Henri
Troyat: La Barynia.
Das
nachnapoleonische Russland Zar Alexanders. Der Landadelige Michel Borissovitch
Ozareff reist zur Geburt seines Enkels nach Sankt Petersburg, doch als er dort
ankommt, ist das Kind bereits tot. Sein Sohn Nicolas und dessen junge, vom
alten Patriarchen Ozareff verachtete Frau Sophie, eine Französin, kehren mit
ihm aufs Land zurück. Dort entwickelt sich alles anders als gedacht: Sophie
langweilt sich keineswegs, sondern sorgt sich um die leibeigenen Bauern, betreut
ihre unglückliche Schwägerin Marie und freundet sich mit ihrem Schwiegervater
an, der sie heimlich allzusehr bewundert und ihr keinen Wunsch abschlagen kann.
Nicolas gelingt es dagegen nicht, eine revolutionäre Zelle aufzubauen,
stattdessen geht er, eher gedankenlos, erst ein Verhältnis mit der benachbarten
Gutsherrin, später bei einem Besuch in Sankt Petersburg mit einer Polin ein. Die
Schicksalsknoten verwickeln sich, doch werden sie am Ende nicht aufgelöst – der
Roman Troyats (1911-2007), eines Exilrussen, ist der zweite Teil eines
fünftbändigen Zyklus, und so schließt „La Barynia“, zu deutsch in etwa „Die
Herrin“, bezogen auf Sophie, recht tragisch mit dem Selbstmord der
unglücklichen Schwägerin Marie und deren zurückgelassenem Kind, das Sophie
gegen den Willen ihres Schwiegervaters bei sich aufnimmt, während der von
beiden nach der Aufdeckung seiner Affäre mit der Nachbarin verstoßene Nicolas
in Sankt Petersburg von all dem noch nichts ahnt. To be continued…
Jeannette
Lander: Ein Sommer in der Woche der Itke K.
Autobiographisches
berichtet die letztes Jahr verstorbene deutsch-amerikanische Schriftstellerin
mit jüdischen Wurzeln Jeannette Lander (1931-2017) in ihrem experimentellen
Roman mit dem verwirrenden Titel, der Leserin und Leser schon darauf
vorbereitet, dass er es sich bei der Lektüre nicht wird bequem machen können.
Dies gilt nicht nur formal – der Text ist sprachlich artistisch, deshalb aber
auch recht anstrengend –, sondern auch inhaltlich. Itke, die junge Tochter
eines jüdischen Krämers lebt unter doppelten Außenseitern: Juden und
Afroamerikanern, den Hauptkunden des väterlichen Ladens, dies in einem Viertel
Atlantas im rassistischen US-amerikanischen Süden der 1940er Jahre. Die
Afroamerikaner werden als Kanonenfutter im Krieg gegen Hitler gebraucht, der
wiederum der Befreiung der Juden dient. Zu größerer Akzeptanz beider Gruppen
führt dies in der weißen Bevölkerung nicht, wie die latente Gewalt ihnen
gegenüber zeigt. Trotzdem führt die neue Rolle des Gebrauchtwerdens als
Soldaten zumindest bei den jungen Afroamerikanern zu einem erwachenden
Selbstbewusstsein. Dass der Weg zur Emanzipation noch sehr weit ist, zeigt allerdings
der Schluss dieses Sommers in der Woche der Itke K.
Antonia
S. Byatt: Besessen.
Alles
an dem Roman der britischen Schriftstellerin Antonia S. Byatt (geboren 1936)
scheint ein bisschen zuviel zu sein: der Titel – etwas zu reißerisch. Der
Umfang – ein paar Seiten mehr als ihm gut tut. Der Plot, mehrere
Literaturwissenschaftler sind in hartem Konkurrenzkampf auf der Suche nach dem
Geheimnis zweier Schriftsteller des 19. Jahrhunderts – spannend und teils
amüsant, aber zugleich teils so speziell, etwa in den satirischen Schilderungen
der Forschungsströmungen an den Unis der 1980er Jahre, dass daran wohl auch nur
Literaturwissenschaftler*innen ihre Freude haben können (oder auch nicht). Die
Einfühlung in die Literatur des Viktorianismus – gelungen, leider teils so
sehr, dass deren Langeweile und gelehrte Langatmigkeit gleich wieder mit
eintritt. Gleichwohl: Besessen wurde ein – mit Gwyneth Paltrow noch dazu
verfilmter – Bestseller. Stellenweise liest er sich großartig, manchmal
verspürt man die große Lust, gleich mehrere Seiten zu überblättern. Am Ende
bleibt die nie zu beantwortende Frage, wie ein Bucherfolg zustande kommt, die
Leser*innen bleiben das unbekannte Wesen schlechthin…
Otto
Flake: Hortense oder die Rückkehr nach Baden-Baden.
Otto
Flake (1880-1963) ist, um daran keinen Zweifel aufkommen zu lassen, ein sehr
guter und von vielen seiner zeitgenössischen Kolleg*innen hochgeschätzter
Schriftsteller – und da er seine großen Tage während der Weimarer Republik
hatte, sind das nicht die schlechtesten Kritiker*innen. Es gibt sehr viel noch
immer Lesenswerte von ihm. Leider gehört „Hortense“ nicht dazu. Der Roman über
eine selbständige Frau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ihre vielen
Verehrer in der besseren Gesellschaft, die so gut wie alle nach und nach – ohne
ihr direktes Zutun – sterben, möchte eine Art Fontane’sches Frauenportrait
sein, ohne ein Fontane zu sein. Die Mittel der Neuen Sachlichkeit mit ihrem
nüchternen Berichtstil – den Flake hervorragend beherrscht – passen nicht zu den
gefühlsseligen Dialogen der Protagonisten, die sprachlich bis ans Peinliche
heranreichen. Während die für den bekennenden Mittler zwischen Deutschland und
Frankreich Otto Flake äußerst seltsame Bismarckverehrung wohl eher dem
Zeitgeist geschuldet ist (das Buch erschien 1933), fragen sich auch der heutige
Leser und die heutige Leserin, was eigentlich so interessant sein soll am Leben
dieser Hortense bei den Schönen und Reichen jener Tage? Nun – wenig bis nichts.
Ernst
Weiß: Georg Letham – Arzt und Mörder.
Der
Autor dieser Zeilen gibt es unumwunden zu, schon seit frühesten Jugendtagen ist
Ernst Weiß (1882-1940) einer seiner unangefochtenen Lieblingsautoren. Der
Brünner Schriftsteller und Arzt, befreundet mit zahlreichen Kulturgrößen seiner
böhmisch-mährischen Heimat, Österreichs und Deutschlands aus der Zeit des
Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit, hat seltsamerweise nie die
Bekanntheit erreicht, die er verdient hätte. Tatsächlich war der vorliegende
„Georg Letham“ sein erfolgreichstes Werk zu Lebzeiten, er erschien 1930 – und
man vergleiche Thema und Stil mit dem oben genannten „Hortense“ von Otto Flake.
Zwischen beiden liegen Welten. Georg Letham ist ein zynischer Facharzt,
Bakteriologie, der sich für seine Mitmenschen nur als Experimentiermaterial
interessiert, Mitgefühl und Humanismus sind da nur hinderlich – da er jedoch
zudem hochintelligent ist, weiß er hierum sogar, er ist ein brillanter
Analytiker seiner selbst. Nur mag er hieraus keine Konsequenzen ziehen, wozu
auch, er lebt damit bestens. Außer zu seinem dominanten Vater, hoher Beamter im
Staat, hat er keinerlei Familienbindung, seine ältliche Frau verachtet er
mindestens so, wie sie ihn verehrt. Ihr Geld kann er als Lebemann gut brauchen,
trotzdem wird sie ihm zunehmend lästig. Als sich durch Zufälle – eine typisch
paradoxe Weiß-Konstellation – geradezu zwangsweise die Möglichkeit ergibt, sie
gefahrlos zu töten, für den erfahrenen Forscher Letham ein Kinderspiel, führt
er dies – wiederum ein originäres Weiß-Motiv – so nachlässig aus, dass er noch
Stunden später verhaftet wird. Das lässig hingenommene Urteil sendet ihn auf
eine Gefängnisinsel, wo todbringende Gelbfieberseuchen an der Tagesordnung
sind. Letham wird einer medizinischen Expedition zugeteilt, der schließlich
durch menschliche Selbstexperimente die Aufdeckung der Übertragung des
Gelbfiebers gelingt – unter hohen Verlusten. Das nur der ohnehin fesselnde
Plot, den Weiß mit sprachlicher Brillanz zu einem Panorama an Personen ausbaut,
die nie eindimensional sind, sondern ständiger psychologischer Wandlung
unterliegen, allen voran natürlich Letham selbst, der Ich-Erzähler, der vom
gefühlskalten Misanthropen zum Mitmenschen wird, der sich letztlich opfert.
Dazu kommen zahlreiche Episoden, von denen man sich beim Lesen nicht Losreißen
kann, etwa die gescheiterte Nordpol-Expedition des Vaters (Gegenstück zur
Südsee-Insel des Sohnes) mit ihren klaustrophobischen und Horror-Elementen oder
die minutiöse Schilderung einer Geburtsoperation, bei der Letham ein fataler
Fehler unterläuft. Eines der ganz großen Meisterwerke der österreichischen
Literatur des 20. Jahrhunderts, viel zu selten gewürdigt und gelesen und seit
langem wie das Gesamtwerk Weiß‘ – der übrigens in Frankreich zum Beispiel hoch
geschätzt wird – der Wiederentdeckung harrend. Also ab in den Laden, kaufen und
lesen!
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