Mittwoch, 10. Oktober 2018

Lektüremonat September 2018.

 

Henri Troyat: La Barynia.

Das nachnapoleonische Russland Zar Alexanders. Der Landadelige Michel Borissovitch Ozareff reist zur Geburt seines Enkels nach Sankt Petersburg, doch als er dort ankommt, ist das Kind bereits tot. Sein Sohn Nicolas und dessen junge, vom alten Patriarchen Ozareff verachtete Frau Sophie, eine Französin, kehren mit ihm aufs Land zurück. Dort entwickelt sich alles anders als gedacht: Sophie langweilt sich keineswegs, sondern sorgt sich um die leibeigenen Bauern, betreut ihre unglückliche Schwägerin Marie und freundet sich mit ihrem Schwiegervater an, der sie heimlich allzusehr bewundert und ihr keinen Wunsch abschlagen kann. Nicolas gelingt es dagegen nicht, eine revolutionäre Zelle aufzubauen, stattdessen geht er, eher gedankenlos, erst ein Verhältnis mit der benachbarten Gutsherrin, später bei einem Besuch in Sankt Petersburg mit einer Polin ein. Die Schicksalsknoten verwickeln sich, doch werden sie am Ende nicht aufgelöst – der Roman Troyats (1911-2007), eines Exilrussen, ist der zweite Teil eines fünftbändigen Zyklus, und so schließt „La Barynia“, zu deutsch in etwa „Die Herrin“, bezogen auf Sophie, recht tragisch mit dem Selbstmord der unglücklichen Schwägerin Marie und deren zurückgelassenem Kind, das Sophie gegen den Willen ihres Schwiegervaters bei sich aufnimmt, während der von beiden nach der Aufdeckung seiner Affäre mit der Nachbarin verstoßene Nicolas in Sankt Petersburg von all dem noch nichts ahnt. To be continued…      
 
Jeannette Lander: Ein Sommer in der Woche der Itke K.

Autobiographisches berichtet die letztes Jahr verstorbene deutsch-amerikanische Schriftstellerin mit jüdischen Wurzeln Jeannette Lander (1931-2017) in ihrem experimentellen Roman mit dem verwirrenden Titel, der Leserin und Leser schon darauf vorbereitet, dass er es sich bei der Lektüre nicht wird bequem machen können. Dies gilt nicht nur formal – der Text ist sprachlich artistisch, deshalb aber auch recht anstrengend –, sondern auch inhaltlich. Itke, die junge Tochter eines jüdischen Krämers lebt unter doppelten Außenseitern: Juden und Afroamerikanern, den Hauptkunden des väterlichen Ladens, dies in einem Viertel Atlantas im rassistischen US-amerikanischen Süden der 1940er Jahre. Die Afroamerikaner werden als Kanonenfutter im Krieg gegen Hitler gebraucht, der wiederum der Befreiung der Juden dient. Zu größerer Akzeptanz beider Gruppen führt dies in der weißen Bevölkerung nicht, wie die latente Gewalt ihnen gegenüber zeigt. Trotzdem führt die neue Rolle des Gebrauchtwerdens als Soldaten zumindest bei den jungen Afroamerikanern zu einem erwachenden Selbstbewusstsein. Dass der Weg zur Emanzipation noch sehr weit ist, zeigt allerdings der Schluss dieses Sommers in der Woche der Itke K.  

Antonia S. Byatt: Besessen.

Alles an dem Roman der britischen Schriftstellerin Antonia S. Byatt (geboren 1936) scheint ein bisschen zuviel zu sein: der Titel – etwas zu reißerisch. Der Umfang – ein paar Seiten mehr als ihm gut tut. Der Plot, mehrere Literaturwissenschaftler sind in hartem Konkurrenzkampf auf der Suche nach dem Geheimnis zweier Schriftsteller des 19. Jahrhunderts – spannend und teils amüsant, aber zugleich teils so speziell, etwa in den satirischen Schilderungen der Forschungsströmungen an den Unis der 1980er Jahre, dass daran wohl auch nur Literaturwissenschaftler*innen ihre Freude haben können (oder auch nicht). Die Einfühlung in die Literatur des Viktorianismus – gelungen, leider teils so sehr, dass deren Langeweile und gelehrte Langatmigkeit gleich wieder mit eintritt. Gleichwohl: Besessen wurde ein – mit Gwyneth Paltrow noch dazu verfilmter – Bestseller. Stellenweise liest er sich großartig, manchmal verspürt man die große Lust, gleich mehrere Seiten zu überblättern. Am Ende bleibt die nie zu beantwortende Frage, wie ein Bucherfolg zustande kommt, die Leser*innen bleiben das unbekannte Wesen schlechthin…  

 

Otto Flake: Hortense oder die Rückkehr nach Baden-Baden.

Otto Flake (1880-1963) ist, um daran keinen Zweifel aufkommen zu lassen, ein sehr guter und von vielen seiner zeitgenössischen Kolleg*innen hochgeschätzter Schriftsteller – und da er seine großen Tage während der Weimarer Republik hatte, sind das nicht die schlechtesten Kritiker*innen. Es gibt sehr viel noch immer Lesenswerte von ihm. Leider gehört „Hortense“ nicht dazu. Der Roman über eine selbständige Frau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ihre vielen Verehrer in der besseren Gesellschaft, die so gut wie alle nach und nach – ohne ihr direktes Zutun – sterben, möchte eine Art Fontane’sches Frauenportrait sein, ohne ein Fontane zu sein. Die Mittel der Neuen Sachlichkeit mit ihrem nüchternen Berichtstil – den Flake hervorragend beherrscht – passen nicht zu den gefühlsseligen Dialogen der Protagonisten, die sprachlich bis ans Peinliche heranreichen. Während die für den bekennenden Mittler zwischen Deutschland und Frankreich Otto Flake äußerst seltsame Bismarckverehrung wohl eher dem Zeitgeist geschuldet ist (das Buch erschien 1933), fragen sich auch der heutige Leser und die heutige Leserin, was eigentlich so interessant sein soll am Leben dieser Hortense bei den Schönen und Reichen jener Tage? Nun – wenig bis nichts.  

Ernst Weiß: Georg Letham – Arzt und Mörder.

Der Autor dieser Zeilen gibt es unumwunden zu, schon seit frühesten Jugendtagen ist Ernst Weiß (1882-1940) einer seiner unangefochtenen Lieblingsautoren. Der Brünner Schriftsteller und Arzt, befreundet mit zahlreichen Kulturgrößen seiner böhmisch-mährischen Heimat, Österreichs und Deutschlands aus der Zeit des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit, hat seltsamerweise nie die Bekanntheit erreicht, die er verdient hätte. Tatsächlich war der vorliegende „Georg Letham“ sein erfolgreichstes Werk zu Lebzeiten, er erschien 1930 – und man vergleiche Thema und Stil mit dem oben genannten „Hortense“ von Otto Flake. Zwischen beiden liegen Welten. Georg Letham ist ein zynischer Facharzt, Bakteriologie, der sich für seine Mitmenschen nur als Experimentiermaterial interessiert, Mitgefühl und Humanismus sind da nur hinderlich – da er jedoch zudem hochintelligent ist, weiß er hierum sogar, er ist ein brillanter Analytiker seiner selbst. Nur mag er hieraus keine Konsequenzen ziehen, wozu auch, er lebt damit bestens. Außer zu seinem dominanten Vater, hoher Beamter im Staat, hat er keinerlei Familienbindung, seine ältliche Frau verachtet er mindestens so, wie sie ihn verehrt. Ihr Geld kann er als Lebemann gut brauchen, trotzdem wird sie ihm zunehmend lästig. Als sich durch Zufälle – eine typisch paradoxe Weiß-Konstellation – geradezu zwangsweise die Möglichkeit ergibt, sie gefahrlos zu töten, für den erfahrenen Forscher Letham ein Kinderspiel, führt er dies – wiederum ein originäres Weiß-Motiv – so nachlässig aus, dass er noch Stunden später verhaftet wird. Das lässig hingenommene Urteil sendet ihn auf eine Gefängnisinsel, wo todbringende Gelbfieberseuchen an der Tagesordnung sind. Letham wird einer medizinischen Expedition zugeteilt, der schließlich durch menschliche Selbstexperimente die Aufdeckung der Übertragung des Gelbfiebers gelingt – unter hohen Verlusten. Das nur der ohnehin fesselnde Plot, den Weiß mit sprachlicher Brillanz zu einem Panorama an Personen ausbaut, die nie eindimensional sind, sondern ständiger psychologischer Wandlung unterliegen, allen voran natürlich Letham selbst, der Ich-Erzähler, der vom gefühlskalten Misanthropen zum Mitmenschen wird, der sich letztlich opfert. Dazu kommen zahlreiche Episoden, von denen man sich beim Lesen nicht Losreißen kann, etwa die gescheiterte Nordpol-Expedition des Vaters (Gegenstück zur Südsee-Insel des Sohnes) mit ihren klaustrophobischen und Horror-Elementen oder die minutiöse Schilderung einer Geburtsoperation, bei der Letham ein fataler Fehler unterläuft. Eines der ganz großen Meisterwerke der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts, viel zu selten gewürdigt und gelesen und seit langem wie das Gesamtwerk Weiß‘ – der übrigens in Frankreich zum Beispiel hoch geschätzt wird – der Wiederentdeckung harrend. Also ab in den Laden, kaufen und lesen!              
 

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