Ödön von
Horváth: Ein Kind unserer Zeit. st 2716
Schon seit
längerer Zeit gehört Ödön von Horváth (1901-1938) zu den meistgespielten
Theaterautoren nicht nur auf deutschsprachigen Bühnen. Einst im Rahmen des
„kritischen Volksstücks“ der 1960er Jahre als vermeintlicher Vorläufer
wiederentdeckt, wurde dem Publikum im Laufe der Zeit klar, dass dieser
österreichisch-ungarische Schriftsteller mehr zu bieten hatte als nur die Geschichten
aus dem Wiener Wald. Horváths Prosa steht etwas hinter seiner aktuellen
Präsenz auf den Bühnen zurück, doch hat auch sie von der dadurch entstandenen
Aufmerksamkeit profitieren können. Zurecht. Doch naturgemäß darf man die Frage
stellen, warum sich ein vor fast achtzig Jahren auf äußerst tragische Weise
verstorbener Autor in unseren Tagen so großer Beliebtheit erfreut?
Nimmt man nur einige der Prosatitel Horvaths zurate, deutet sich allein
hierdurch eine gewisse Erklärung an: Sportmärchen, Jugend ohne Gott,
Der ewige Spießer. Sie alle scheinen Themen aufzugreifen, aus denen die
Aktualität geradezu herauszulesen ist: Faszination und Illusion des
Sport(geschäftes), eine orientierungslose Jugend ohne – oder mit falscher –
Anleitung, die Dominanz oder Rückkehr sehr einfachen, aber triumphalistischen
Denkens. Als Beitrag für die Reihe der Romane des Jahrhunderts wählte Suhrkamp
Horváths letzten und erst postum erschienenen kurzen Text Ein Kind unserer
Zeit (1938). Nun könnte gerade diesem Roman aufgrund seines Titels das
Verfallsdatum eindeutig anhaften: unsere, also Horváths Zeit der späten
Dreißiger Jahre, kann kaum unsere Zeit der Gegenwart sein. Wollte man meinen
und hoffen.
Und doch: die bis auf die Schlussseiten im inneren Monolog erzählte
Geschichte eines Soldaten weist nur allzu viele Parallelen zu heutigen
Tagesereignissen auf. Natürlich ist der junge Mann, Kriegskind (18) von
1917 und Halbwaise, ein Kind seiner Zeit, aufgewachsen in den wirtschaftlich
dürren Jahren der Weimarer Republik, die den Absturz des Vaters zum Kellner und
die Verachtung des Sohnes für das überwundene „System“ bedingt. Es herrscht
Sehnsucht nach Klarheit und Strukturen: Jetzt ist alles fest. Endlich in
Ordnung (14). Halt gibt das Einreihen in die Armee, in die Gemeinschaft,
die Unter- und Einordnung in Volk und Vaterland; Disziplin nennt sich das
unhinterfragte Folgen der Vorgesetzten, der Führer, denn durch das
eigenständige Denken kommt man auf ungesunde Gedanken (28).
Darum sammeln sich im Kopf des jungen Soldaten nichts anderes als
aneinandergereihte, teils widersprüchliche Phrasen, die ihm das Reflektieren
über sein Handeln ersparen und die eigene zynische Menschenverachtung
erleichtern, die sich auf seine Umgebung, seinen Vater, zuletzt ihn selbst
erstreckt. Doch diese Ein-Satz-Prosa in ihrer Rhythmik des Einhämmerns bewahrt
ihn am Ende nicht vor den ständigen Enttäuschungen des Lebens: der bewunderte
Hauptmann stellt sich als Anhänger überwunden geglaubter Rest-Mitmenschlichkeit
heraus, der verachtete Vater als hilfsbereiter Wendehals, die Offizierswitwe
als wenig wählerisches leichtes Mädchen. Die Kriegsrhetorik der neuen Regierung
verroht nicht nur die Soldaten, sondern alle Mitmenschen. Dies alles wird dem
Protagonisten zwar bewusst, doch ist er zu sehr Kind seiner Zeit, um ohne die
Illusionen leben zu können, mit denen er aufgewachsen ist. Überhaupt wird er
von Illusionen beherrscht: eine Kassiererin in einem Vergnügungspark,
Eingangsdame zu einem verwunschenen Schloß, wird ihm aufgrund einer
Verwechslung zu seiner Schwester, deren trauriges Schicksal es zu rächen
gilt; zwar hat er das Unmenschliche hinter der Fassade des Regimes nun erkannt,
weiß aber kein anderes Mittel als die Gewalt. Auch sprachlich schafft er die
Befreiung nicht. Hat er früher auf Befehl die Welt von Untermenschen
gesäubert, so mordet er nun heimlich im Namen seiner eigenen Gerechtigkeit.
Brillant fängt Horváth diese innere Erstarrung und Kälte im Schlussbild ein:
das Kind seiner Zeit sitzt erfroren im Park, es sitzt ein Schneemann auf der
Bank, er ist ein Soldat (127).
Der junge Mensch ohne innere Festigkeit und Substanz ist ein Kind seiner
Zeit und – leider – ein Kind aller Zeiten. Horváths Roman bleibt trotz aller
historischen Anspielungen im Vagen, durchaus im positiven Sinne. Es fällt –
wiederum leider – nicht sehr schwer, die zahlreichen aktuellen Bezüge des
Buches herzustellen. Dies zu tun, bleibt dem Leser und der Leserin selbst
überlassen, denen die Lektüre des Romans sehr ans Herz gelegt wird. Und wer
noch mehr über unsere Zeit erfahren möchte, der sollte anschließend zu Jugend
ohne Gott und zum Ewigen Spießer greifen.
Vorgänger (Teil 13): José Lezama Limo - Paradiso.
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