Mittwoch, 30. Januar 2019

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (8) - Max Frisch: Stiller.


Max Frisch: Stiller. st 2647

 

Unzweifelhaft ist der erste Satz von Kafkas Der Prozess der berühmteste Romananfang des 20. Jahrhunderts, doch unterteilt man das Jahrhundert, dann dürfte ebenso unangefochten Max Frisch (1911-1991) für die zweite Hälfte den wohl bekanntesten Einstieg in einen Text für sich beanspruchen: Ich bin nicht Stiller! (7). Doch anders als Josef K. sieht sich der – vermeintliche – Stiller nicht obskuren Ämtern und einer nie enthüllten Anklage, sondern den akkuraten Schweizer Behörden mit einem klaren Ziel gegenüber: ihm das Gegenteil zu beweisen, freundlichen Versuchen, mich in eine fremde Haut zu stecken, unbestechlich bis zur Grobheit (7). Ist der Mann mit dem US-amerikanischen Pass auf den Namen White, festgenommen bei der Einreise an der Schweizer Grenze, der eidgenössische Staatsbürger und seit Jahren verschollen geglaubte mittelerfolgreiche Bildhauer Anatol Stiller – oder wie er uns selbst glaubhaft machen möchte, indem wir seine Aufzeichnungen aus dem Zürcher Untersuchungsgefängnis lesen, handelt es sich einen peinlichen Irrtum der von sich selbst so überzeugten Schweizer Justiz?

Tatsächlich scheint dies für gut 400 Seiten die Rezeptionsanleitung zu sein, die Leserin und Leser zu Kompliz*innen oder zu Untersuchungsrichter*innen des Verdächtigten macht, die den Text und das Verhalten Stillers/Whites nach Indizien absuchen, die ihn bestätigen oder widerlegen könnten. Dabei stößt man neben den objektiven Andeutungen in die ein oder andere Richtung, die einem aber nie einen endgültigen, schlüssigen Identifikationsbeweis in die Hand geben, auch noch auf zahlreiche andere Hinweise: Man kann alles erzählen, so Stiller/White, nur nicht sein wirkliches Leben; - diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln (62), die Wahrnehmung der anderen – als auch unsere – ist von ihrem eigenen Leben bestimmt, ist eine Projektion, gehört genaugenommen nicht einem selbst, sondern eben jenen anderen, es funktioniert alles wie ein Automat: oben fällt der Name hinein, der vermeintliche, und unten kommt schon die dazugehörige Umgangsart heraus, fix und fertig, ready for use (237). Bestenfalls ist man einer der vielen, die das eigene Leben gestalten. Auch hiervon macht Stiller/White rege Gebrauch: Er ist ein gewiefter Fabulierer. Wer sich über den naiven Glauben seines Wächters Knobel amüsieren kann, dem er allerlei „Erlebnisse“ aus einem abenteuerlichen Vorleben auftischt, weil dieser glücklich ist, endlich einmal einen ehrlichen Verbrecher vor sich zu haben, der wird bald selbst merken, dass auch den scheinbar nüchternen, gewissermaßen amtlichen Berichten Stillers/Whites nicht zu trauen ist – und er darf sich am Ende des Romans fragen, wie oft er selbst diesen auf den Leim gegangen ist, was falsch, was richtig war, ob sich dies überhaupt entscheiden lässt.

Natürlich spielt auch Frisch schon auf der Textebene ständig mit diesen Identifikationsunsicherheiten, liefert uns Parallelgeschichten vom verschollenen Fremdenlegionär Isidor oder dem amerikanischen Sagenhelden Rip van Winkle. Wer den Text nur auf der rein kriminalistischen Ebene liest – und Stiller ist, was dies angeht, sicher einer der spannendsten Romane der Weltliteratur – wird nicht schlauer. Fast alle seine Freunde und Bekannten erkennen in White Stiller, von seiner Ehefrau bis zum Bruder, aber keiner von ihnen kann dies letztlich mit Gewissheit belegen. Einen DNA-Test gibt es noch nicht, wir sind in den 1950er Jahren, aber eine Röntgenaugnahme vom Gebiss Stillers – leider stimmt sie nicht ganz mit dem Gebiss Whites überein. Whites Pass ist eine Fälschung – aber ist deshalb auch die Person dahinter falsch? Das allermeiste in unserem persönlichen Weltbild haben wir nie mit eigenen Augen erfahren, genauer: wohl mit eigenen Augen, doch nicht an Ort und Stelle; wir sind Fernseher, Fernhörer, Fernwisser (181), hier mehr denn je, denn vor uns liegt nur ein Text, Jedes Wort ist falsch und wahr, das ist das Wesen des Wortes, und wer immer nur alles glauben will oder nichts – (171) und Mit Lügen ist es ohne weiteres zu machen, ein einziges Wort, ein sogenanntes Geständnis, und ich bin „frei“, das heißt in meinem Fall, dazu verdammt, eine Rolle zu spielen, die nichts mit mir zu tun hat (81f.).

Eine Krimi-Lektüre Stillers ist natürlich – sosehr man quasi automatisch in diese Haltung mitverfällt, was Frisch ironisch durch das Einflechten ins Nichts führender Mord- und Spionagegeschichten noch befördert – wie nicht anders zu erwarten, wenig ergiebig. Stiller ist Stiller. Frisch schrieb keinen Detektiv- und keinen phantastischen Roman, der das Kriterium der Unentscheidbarkeit durchhält, also am Ende keine Eindeutigkeit zulässt. Sicher bleibt die Identität Stillers lange im Vagen und wird letztlich ziemlich abrupt, aber unspektakulär vereindeutigt. Textextern in Kenntnis von Max Frischs Motiv- und Themenvorlieben, die hier öfters explizit angesprochen werden: von der Frage nach nationaler Identifikation, hier natürlich mit der nicht sehr gut wegkommenden Schweiz, bis zum Bild des anderen, das zu machen wir ständig in Gefahr sind, die Nicht-Mitteilbarkeit der Sprache, großartig zusammengefasst, Je genauer man sich auszusprechen vermöchte, umso reiner erschiene das Unaussprechliche, das heißt die Wirklichkeit, die den Schreiber bedrängt und bewegt. Wir haben die Sprache, um stumm zu werden. Wer schweigt, ist nicht stumm. Wer schweigt, hat nicht einmal eine Ahnung, wer er nicht ist (323). Aber auch textimmanent hätte man nicht erst hinterher schlauer sein müssen: Stillers Angst vor Wiederholung (67) wird früh benannt, seine Flucht ohne Hoffnung (67), sein innerer Kerker, das Gefängnis ist nur in mir (19), Worte, die nur an der Oberfläche scheinbar die äußere, momentane Situation, aber letztlich Stillers gescheiterten Revisionsversuch eines falsch gelebten Lebens beschreiben.
 
Nur insofern ich weiß, dass es nie mein Leben gewesen ist, kann ich es annehmen: als mein Versagen (236), als Versündigung – sein Freund, der Staatsanwalt, nennt es mehrfach recht drastisch eine Vergewaltigung – an seiner Frau durch Lieblosigkeit, die er auch im zweiten Versuch nicht ablegen kann; stattdessen erfolgt die so gefürchtete Wiederholung, statt der erhofften Verwandlung und der erhofften conditio sine qua non; dass er, Gott, mich, sein Geschöpf, widerrufe (317). Stiller war frei geworden von der Sucht, überzeugen zu wollen (376), doch die Gnade, an die er zwischenzeitlich zu glauben scheint, bereit, niemand anders zu sein, als der Mensch, als der ich eben geboren worden bin, und kein anderes Leben zu sein, als dieses, das ich nicht von mir werfen kann (373), ist eine Illusion, war vielleicht tatsächlich nahe, wie er selbst zugibt, aber nicht von Dauer. Stiller möchte verzweifelt er selbst ein. Und Frisch spielt diese Möglichkeit durch. Noch vor dem berühmten Einleitungssatz steht ein Zitat von Kierkegaard.

Vorgänger Teil (7): Hermann Hesse - Narziß und Goldmund.
 

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