Dienstag, 17. Dezember 2019

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (14): Ödön von Horváth - Ein Kind unserer Zeit.


Ödön von Horváth: Ein Kind unserer Zeit. st 2716

Schon seit längerer Zeit gehört Ödön von Horváth (1901-1938) zu den meistgespielten Theaterautoren nicht nur auf deutschsprachigen Bühnen. Einst im Rahmen des „kritischen Volksstücks“ der 1960er Jahre als vermeintlicher Vorläufer wiederentdeckt, wurde dem Publikum im Laufe der Zeit klar, dass dieser österreichisch-ungarische Schriftsteller mehr zu bieten hatte als nur die Geschichten aus dem Wiener Wald. Horváths Prosa steht etwas hinter seiner aktuellen Präsenz auf den Bühnen zurück, doch hat auch sie von der dadurch entstandenen Aufmerksamkeit profitieren können. Zurecht. Doch naturgemäß darf man die Frage stellen, warum sich ein vor fast achtzig Jahren auf äußerst tragische Weise verstorbener Autor in unseren Tagen so großer Beliebtheit erfreut?
Nimmt man nur einige der Prosatitel Horvaths zurate, deutet sich allein hierdurch eine gewisse Erklärung an: Sportmärchen, Jugend ohne Gott, Der ewige Spießer. Sie alle scheinen Themen aufzugreifen, aus denen die Aktualität geradezu herauszulesen ist: Faszination und Illusion des Sport(geschäftes), eine orientierungslose Jugend ohne – oder mit falscher – Anleitung, die Dominanz oder Rückkehr sehr einfachen, aber triumphalistischen Denkens. Als Beitrag für die Reihe der Romane des Jahrhunderts wählte Suhrkamp Horváths letzten und erst postum erschienenen kurzen Text Ein Kind unserer Zeit (1938). Nun könnte gerade diesem Roman aufgrund seines Titels das Verfallsdatum eindeutig anhaften: unsere, also Horváths Zeit der späten Dreißiger Jahre, kann kaum unsere Zeit der Gegenwart sein. Wollte man meinen und hoffen.
Und doch: die bis auf die Schlussseiten im inneren Monolog erzählte Geschichte eines Soldaten weist nur allzu viele Parallelen zu heutigen Tagesereignissen auf. Natürlich ist der junge Mann, Kriegskind (18) von 1917 und Halbwaise, ein Kind seiner Zeit, aufgewachsen in den wirtschaftlich dürren Jahren der Weimarer Republik, die den Absturz des Vaters zum Kellner und die Verachtung des Sohnes für das überwundene „System“ bedingt. Es herrscht Sehnsucht nach Klarheit und Strukturen: Jetzt ist alles fest. Endlich in Ordnung (14). Halt gibt das Einreihen in die Armee, in die Gemeinschaft, die Unter- und Einordnung in Volk und Vaterland; Disziplin nennt sich das unhinterfragte Folgen der Vorgesetzten, der Führer, denn durch das eigenständige Denken kommt man auf ungesunde Gedanken (28).
Darum sammeln sich im Kopf des jungen Soldaten nichts anderes als aneinandergereihte, teils widersprüchliche Phrasen, die ihm das Reflektieren über sein Handeln ersparen und die eigene zynische Menschenverachtung erleichtern, die sich auf seine Umgebung, seinen Vater, zuletzt ihn selbst erstreckt. Doch diese Ein-Satz-Prosa in ihrer Rhythmik des Einhämmerns bewahrt ihn am Ende nicht vor den ständigen Enttäuschungen des Lebens: der bewunderte Hauptmann stellt sich als Anhänger überwunden geglaubter Rest-Mitmenschlichkeit heraus, der verachtete Vater als hilfsbereiter Wendehals, die Offizierswitwe als wenig wählerisches leichtes Mädchen. Die Kriegsrhetorik der neuen Regierung verroht nicht nur die Soldaten, sondern alle Mitmenschen. Dies alles wird dem Protagonisten zwar bewusst, doch ist er zu sehr Kind seiner Zeit, um ohne die Illusionen leben zu können, mit denen er aufgewachsen ist. Überhaupt wird er von Illusionen beherrscht: eine Kassiererin in einem Vergnügungspark, Eingangsdame zu einem verwunschenen Schloß, wird ihm aufgrund einer Verwechslung zu seiner Schwester, deren trauriges Schicksal es zu rächen gilt; zwar hat er das Unmenschliche hinter der Fassade des Regimes nun erkannt, weiß aber kein anderes Mittel als die Gewalt. Auch sprachlich schafft er die Befreiung nicht. Hat er früher auf Befehl die Welt von Untermenschen gesäubert, so mordet er nun heimlich im Namen seiner eigenen Gerechtigkeit. Brillant fängt Horváth diese innere Erstarrung und Kälte im Schlussbild ein: das Kind seiner Zeit sitzt erfroren im Park, es sitzt ein Schneemann auf der Bank, er ist ein Soldat (127).
Der junge Mensch ohne innere Festigkeit und Substanz ist ein Kind seiner Zeit und – leider – ein Kind aller Zeiten. Horváths Roman bleibt trotz aller historischen Anspielungen im Vagen, durchaus im positiven Sinne. Es fällt – wiederum leider – nicht sehr schwer, die zahlreichen aktuellen Bezüge des Buches herzustellen. Dies zu tun, bleibt dem Leser und der Leserin selbst überlassen, denen die Lektüre des Romans sehr ans Herz gelegt wird. Und wer noch mehr über unsere Zeit erfahren möchte, der sollte anschließend zu Jugend ohne Gott und zum Ewigen Spießer greifen.  

Vorgänger (Teil 13): José Lezama Limo - Paradiso.  

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