Max Frisch:
Stiller. st 2647
Unzweifelhaft
ist der erste Satz von Kafkas Der Prozess der berühmteste Romananfang
des 20. Jahrhunderts, doch unterteilt man das Jahrhundert, dann dürfte ebenso
unangefochten Max Frisch (1911-1991) für die zweite Hälfte den wohl
bekanntesten Einstieg in einen Text für sich beanspruchen: Ich bin nicht
Stiller! (7). Doch anders als Josef K. sieht sich der – vermeintliche –
Stiller nicht obskuren Ämtern und einer nie enthüllten Anklage, sondern den
akkuraten Schweizer Behörden mit einem klaren Ziel gegenüber: ihm das Gegenteil
zu beweisen, freundlichen Versuchen, mich in eine fremde Haut zu stecken,
unbestechlich bis zur Grobheit (7). Ist der Mann mit dem US-amerikanischen
Pass auf den Namen White, festgenommen bei der Einreise an der Schweizer
Grenze, der eidgenössische Staatsbürger und seit Jahren verschollen geglaubte
mittelerfolgreiche Bildhauer Anatol Stiller – oder wie er uns selbst glaubhaft
machen möchte, indem wir seine Aufzeichnungen aus dem Zürcher
Untersuchungsgefängnis lesen, handelt es sich einen peinlichen Irrtum der von
sich selbst so überzeugten Schweizer Justiz?
Tatsächlich
scheint dies für gut 400 Seiten die Rezeptionsanleitung zu sein, die Leserin
und Leser zu Kompliz*innen oder zu Untersuchungsrichter*innen des Verdächtigten
macht, die den Text und das Verhalten Stillers/Whites nach Indizien absuchen,
die ihn bestätigen oder widerlegen könnten. Dabei stößt man neben den objektiven
Andeutungen in die ein oder andere Richtung, die einem aber nie einen
endgültigen, schlüssigen Identifikationsbeweis in die Hand geben, auch noch
auf zahlreiche andere Hinweise: Man kann alles erzählen, so
Stiller/White, nur nicht sein wirkliches Leben; - diese Unmöglichkeit ist
es, was uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln
(62), die Wahrnehmung der anderen – als auch unsere – ist von ihrem eigenen
Leben bestimmt, ist eine Projektion, gehört genaugenommen nicht einem selbst,
sondern eben jenen anderen, es funktioniert alles wie ein Automat: oben
fällt der Name hinein, der vermeintliche, und unten kommt schon die
dazugehörige Umgangsart heraus, fix und fertig, ready for use (237).
Bestenfalls ist man einer der vielen, die das eigene Leben gestalten. Auch
hiervon macht Stiller/White rege Gebrauch: Er ist ein gewiefter Fabulierer. Wer
sich über den naiven Glauben seines Wächters Knobel amüsieren kann, dem er
allerlei „Erlebnisse“ aus einem abenteuerlichen Vorleben auftischt, weil dieser
glücklich ist, endlich einmal einen ehrlichen Verbrecher vor sich zu haben, der
wird bald selbst merken, dass auch den scheinbar nüchternen, gewissermaßen
amtlichen Berichten Stillers/Whites nicht zu trauen ist – und er darf sich am
Ende des Romans fragen, wie oft er selbst diesen auf den Leim gegangen ist, was
falsch, was richtig war, ob sich dies überhaupt entscheiden lässt.
Natürlich spielt
auch Frisch schon auf der Textebene ständig mit diesen
Identifikationsunsicherheiten, liefert uns Parallelgeschichten vom
verschollenen Fremdenlegionär Isidor oder dem amerikanischen Sagenhelden Rip
van Winkle. Wer den Text nur auf der rein kriminalistischen Ebene liest – und Stiller
ist, was dies angeht, sicher einer der spannendsten Romane der
Weltliteratur – wird nicht schlauer. Fast alle seine Freunde und Bekannten
erkennen in White Stiller, von seiner Ehefrau bis zum Bruder, aber keiner von
ihnen kann dies letztlich mit Gewissheit belegen. Einen DNA-Test gibt es noch
nicht, wir sind in den 1950er Jahren, aber eine Röntgenaugnahme vom Gebiss
Stillers – leider stimmt sie nicht ganz mit dem Gebiss Whites überein. Whites
Pass ist eine Fälschung – aber ist deshalb auch die Person dahinter falsch? Das
allermeiste in unserem persönlichen Weltbild haben wir nie mit eigenen Augen
erfahren, genauer: wohl mit eigenen Augen, doch nicht an Ort und Stelle; wir
sind Fernseher, Fernhörer, Fernwisser (181), hier mehr denn je, denn vor
uns liegt nur ein Text, Jedes Wort ist falsch und wahr, das ist das Wesen
des Wortes, und wer immer nur alles glauben will oder nichts – (171) und Mit
Lügen ist es ohne weiteres zu machen, ein einziges Wort, ein sogenanntes
Geständnis, und ich bin „frei“, das heißt in meinem Fall, dazu verdammt, eine
Rolle zu spielen, die nichts mit mir zu tun hat (81f.).
Eine
Krimi-Lektüre Stillers ist natürlich – sosehr man quasi automatisch in
diese Haltung mitverfällt, was Frisch ironisch durch das Einflechten ins Nichts
führender Mord- und Spionagegeschichten noch befördert – wie nicht anders zu
erwarten, wenig ergiebig. Stiller ist Stiller. Frisch schrieb keinen Detektiv-
und keinen phantastischen Roman, der das Kriterium der Unentscheidbarkeit
durchhält, also am Ende keine Eindeutigkeit zulässt. Sicher bleibt die
Identität Stillers lange im Vagen und wird letztlich ziemlich abrupt, aber
unspektakulär vereindeutigt. Textextern in Kenntnis von Max Frischs Motiv- und
Themenvorlieben, die hier öfters explizit angesprochen werden: von der Frage
nach nationaler Identifikation, hier natürlich mit der nicht sehr gut
wegkommenden Schweiz, bis zum Bild des anderen, das zu machen wir ständig in
Gefahr sind, die Nicht-Mitteilbarkeit der Sprache, großartig zusammengefasst, Je
genauer man sich auszusprechen vermöchte, umso reiner erschiene das
Unaussprechliche, das heißt die Wirklichkeit, die den Schreiber bedrängt und
bewegt. Wir haben die Sprache, um stumm zu werden. Wer schweigt, ist nicht stumm.
Wer schweigt, hat nicht einmal eine Ahnung, wer er nicht ist (323). Aber
auch textimmanent hätte man nicht erst hinterher schlauer sein müssen: Stillers
Angst vor Wiederholung (67) wird früh benannt, seine Flucht ohne
Hoffnung (67), sein innerer Kerker, das Gefängnis ist nur in mir
(19), Worte, die nur an der Oberfläche scheinbar die äußere, momentane
Situation, aber letztlich Stillers gescheiterten Revisionsversuch eines falsch
gelebten Lebens beschreiben.
Nur insofern ich weiß, dass es nie mein Leben
gewesen ist, kann ich es annehmen: als mein Versagen (236), als Versündigung – sein Freund, der Staatsanwalt, nennt es
mehrfach recht drastisch eine Vergewaltigung – an seiner Frau durch
Lieblosigkeit, die er auch im zweiten Versuch nicht ablegen kann; stattdessen
erfolgt die so gefürchtete Wiederholung, statt der erhofften Verwandlung
und der erhofften conditio sine qua non; dass er, Gott, mich, sein Geschöpf,
widerrufe (317). Stiller war frei geworden von der Sucht, überzeugen zu
wollen (376), doch die Gnade, an die er zwischenzeitlich zu glauben
scheint, bereit, niemand anders zu sein, als der Mensch, als der ich eben
geboren worden bin, und kein anderes Leben zu sein, als dieses, das ich nicht
von mir werfen kann (373), ist eine Illusion, war vielleicht tatsächlich
nahe, wie er selbst zugibt, aber nicht von Dauer. Stiller möchte verzweifelt er
selbst ein. Und Frisch spielt diese Möglichkeit durch. Noch vor dem berühmten
Einleitungssatz steht ein Zitat von Kierkegaard.
Vorgänger Teil (7): Hermann Hesse - Narziß und Goldmund.
Vorgänger Teil (7): Hermann Hesse - Narziß und Goldmund.
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