Mittwoch, 5. Dezember 2012

Die Schnellschreibschule. Heute: Wintereinbruch.


Ein dankbares Sujet sind Artikel, die man nicht nur vorfertigen kann, sondern auch jedes Jahr aufs Neue verwenden, ohne dass man sie groß überarbeiten braucht; ein Vorteil zum Beispiel gegenüber den zahlreichen Nachrufen die man für den Fall der Fälle ebenfalls schon bereithält. Ein Klassiker dieses Genres ist der Wintereinbruch, ein erstaunliches Ereignis, das stets von neuem eine Sensationsmeldung wert ist, wenn wir Mitteleuropäer von einem unbekannten Phänomen namens Schnee und Kälte überrascht werden.

NIX - seit 2000 Jahren eine Meldung wert: der Wintereinbruch.
Der Einleitungssatz ist ebenfalls klassisch:
Der überraschende/unerwartete frühe (September bis Mitte November)/ - (Mitte November bis Mitte Dezember)/ späte (Mitte Dezember bis Januar) Wintereinbruch im Norden/Süden/Osten/Westen/in weiten Teilen Deutschlands sorgte für Chaos und zahlreiche Verkehrsunfälle.

Verkehrsunfälle sind adäquate Zeilenfüller und auch für Photos immer sehr gut, den Vorwurf des Zynismus darf man getrost ignorieren, Informationspflicht geht vor. Also kombiniert man in (mindestens) einem Absatz zahlreiche Unfälle von Autobahnen über Innenstädte bis Bundesstrassen. Das erfordert keinen großen Arbeitsauwand und wenig Geschick, man klebt einfach mehrere Sätze aus Polizeiberichten zusammen. Hat auch den Vorteil, dass man nicht an Ort und Stelle sich einen Überblick verschaffen muss, bei den Straßenverhältnissen ist das ja nicht ungefährlich. 

Alternativen zu Verkehrsunfällen sind: eingebrochene Hausdächer (notfalls wenigstens Garagen-, Stall- oder Scheunen), umgestürzte Bäume (wenn nicht schon bei den Verkehrsunfällen verbraucht), Angabe der Schneehöhen, falls im Tal nicht zu spektakulär, dann auf die Zugspitze ausweichen ("bis zu 1,2m auf der Zugspitze"), Schulkinder die auf den Bus warten, außerdem sollte man gleich am ersten Tag auf mögliche Versorgungsengpässe aufmerksam machen, allein schon um zu rechtfertigen, warum man über eine jährlich wiederkehrende Banalität berichtet. 

Wichtiger Bestandteil ist ein Absatz über die Deutsche Bahn, möglichst zu beginnen mit einem "Auch bei der Deutschen Bahn...". Anschließend das übliche Aufzählen von Verspätungen und Zugausfällen. Nichts ist dem deutschen Leser so vertraut wie Häme über die DB, das macht folglich populär. Dies hat auch den Vorteil, dass man sich auf die Bahn in dieser Beziehung völlig verlassen kann und diese stets bereit ist, das Material alljährlich erneut zu liefern, vermutlich aus dem Grundsatz heraus, das auch schlechte Presse eben Presse sei. Sorgen muss sie sich also nicht machen und man selbst als Journalist ebensowenig. Eine gelungene Symbiose. Aufgrund des anhaltenden Erfolgs in den Medien hat die Bahn dieses Konzept offenkundig auch auf den Hochsommer ausgeweitet.  

Ist erst die Sensationsgier und das wohlige Gruseln befriedigt, kann man wieder philosophischer werden und sich erinnern, dass man ja mehr drauf hat als ein Protokolle verfassnder Autobahnpolizist. Also deutet man das frühe oder späte Auftauchen des Winters als eindeutiges Zeichen für oder gegen den Klimawandel. Kommt der Wintereinbruch ungelegenerweise zwischen Mitte November und Dezember, legt das die Variante "gegen den Klimawandel" näher, dies ist aber kein Muss, es sei denn man ist der USA-Korrespondent. Generell kommt es ohnehin nur darauf an, ob man sich als Warner vor Hysterie (gegen) oder vor Sorglosigkeit (für) gerieren möchte. Studien wird man zu beidem finden, da sie niemand liest, genügt es den Titel oder ein populäres Statement des Verfassers zu zitieren.

Letztlich ist das Wichtigste am Wintereinbruchartikel, das jeweils richtige Jahr einzusetzen. Da darf man nicht schludern, auch wenn es den meisten Lesern nicht auffallen wird. Die sind eh müde vom Schneeschippen.

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