazustehen. Das bemerkenswerte an Bayers Buch ist, dass es sich weigert, eindeutig Stellung zu beziehen. So werden Ingas Unsicherheiten auch zu unseren eigenen: Ben verkörpert die Vernunft, aber helfen seine sicher richtigen Ansichten tatsächlich konkret weiter? Mac steht für ungezwungene Geborgenheit, aber auch für das Desinteresse an ihrer Person. Und Inga selbst? Hat sie nicht recht mit ihrer Suche nach ihren wahren Begabungen, mit dem Ausprobieren, solange dies noch möglich ist, und im sich wehren gegen Einordnungen und als falsch erkannte Gewissheiten? Oder hängt sie damit falschen Träumen und Versprechungen – wie den Drogen – nach? Ein Roman, wie ein Roman sein soll: nämlich die Leser*innen zum Grübeln anregend.    
 
René Schickele: Der Wolf in der Hürde.
1931 erschien René Schickeles (1883-1940) Abschlussroman seiner Trilogie „Das Erbe am Rhein“, die sich mit der Geschichte des Elsass, Schickeles Heimat, befasste. Hauptfigur ist Aggie Ruf, eine Schriftstellerin, die dem charmanten Blender Silvio Wolf verfällt, undurchschaubarer Herkunft und voller zweifelhafter politischer Pläne. An und für sich ein spannender Plot, doch erinnert Schickeles in vielem an Otto Flakes – einem guten Freund – Roman „Hortense“; was nichts Gutes zu bedeuten hat, wie man sich erinnert. Eine übermetaphorische Sprache mit zu viel „wie" und „als wäre…“, kaum angebracht für ein brisantes zeitgenössisches Thema, eine Protagonistin, die launenhaft bis überspannt wirkt, weswegen einen letztlich ihr Schicksal recht kalt lässt, auch weil ihr Gegenstück, der angeblich so charismatische Silvio Wolf, diese Wirkung auf die Leserin und den Leser nicht hat, was wohl daran liegen mag, dass alle Sympathieträger des Buches stets betonten, was er für ein durchtriebener Lügner sei, sich ihm aber nie ernsthaft entgegenstellen, was nicht unbedingt überzeugend psychologisch motiviert ist – wie übrigens auch der seltsame Salonkommunismus, der sich als Heimatpatriotismus tarnt. Insgesamt schlingert das Buch zwischen Themaverfehlung und Angestaubtheit. Schade – das Leben des Pazifisten Schickele zwischen Deutschland und Frankreich ist da weitaus spannender.  
 
Vladimir Tendrjakow: Die reinen Wasser von Kitesh.
Nachrichtenflaute in der kleinen Sowjetstadt Kitesh. Der Redaktionssekretär Samson Popjonkin hofft auf Veränderung, als ihn sein Chefredakteur zu sich ruft. Dieser bittet ihn, einen alarmierenden Artikel über die Verschmutzung des örtlichen Flüsschens zu veranlassen, an und für sich ein alter Hut, aber Popjonkin durchschaut, dass dahinter mehr stecken muss: offenbar hat sein Chef Anweisung von ganz oben, sich mit dem mächtigen Kombinatsleiter anzulegen. Eine heikle Sache, weshalb Popjonkin sich in alle Richtung absichert: er lässt den Artikel von einem verkrachten Dichter schreiben und vom Chefredakteur mit dessen Unterschrift abzeichnen. Tatsächlich schlägt der Bericht ein wie eine Bombe. Ganz Kithesh diskutiert. Doch der Artikel bringt noch viel mehr ins Rollen, die Folgen werden bald unüberschaubar und bedrohlich. Der skeptische Pessimist Tendrjakow (1923-1984) beherrscht auch die Mittel der Satire, mit sanfter Ironie schildert er Opportunismus und Manipulation in der Diktatur, ein großartiger Kurzroman des Meisters mit vielen Wendungen und einem hintergründigen Ende.                               

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