Robert
Walser: Geschwister Tanner. st 2724
Der Schweizer
Robert Walser (1878-1956) gehört zu den großen Unbekannten oder eher noch zu
den unbekannten Größen der deutschsprachigen Literatur. Schon immer von seinen
zeitgenössischen Schriftsteller*innenkollegen wie Christian Morgenstern,
Hermann Hesse oder Franz Kafka und bis heute von Autoren und den Fachleuten der
Literaturwissenschaft hoch geschätzt, hat er nie den Zugang zum großen Publikum
gefunden, obwohl seine Bücher dankenswerterweise weiterhin regelmäßig aufgelegt
werden. Er ist ein anerkannter moderner Klassiker, der unter das Phänomen des writer’s
writer zu fallen scheint, wie dies die Amerikaner nennen.
Warum
eigentlich? Eine endgültige Beantwortung dieser Frage dürfte vermutlich kaum
möglich sein, doch hilft die Suche danach, sich dem Werk Walsers anzunähern. An
der Sprache kann es nicht liegen, Walser schreibt ein zugängliches, scheinbar einfaches
Deutsch, auch in seinem Erstlingsroman Geschwister Tanner (1906), ganz
wie es dem Charakter seiner Hauptfigur entspricht. Simon Tanner, der
Protagonist, durch dessen Sicht die Handlung bestimmt wird, bringt in diese
eine naiv erscheinende Weltsicht ein, die sich deshalb auch in der
vermittelnden klaren Sprache widerspiegelt. Simon war voller Gedanken,
schöner Gedanken. Wenn er dachte, kam er ganz unwillkürlich auf schöne Gedanken
(17), gleichwohl ist er alles andere als eine Schelmenfigur, auch wenn, gerade
zu Beginn, immer wieder Spuren in diese Richtung gelegt werden, außerdem
würden einzuziehende Erklärungen über mich nur schlecht lauten, um offen die
Wahrheit zu sagen (9), bekennt er gleich zu Beginn, so wie er auch seine
Unbeständigkeit in Arbeitsverhältnissen noch vor Antritt eingesteht, die sich,
wie die Leser*innen – und Arbeitgeber*innen – bald feststellen werden, in
schöner Folge noch jedes Mal auch tatsächlich einstellen wird. Simons
Bekenntnis ist folglich keineswegs Koketterie, sondern nur Ausdruck seiner
Ehrlichkeit. Beides bringt ihm in seiner Umwelt – dem modernen Arbeitsleben –
kein Glück. Die Kontrastfiguren, seine Geschwister, lassen dieses Scheitern
umso deutlicher werden, nicht nur, wenn sie wie sein Bruder Klaus das genaue
Gegenteil eines korrekten Bürgertums verkörpern, sondern gerade, wenn sie wie
sein malender Bruder Kasper oder seine Schwester als Lehrerin in künstlerischem
oder geistigem Rahmen durchaus reüssieren. Als Menetekel droht jedoch das
Schicksal eines weiteren Bruders, der in der Irrenanstalt untergebracht ist
(vgl. 214f) – die ambivalente Haltung Simons ihm gegenüber unterstreicht, dass
er die Gefahren seines eigenen unentschiedenen Daseins durchaus wahrnimmt.
Dem Bruder
Klaus, der so pflichtversessen ist, dass er die Pflicht versäumte, selbst
ein bisschen glücklich zu sein (11), er schafft sich selber und andern
immer Sorgen (140), setzt Simon sein Verständnis ungebundener Freiheit
entgegen, Ich will keine Zukunft, ich will eine Gegenwart haben. Das
erscheint mir wertvoller. Eine Zukunft hat man nur, wenn man keine Gegenwart
hat, und hat man eine Gegenwart, so vergisst man, an eine Zukunft überhaupt nur
zu denken (40), ich weiß nicht, was mich davon abhalten könnte, mein
Werk in die Tat umzusetzen (7), Das Leben, es braucht mir gar nicht so
sehr zu glänzen, so glänzt es doch schon in meinen Augen. Es ist mir meistens
schön und ich verstehe die Menschen nicht, die es unschön nennen und es damit
beschimpfen (215) – Bekenntnisse Simons dieser Art sind Legion und scheinen
auf den ersten Blick das Bild vom fröhlichen Taugenichts Eichendorffscher
Herkunft zu bestätigen. Tatsächlich aber befindet sich Simon in einer Umgebung,
die solches Verhalten nicht mehr toleriert – wenn sie es jemals getan haben
sollte. Geschwister Tanner ist ein Roman der Moderne, Simons, wenn man
so will, spätromantische Lebenshaltung mag zwar sympathisch wirken – obwohl
Walser auch hier Eindeutigkeiten vermeidet – das von ihm erstrebte Glück
erreicht er hiermit aber ebenso wenig wie das völlige Spießertum seines Bruders
Klaus.
Der Monotonie
des modernen Arbeitslebens, der Herde von Lämmern (33), die Simon einer
scharfen Kritik unterzieht, entkommt er zwar durch seine ständigen Ausstiege
aus dem Angestelltendasein, zahlt dafür aber den hohen Preis der Unsicherheit,
der ihn in Armenküchen oder eben wieder zurück in immer schlechter bezahlte
Dienstverhältnisse zwingt. Auch menschliche Bindungen aufzubauen fällt ihm
dadurch schwer, die Beziehungen zu seinen Geschwistern sind zwar liebevoll,
aber keineswegs unproblematisch, Hedwig, die Lehrerin, die ihn eine zeitlang beherbergt und versorgt,
analysiert ihn als jemand, den nicht viele Menschen lieben (158) werden,
Du hast etwas Blödes an dir, etwas Unzurechnungsfähiges, etwas, wie soll ich
sagen, Unbekümmert-Läppisches. Das wird viele beleidigen, man wird dich frech
nennen, und du wirst viele unfeine, früh mit ihrem Urteil über dich fertige
Feinde haben, die dir zu schwitzen geben können; doch wird dir das nie Angst
einjagen (158). Die Beschreibung seiner Schwester ist ebenso zutreffend,
wie ihr Urteil, Simon verstehe es gleichzeitig, zuzuhorchen, und das ist im
Gespräch vielleicht wichtiger, als das Sprechen (158). Zusätzlich ist er
kontaktfreudig und ohne Scheu, ausgestattet mit Fantasie und der Fähigkeit,
sich in andere hineinzuversetzen, oder besser: hineinzuphantasieren (vgl. 23).
Und doch bleibt er außen vor, selbst die teils engen Beziehungen zu seinen
Geschwistern und zu Bekannten sind ebenso brüchig und instabil wie seine
Arbeits- und Wohnverhältnisse.
Schwere
Zugänglichkeit zu einer größeren Leserschaft könnte auch experimenteller Stil
hervorrufen – auch dieser ist, oberflächlich, bei Walser nicht zu finden. Eine
genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass hier kein konventioneller Roman erzählt
wird. Tatsächlich evoziert das Arrangement einen Entwicklungs- oder
Bildungsroman, doch weder das eine noch das andere findet statt. Die äußere und
innere Situation Simons ist am Ende die gleiche wie zu Beginn und sie ist es
nicht nach einem durchlaufenen Erkenntnisgewinn, sondern sie ist statisch. Zwar
gibt es eine milde, aber letztlich nicht ausschlaggebende Chronologie, die
einzelnen Abschnitte können problemlos verschoben werden. Simons ständige
Kündigungen und Rauswürfe, seine Wohnungssuchen und abbrechenden Freundschaften
reihen sich auch deshalb austauschbar aneinander, weil hieraus kein Lernprozess
entsteht, ganz gemäß seinem oben erklärten Diktum, nur in der Gegenwart leben
zu wollen (vgl. auch 284); es ist nur konsequent, dass er einen biographischen
Text über seine Kindheit nach der Vollendung sofort wieder zerstört (vgl.
103-111). Vielleicht ist es diese rigorose Sorglosigkeit, die das Scheitern in
Kauf nimmt, die viele Leser*innen hinter der schönen, scheinbar naiven Sprache
Walsers und seines alter Ego Simon Tanner so verstört hat: Mein Ende ist mir
gleichgültig. Sie sagen mir immer, jene andern, ich werde meinen Übermut noch
schwer büßen müssen. Nun wohl, dann büße ich und erfahre dann doch, was büßen
heißt. Ich erfahre gern alles und deshalb fürchte ich nicht so viel, wie die,
die um eine glatte Zukunft besorgt sind. Ich habe immer Angst, es möchte mir
eine einzige Lebenserfahrung entgehen. (233)
Vorgänger (Teil 14): Ödön von Horváth - Ein Kind unserer Zeit.
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