Donnerstag, 5. Dezember 2019

Lektüremonat November 2019.



Jan de Leeuw: Schrödinger, Dr. Linda und eine Leiche im Kühlhaus.

Vom albernen Titel sollte man sich einmal mehr nicht abschrecken lassen:
im Original heißt der kurze Roman des Niederländers Jan de Leeuw (geboren 1968) schlicht „Kühlkammer“. Anfangs spricht uns der vermeintliche Autor persönlich an, mit einer – irreführenden – Erklärung zu folgendem Geschehen: ein Junge wartet mit Rose und Brief auf einer Brücke. Na klar, ein Rendez-vous. Ganz so klar ist das aber doch nicht. Der Junge hat nämlich ein Problem…beziehungsweise ganz schön viele Probleme. Er findet eines Morgens seine tote Mutter im Bett: Selbstmord. Um sie vor seiner kleinen Schwester zu verbergen, die sich auf ihren bevorstehenden Geburtstag freut, versteckt er sie in der heimischen Kühlkammer. Sein Vater war nämlich Metzger, der jedoch von einem Moment auf den anderen abgrundtiefen Ekel vor Fleisch entwickelt und, weil er überall Tiermörder sieht, nun in der Psychiatrie sitzt. Jonas muss eine Geschichte über das Ausbleiben seiner Mutter erfinden, ihre Leiche loswerden, den Geburtstag seiner Schwester organisieren, die neugierige Nachbarin abwehren, wird mit den Leserbriefen der Kund*innen seiner Mutter bombardiert, die als Dr. Linda die Sorgentante einer Zeitschrift war und verliebt sich dabei auch noch in eine dieser Schreiberinnen, die seine Mutter stalkt und dabei sein Geheimnis entdeckt. Womöglich können nur Niederländer ein so traurig makabres Buch mit soviel sanftem schwarzen, ganz unaufdringlichem Humor mit äußerst liebenswerten Charakteren schreiben. Warum nur ist dieser Roman schon nach 130 Seiten zu Ende?       

Stewart Home: Stellungskrieg.

Die Verbindung von Punk, Politik und Pornographie zelebriert Stewart Home (geboren 1962) in seinem bewusst trashigen Underground-Roman der frühen 1990er. Der anarchistische Boot-Boy Terry Blake, ein linker Skinhead, vögelt sich so durch sein ziemlich belangloses Londoner Alltagsleben, zitiert beim Sex am liebsten hochtrabende Theorietexte und bringt nebenbei die gesamte Szene aus linken Splittergruppen, Neofaschisten, rassistischer Polizei und ideologiefreier Bourgeoisie durcheinander, beziehungsweise diese sich gegenseitig alle um. London mitsamt der britischen Regierung geht dabei auch noch kaputt. Da sich alle brauchen, um sich zu legitimieren, bleibt konsequenterweise zum Schluss auch niemand übrig. Sicher kein Buch für literarische Feinschmecker*innen, kühl im Tonfall werden Gewalt- und Sexexzesse geschildert, dazu mit zahlreichen politischen Diskursen in etlichen Zitaten gespielt, alles sehr, sehr postmodern. Das Ganze ist nicht ohne Reiz, der vielleicht nicht ganz ungefährlich ist, die Gefahr bleibt aber gleichwohl gering, weil an Nachwirkung wenig hängenbleiben dürfte.

Hans Werner Kettenbach: Schmatz oder Die Sackgasse.      

Zwar steigt das Buch mit einer Mordphantasie ein, doch lässt Hans Werner Kettenbach (1928-2018) über die nächsten zweihundert Seiten vergessen, dass er einen Kriminalroman geschrieben hat – und zwar einem im Sinne der literaturwissenschaftlichen Definition, sprich die Geschichte eines Verbrechens. Für die Vorgeschichte des Mordes aber lässt sich Kettenbach, wie erwähnt, viel Zeit, so dass man zeitweilig vergisst, dass man nicht einen Roman über die Werbebranche in den 1980er Jahren liest, sondern dem Aufbau eines Mordmotivs beiwohnt. Spannend ist das trotzdem. Zwar sind die Figuren etwas klischeehaft, auch ist das Marketing-Milieu inzwischen oft genug portraitiert worden, aber ein guter Erzähler ist Kettenbach unzweifelhaft, der seine Leser*innen auf andere Art in die Irre führt als buchstäblich über die üblichen Verdächtigen. Der bereits von uns miterlebte, akribisch durchdachte Mord findet nicht statt – und dann, ganz anders, eben doch.

Clara Viebig: Charlotte von Weiß.

Zu einem Verlagsjubiläum legte der Ullstein-Verlag in hübscher Retro-Aufmachung einige Erfolgsklassiker der frühen Jahre neu auf, darunter auch diesen, so der Untertitel, „Roman einer schönen Frau“ von Clara Viebig (1860-1952). Alles an diesem Buch kommt, anders als von einem einstigen Bestseller zu erwarten, reichlich unscheinbar daher. Der Titel ist ähnlich banal wieder Untertitel, auch die ursprüngliche Veröffentlichungsform als Kolportage-Fortsetzungsroman in den 1920er Jahren lässt eigentlich ebenso wie der Ruf der damals extrem erfolgreichen Schriftstellerin Spektakuläreres erwarten als diese Geschichte eines jungen, etwas frühreifen und koketten Mädchens aus der Provinz, Tochter eines niederen Beamtenadels aus dem Preußen Friedrichs des Großen. Kenner*innen horchen allerdings auf, als die junge Dame, um endlich ihrer Herkunft zu entfliehen, den vermögenden, aber über 30 Jahre Gerichsrat Ursinus heiratet. Ursinus? Der nicht gerade weitgebräuchliche Name steht für eine der großen Giftmörderinnen der Geschichte. Darin zeigt sich die Klasse der Autorin: Jenseits von allem Reißerischen begibt sie sich von Jugend auf in die Perspektive der späteren Mörderin, deren Taten fast nebenher, noch dazu recht spät im Roman geschildert werden. Ein Rätsel bleibt die Ursinus trotzdem, Viebig beweist auch hier ihr Können: ihre Protagonistin bleibt als komplexer, undurchschaubarer Charakter offen, das Urteil der Leserin und dem Leser überlassen.

Dashiell Hammett: Rote Ernte. 

Der bedächtige Wachtmeister Studer aus der Schweiz und Dashiell Hammettts (1894-1961) in „Rote Ernte“ namenloser beziehungsweise vielnamiger – Privatdetektiv – haben nicht nur ihre Entstehungszeit gemeinsam, sondern auch das Schicksal, oft kopiert und noch viel seltener erreicht worden zu sein (ob nie, ist eine spannende Frage…). Ansonsten leben sie naturgemäß in unterschiedlichen Romanwelten: Hammetts Ermittler wird nach Peaceville gerufen, das seinem eigentlichen Namen keine, dem Spottnamen Pissville dagegen alle Ehre macht. Doch sein avisierter Gesprächspartner, ein Zeitungsverleger, wird noch vor der ersten Unterredung umgebracht. Offenbar ein Racheakt an seinem Vater, dem mächtigen Minenbesitzer, dem Stadt und Staat unterworfen sind. Das bislang gut austarierte Gleichgewicht zwischen dem alten Herrn, der korrupten Polizei und den Chefs der örtlichen Verbrecherbanden gerät aus den Fugen. Unser Detektiv versucht wieder Ordnung in die Angelegenheit zu bringen, indem er das Chaos noch erhöht, wobei er aufpassen muss, bei den ständig wechselnden Fronten nicht den Überblick und das Leben zu verlieren. Geschliffene Dialoge, clevere Verführerinnen, sehr viel Alkohol und fast noch mehr Tote, kurz: Dashiell Hammett.  

Margaret Millar: Kannibalen-Herz. 

Eine junge New Yorker Familie mietet sich für die Sommerferien in einem abgelegenen Landhaus nahe der kalifornischen Küste ein, das derzeit nur von der Hausmeisterfamilie bewohnt wird.
Doch überraschend kommt die Besitzerin, die 36jährige Witwe Mrs. Wakefield, auf ein paar Tage vorbei, um ein paar Habseligkeiten mitzunehmen, da sie das Anwesen verkaufen möchte. Die Eigentümerin umgeben wie auch das Haus einige Geheimnisse. So ist ihr Sohn Billy kürzlich auf einer Kreuzfahrt ertrunken, wie sich herausstellt, ein behindertes, auf Hilfe angewiesenes und vor der Öffentlichkeit meist verstecktes Kind. Die Eltern litten unter dem Hin- und Hergerissensein über die Missgeburt und der Liebe zu dem hilflosen Kind. Für die Gäste bleibt Mrs. Wakefield undurchschaubar: Besteht Grund zur Eifersucht seitens der Ehefrau? Gibt es nicht Ungereimtheiten betreffs des Selbstmordes von Mr. Wakefield? Wie gefährlich ist die Frau, in deren Umgebung die von ihr Geliebten sterben? Ist die naive neunjährige Tochter Jessie Ersatz für den toten Sohn? Spannung mit Tradition und viel Akzent auf der Charakterisierung der Personen. Kein Reißer, aber sehr unterhaltsam.

Eva Hornung: Dog Boy.

Im Moskau kurz nach der Jahrtausendwende bleibt ein vierjähriger Junge allein in einer schäbigen Stadtrandwohnung zurück – keine Spur von seinem Onkel und seiner Mutter, die sich ohnehin nur noch sporadisch um ihn kümmerten. Er macht sich auf den Weg durch die Siedlung an einer großen Müllhalde und schließt sich einem Rudel streunender Hunde an, die ihn bald als Mitglied akzeptieren, so wie er die Hunde als neue Familie akzeptiert. Immer mehr passt er sich ihrem Verhalten und ihren Instinkten an. Seine Position zwischen Mensch und Hund hat zwar auch ihre Nachteile – etwa sein mangelhafter Geruchssinn – doch kann er seine menschlichen Eigenschaften umgekehrt zum Wohl des Rudels einsetzen, so erweitert er zum Beispiel durch Metrofahrten das Jagdgebiet der Schar. Doch das Leben des Rudels ist von vielerlei Gefahren bedroht: konkurrierende Tiere und Menschen, Hundejagden der Behörden und die Öffentlichkeit, die irgendwann auf die Existenz des Hundejungen aufmerksam wird. Und dann schleppt die Rudelmutter auch noch einen Menschensäugling an… Eva Hornung (geboren 1964), eine Australierin, schildert im ersten Abschnitt die Metamorphose vom Kleinkind zum Hundejungen aus dessen Sicht, bevor sie in den beiden Folgekapiteln verschiedene Perspektiven einnimmt, als der Konflikt zwischen Mensch- und Tiersein durch Kontakt mit mehr Mitmenschen stärker hervorbricht. Das Phänomen vernachlässigter „Hundekinder“ in ausufernden Metropolen beschreibt Hornung mit hartem Realismus und ohne zu werten.                
                              

Michael Naumann (Hg.): Made in the U.S.A.

Diese Anthologie zeitgenössischer US-amerikanische Autoren – zeitgenössisch heißt in diesem Fall um 1995, als der Band erschien – versammelt, so der Untertitel „Neue Stories aus Amerika“. Und zwar von A wie Auster über D wir Dische bis U wie Updike – übrigens tatsächlich in alphabetischer Reihenfolge. Dabei ist das Buch keineswegs ein Sammelsurium, im Gegenteil. Ob das nun an der ordnenden Hand des Herausgebers liegt oder an einer doch recht einheitlichen Strömung dieser Literaturform in den USA, sei dahingestellt, auffällig ist, dass sich die AutorInnen überwiegend Beziehungen widmen, bei denen nicht ein Ereignis, sondern eher der Verlauf im Mittelpunkt steht. Zweite Gemeinsamkeit: alle, selbst die sonst wenigstens etwas experimenteller Veranlagten wie Auster, bedienen sich eines traditionellen, realistischen Erzählstils – zum Lesen ist das natürlich angenehmer, es entspricht auch dem Romanschaffen der meisten – aber eben nicht aller – der „großen“ US-amerikanischen RomanautorInnen – DeLillo wäre ein Gegenbeispiel. Man bekommt somit nicht ganz den Eindruck aus dem Kopf, dass die Anthologie so ganz repräsentativ nicht ist, sondern schon auf das breitere Publikum angelegt, das sich durch Experimente wohl eher nicht so sehr angezogen fühlen würde. Den Beiträgen soll das jedoch nicht zum Vorwurf gemacht werden, insgesamt lässt sich das Buch mit viel Freude und Einsicht in das Schreiben des letzten Jahrzehnts im vergangenen Jahrtausend im einflussreichen Land Amerika genießen.   

Karin Struck: Trennung. 

Karin Struck war einst ein aufstrebender Literaturstar (1947-2006), deren Bücher wie „Die Mutter“ und „Klassenliebe“  in den Siebziger Jahren große Resonanz fanden. Heute ist sie fast in Vergessenheit geraten, ein eher trauriges Schicksal. Ihr literarisches Können beweist auch der kurze Roman „Trennung“, dessen Titel Programm ist. Trennungen aller Art, natürlich die in Beziehungen, aber auch die durch Sterben und vor allem die durch Abtreibung sind der Leitfaden im Leben der früheren Hebamme und jetzigen Schriftstellerin Anna, der das Sich-Trennen ebenso schwerfällt wie das Eingehen längerer Bindungen. Oft führt sie Beziehungen parallel, ist verheiratet plus Liebhaber oder hat deren zwei nach der Scheidung. Zwar ist sie mit ihren Büchern durchaus erfolgreich, doch ihr alter Beruf reizt sie durchaus noch, wie auch der frühere Geliebte Hans, obwohl der sie, was jedem ersichtlich ist, nur wie viele andere als kurze Abwechslung benutzt und sie, erst Sehnsucht nach Kindern aussprechend, zur Abtreibung drängt, dem traumatischen Erlebnis ihres Lebens schlechthin, von dem sie sich – bereits Mutter zweier Kinder – nicht mehr erholt. Ihr neuer Freund, der deutlich jüngere Jürgen, gibt ihr nur bedingt Stabilität, er ist eng an das Drogenmilieu gebunden, das Anna zugleich abstößt und anzieht, sie langsam in Versuchung führt. Karin Struck lässt die Zukunft ihrer Hauptfigur offen: ist die Beziehung zu Jürgen ein Ausweg, erstmals längerfristig oder zieht er sie nur tiefer hinab, hinein in die Drogenwelt? Typisch Endsiebziger wirkt dieser Roman bereits desillusioniert nach der Aufbruchstimmung des vorherigen Jahrzehnts, von dem wenig geblieben scheint als der freie Umgang mit Suchtmitteln. Nicht hoffnungslos, aber leicht melancholisch-resigniert, in einem geradezu hektischen, die Unsicherheit gut wiedergebenden Tonfall, schildert Karin Struck ein einfühlsames Frauenportrait.  

Kerstin Specht: Lila/Das glühend Männla/Amiwiesen.

Drei Stücke der frühen Neunziger Jahre aus der Feder von Kerstin Specht (geboren 1956), die damit einst sehr erfolgreich als Erneuerin des kritischen Volkstheaters galt. Im Mittelpunkt stehen Personen und Sprache ihrer oberfränkischen Heimat, Menschen vom Land, denen schon der Weg in die nahe Kreisstadt eine wagemutige Odyssee, jede Veränderung suspekt, jedes und jeder Fremde unwillkommen ist. Einsame Figuren, gefangen in ihrer Enge und ihrer Sprachlosigkeit, hinter Phrasen verbirgt sich Denkfaulheit und menschliches Desinteresse. Ausweg aus den Verhältnissen sind oft ungewollte Gewalt, ein Mittel der Hilflosigkeit, sei es um sich aus einer unglücklichen Ehe zu befreien, um der alles vereinnahmenden Mutter zu entkommen oder um vermeintlich glücklich zu werden, mit dem Ziel ein tristes Leben neu zu beginnen. Gerade Spechts Frauenfiguren sind nicht unbedingt diejenigen, die gewillt sind, zu verändern, sie haben sich eingerichtet, ihre Kontrolle über ihre Männer ist ihnen wichtiger als der Ausbruch aus dem Gewohnten – wird dieses gestört, sind ihnen viele Mittel recht. Nicht, dass die Männer sympathischer wären, ihr offen gelebter Primitivismus kennt wenig Abwechslung, versucht einer von ihnen auszuscheren, endet dies nur in der Katastrophe. Heimatkitsch und Schwank, Landliebe und Trachtenfolklore sind Spechts Sache nicht – zum Glück. Ihre Stücke leben vor allem von der Kraft der Sprache, dem scheinbar nett-sanften Dialekt, der das Inhumane nur verdeckt.       

Nick McDonell: Zwölf.

Wie immer, wenn ein Unterachtzehnjäriger mit einem Buch debütiert, ist von einer Literatursensation die Rede, sofern die Sätze einigermaßen geradlinig in den Zeilen stehen. So geschehen einst auch bei Nick McDonnells (geboren 1984) Roman „Zwölf“, damals zarte 17. Schon wenig später, unbemerkt von der Öffentlichkeit, setzt für gewöhnlich die Ernüchterung ein. Liest man das Buch mit Abstand, verwundert einen das Alter des Autors eher nicht: die Geschichte des Dealers White Mike kommt nicht anders daher, als man sie von einem jugendlichen Schreiber erwarten würde. Der hochintelligente Zyniker White Mike, Dealer aus Langeweile, der selbst keine Drogen nimmt und auf die Einnahmen – wie seine meisten Kund*innen dank finanziell potenter Elternhäuser – nicht angewiesen ist, schlendert durch die letzten Tage des Jahres, wodurch sich ein Panorama der New Yorker Jugend ergibt, die ähnlich orientierungslos vor sich hinleben, ihre Themen sind alterstypisch Mode, Sex und Drogen, Partys das abwechslungsreichste Ereignis. Und Gewalt gehört natürlich auch dazu, auch die eher zufällig und nebenher. Vermengt man dies alles, so kommt es zum erwartbaren Ende, einem Amoklauf an Silvester. Schon allein deshalb liest man das Buch heutzutage mit einem noch schaleren Beigeschmack, letztlich erscheint der Autor nicht weniger zynisch oder von seinen Figuren fasziniert als diese selbst. Dass mag für einen so jungen Autor durchaus gekonnt gebaut sein, irgendwie ist man aber dann doch froh, dass er seine Phantasien nur zu Papier gebracht hat.                     
                     


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