Michel
Tournier: Le coq de bruyère.
Der
vor zwei Jahren verstorbene Franzose Michel Tournier (1924-2016) hat ein
eigenwilliges Werk hinterlassen, das Skurriles mit Realismus verband. „Le coq
du bruyère“ („Der Auerhahn“) ist ein Sammelband mit Erzählungen – und einem
Theatermonolog zum Abschluss –, die diesem Ruf nur zu gerecht werden. Stillende
Weihnachtsmänner, schürzenjagende Generäle – der titelgebende Auerhahn -,
todeswillige Mädchen, verliebte Kleinwüchsige, modeliebende Fetischisten, all
das bietet Tournier, ohne dabei ins völlig Absurde oder rein Groteske zu
verfallen, da er die bizarren Geschehnisse in einem nüchternen Erzählstil
schildert, was den eigentümlichen Reiz seines Werkes ausmacht. Nicht jede
Geschichte zündet gleichermaßen, aber wenn, dann hat man ein kleines
vergnügliches, aber trotzdem oft nachdenklich machendes Meisterstück vor sich.
Maggie
O‘Farrell: The Vanishing Act of Esme Lennox.
Wir
wechseln die Sprache und finden uns im Schottland der Gegenwart wieder – aber nicht
nur. Tatsächliche und erzählte Rückblenden führen uns aus verschiedenen
Blickwinkeln in die Jugend der titelgebenden Protagonistin, der aufmüpfigen
Esme Lennox, die nicht gewillt ist, sich den strengen Sitten ihrer Familie zu
unterwerfen und die hierfür mehr als einmal einen sehr hohen Preis zu zahlen
hat. Dies verbindet sich für uns als Leser*innen alles erst ganz langsam mit
dem zweiten Erzählstrang im gegenwärtigen Edinburgh, wo die Ladenbesitzerin
Iris urplötzlich erfährt, dass sie nicht nur eine vorher nie erwähnte Großtante hat,
sondern dass diese seit Jahrzehnten in einer psychiatrischen Anstalt einsitzt,
aus der sie in Kürze entlassen wird, weshalb man sich an sie als (scheinbar)
nächster Verwandter wendet. Thematisch ist vieles an dem Roman von Maggie
O’Farrell (geboren 1972) eigentlich nicht neu, es ist ein klassischer
Familiengeheimnisroman, allerdings einer der ganz klugen Sorte, schon allein
wegen der cleveren Verschachtelungen, die immer wieder überraschende Wendungen
und das langsame Aufdecken der Zusammenhänge ermöglichen. Schon der mehrdeutige
Titel – Esme beherrscht das aktive, erleidet aber auch das passive Verschwinden
– lässt erahnen, dass es sich um einen ebenso spannenden wie intelligenten
Roman handelt, der vor allem auch durch seine sympathischen Frauenfiguren
besticht.
William
Gibson: Pattern Recognition.
William
Gibson (geboren 1948) muss sich um seinen Eintrag in die Kulturgeschichtsbücher
keine Sorgen mehr machen. Der in Kanada lebende Schriftsteller hat wie schon
unter anderem Karel Capek mit „Roboter“ oder Vladimir Nabokov mit „Lolita“
einen Begriff kreiert, der in die weltweite Umgangssprache einging:
„Cyberspace“. Und nebenbei hat er auch dem Science-Fiction-Genre neue Räume
eröffnet. „Pattern Recognition“ von 2002 ist allerdings eher Thriller als
Sci-Fi: Eine Gruppe von Internet-Nerds sucht hinter das Geheimnis eines Filmes
zu kommen, der in winzigen, unabhängigen Fragmenten peu à peu im Netz
auftaucht. Auch der undurchsichtige Chef der Firma, für die Cayce, die Protagonistin,
gerade in London einen Auftrag erfüllt, interessiert sich für das virale
Phänomen, hält er es doch für eine geniale Marketing-Strategie, deren Urheber
er verpflichten möchte. Mit Hilfe ihrer Internetfreunde, dubioser Partner und
bald bedroht von offenbar skrupellosen Verfolgern macht sich Cayce auf die
Suche. Etwa nach der Hälfte des Buches fragt man sich ernsthaft, ob es wirklich
so spannend ist, wer da irgendwelche Filmschnipsel ins Internet stellt, tröstet
sich aber mit dem Gedanken, dass ja wohl eine spektakuläre Pointe folgen muss.
Derweil entwickelt man die gleiche Allergie wie die Hauptfigur gegen jegliche
Markenartikel. Überhaupt wirkt Gibsons Roman wie ein Instant-Rezept oder
Bond-Film mit den üblichen Zutaten: Viele Ortswechsel, ständige Hinweise auf
Aktualität – eben durch die Nennung von Markennamen, obwohl doch gerade Gibson
wissen müsste, wie schnell die Zukunft altert (die Romanfiguren nutzen
den Browser „Netscape“) – und dann auch noch russische Oligarchen. Dazu kommen schlecht
integrierte Nebenschauplätze, etwa das ungeklärte Verschwinden von Cayces Vater
am 11. September 2011 in New York. Und das Kurioseste an dem Ganzen: Von wegen
spektakuläre Pointe… Das Geheimnis löst sich in einer wirren und hanebüchenen
Story auf, die man nur deshalb als überraschend bezeichnen kann, weil es einen
wirklich wundert, womit uns Gibson hier abzuspeisen versucht.
Joseph
Conrad: Der Verdammte der Inseln.
Freimütig
bekennt Joseph Conrad (1857-1924) im Vorwort, dass er diesen seinen zweiten
Roman einst auf Vorschlag seines Verlegers mehr oder weniger aus mangelnden
Alternativen und ohne echte persönliche Neigung außer der Lust am Schreiben
angefertigt hat. „Angefertigt“, weil er einerseits tatsächlich Erlebtes verwandte
und andererseits die Conrad-typischen Merkmale – nicht zum letzten Mal – zu
einer Erzählung kombiniert hat: Seefahrertum, exotische Schauplätze, den
Dschungel, Einblicke in das Leben und Denken der verschiedenen mit- aber vor
allem nebeneinander wohnenden Gruppen von Kolonisten, Einheimischen und
Mischlingen. Im Mittelpunkt steht einmal mehr der Konflikt eines einzelnen
Ausgestoßenen aus allen Gesellschaften, eines Weißen, der hier in der Fremde
zugrundegeht, Willems, eigentlich ein überkorrekter Aufsteiger, der durch einen
eigenen Fehler bald zwischen alle Fronten gerät und um seine Identität kämpft,
ohne jemals Aussicht auf Akzeptanz zu haben. Wie immer motiviert Conrad gewesen
sein mag, er schuf auch mit diesem Roman einen Klassiker.
Heinz
Knappe: Bei Hamburg leichter Niederschlag.
Dieser
Roman für Jugendliche, erstmals 1982 erschienen, ist ein ziemlich erstaunliches
Buch. Das von Heinz Knappe (1924-1997) gewählte Sujet überrascht erst einmal
nicht: Es geht um die Gefahren der Atomkraft. Noch viel typischer für die
1980er als das Thema ist allerdings die Weltsicht des Autors. Zwar reiht Knappe
durch ständigen Perspektivenwechsel zahlreiche verschiedene Blickwinkel
aneinander, die auch sich widersprechende Meinungen repräsentieren, doch ist
den meisten Akteuren eine Sichtweise zu eigen, die mit Idealismus o. ä. nichts
zu tun hat: was – dem Klischee nach – bei den politisch Verantwortlichen kaum
überrascht, zeigt sich jedoch auch bei ihren Gegnern, den Umwelt- und
Anti-Atom-Aktivisten. Das „Friedensdorf“ wird nur errichtet, weil man auf
Bildmaterial für die Presse hofft, sobald man dessen Erstürmung provoziert hat.
Eine selbstgebastelte Rakete, in die Nähe des AKW abgefeuert, dient dem
gleichen Zweck. Selbstinszenierung ist das Ziel. Die beiden einzigen
sympathischen Figuren, Elke und ihr Onkel, ebenfalls auf zwei Seiten stehend,
sind nur Spielbälle voller Ahnungslosigkeit. Und Opfer – was allerdings für
alle gilt, ob schuldig oder unschuldig. Problematisch an dem mehrfach
preisgekrönten und gern als Schullektüre genutzten Roman ist, dass er – schon
im Titel erkennbar – die zynische Sicht übernimmt. Die Reaktorkatastrophe wird
durch Zufall von einem Jugendlichen ausgelöst, der aus Verliebtheit Elke
beeindrucken möchte, also nicht aus Überzeugung, sondern einmal mehr zum Zweck
der hier persönlichen Selbstinszenierung. Durch diesen Gesamttenor gewinnt auch
der Aufbau des Romans als Countdown hin zur Katastrophe einen fragwürdigen
Beigeschmack, da er gewissermaßen ein mit Spannung aufgeladenes Herabzählen zur
– auch eintretenden – Massenvernichtung darstellt, mit der er, ohne auf die
Folgen einzugehen, abbricht. Wie gesagt, ein durch seinen blanken Zynismus
erstaunliches Buch, ein Dokument einer geradezu obsessiven Lust am Untergang.
Valentine
Ermatinger: Die 13. Prophezeiung.
Apropos
Lust am Untergang in den 1980er Jahren. Vom Ende dieses Jahrzehnts stammt auch
der Jugendroman der niederländischen Autorin Valentine Ermatinger (außer der
Tatsache, dass sie bereits verstorben ist, findet sich wenig zu ihrer
Biographie), womit die Gemeinsamkeiten aber auch schon abgehandelt sind. War
Knappe in seinem zynischen Realismus wenigstens konsequent, so scheint
Ermatinger nie so genau zu wissen, was für eine Art Buch sie schreiben wollte:
Abenteuergeschichte, Weltuntergangsszenario, Fantasy, Science-Fiction? Das
inhaltliche Sammelsurium spiegelt auch die mangelhafte Struktur wider, die die
Handlung schlecht proportioniert, teils den Faden zu verlieren scheint (und
tatsächlich hin und wieder verliert), zuviele Einfälle ohne Rücksicht auf die
Logik vermengt, kurzum das literarische Handwerk nur ungenügend beherrscht.
Gute Jugendbücher – es wurde hier schon des öfteren betont – lassen sich auch
von Erwachsenen mit Gewinn lesen, dieses ist schon eine Zumutung für das junge
Publikum. Seinem Erfolg tat dies keinen Abbruch, Fortsetzungen folgten…
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