Dienstag, 11. Juni 2013

Was ist Post-Grunge?


Was ist Post-Grunge?

Die Bezeichnung Post-Grunge tauchte Mitte der Neunziger Jahre auf. Eine Analyse anhand von Candlebox’ Far Behind.

Mit Candlebox beginnt der Übergang der ersten Grunge-Generation um Alice in Chains, Nirvana, Soundgarden, Mudhoney und Pearl Jam zur zweiten, die erst mit dem allgemeinen Bekanntwerden und Erfolg der neuen Richtung ins Rampenlicht trat, respektive überhaupt durch das Entstehen neuer Bands deren Etablierung und Fortführung begründete. Candlebox, ein weiterer Spross Seattles aus dem Jahr 1991, verschwand jedoch nach großem Debüt mit dem gleichnamigen Album (Candlebox, 1994) nach zwei nur noch Kennern bekannten Platten (Lucy, 1995; Happy Pills, 1998), wieder von der Bildfläche, auch hierin vielen Vorbildern folgend. Ende der 2000er Jahre erfolgte schließlich – ebenfalls analog zu vielen anderen Bands – ein Comeback. 

Far Behind – Hymne und Chartstürmer des Post-Grunge

Abgesehen vom teilweise auch kommerziellen Erfolg der frühen Jahre - der von den Gralshütern der Bewegung äußert misstrauisch beäugt wurde -, war es der Gruppe gelungen, mit dem Lied Far Behind eine der paradigmatischen Hymnen des Post-Grunge zu veröffentlichen, die stellvertretend für den Rest ihres Schaffens und aufgrund ihres Herausragens hier in einer eigenen Analyse besprochen werden soll.

Zwischen Mitleid, Selbstmitleid und Hilflosigkeit

Der Einstieg in das Lied gibt mit den ersten drei Versen ein Programm vor, das das verzweifelte Selbstmitleid und den Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit als typische Elemente des Grunge auf eine erweiterte Ebene hebt:
Now maybe
I didn’t mean to treat you bad
But I did it anyway
Diese Aussage ist in mehrerlei Hinsicht geprägt von einem abgrundtiefen Pessimismus und der Einsicht, zu eigenem, selbstkontrollierten Handeln nicht mehr fähig zu sein. Was bleibt ist die Selbstreflexivität, die allerdings keine Konsequenzen mehr hervorbringt und schon ins Unsichere abdriftet. Now maybe, das Unwägbare, das Verschwommene und buchstäblich Unfassbare dominiert das Denken. Die folgenden Zeilen sind zutiefst resignativ: I didn’t mean to treat you bad/ But I did it anyway. Das Ich besitzt nicht mehr die Kraft, sich gegen sein Verhalten zu wehren, das es jedoch als ein bösartiges und verletzendes erkannt hat. Der daraus entstehende Schaden betrifft nun auch nicht mehr nur es selbst in seiner Schwäche, sondern auch seine Umwelt.

Von der Aggression zur eigenen Schuld

Während in vielen Texten das Ich vorwiegend Opfer der feindlichen - oder als feindlich wahrgenommenen - Umwelt geworden ist, wird es hier selbst zum Teil der Aggression, wenn auch als Folge der äußeren Einwirkungen. Roland Barthes nennt unter dem Stichwort Exil in seinen Fragmenten einer Sprache der Liebe, den wahren Akt der Trauer nicht den Verlust des Liebesobjekts, sondern eines Tages auf der Haut der Beziehung jenen winzigen Fleck festzustellen, der dort aufgetaucht ist wie das Symptom eines sicheren Todes: zum ersten Male tue ich dem, den ich liebe, ein Leides an, zwar ohne es zu wollen, aber ohne den Kopf zu verlieren. Far Behind schildert natürlich eine mitmenschliche Beziehung - die keine erotische sein muss - die an einen Scheidepunkt geraten ist. Trifft Barthes’ Feststellung von der ungewollten Verletzung genau den Punkt, so jedoch hier nicht mit der ignoranten Konsequenz, Far Behind handelt zwar vom eigenen Fehlen, aber daraus entsteht immerhin noch die verzweifelte Klage über die eigene Hilflosigkeit - und nicht Gleichgültigkeit.

Wie man den Untergang eines Freundes beschleunigt

Das Ich steht dem Niedergang eines Anderen, eines Freundes hilflos gegenüber, offenkundig auch in dem Bewusstsein, selbst einen Beitrag zu diesem Verfall geleistet zu haben. Der andere wird dabei zu einer christusgleichen Person, der in der Stunde des äußersten Leides verlassen ist. Some would say your life was sad/ But you lived it anyway, die Freunde stehen um ihn herum, they watch your crumble/ As you falter to the ground. Sie greifen nicht ein, so wie sie vorher den Erfolg begutachteten, betrachten sie nun in zynischer Weise den Absturz, they watch you suffer, auf die Hilferufe reagieren sie nicht. Was dem Ich bleibt, das ebenfalls stillsteht, ist eine jenseitige Hoffnung, But then some day we could take our time/ To brush the leaves aside so you can reach us, doch vorerst ist eine Leere entstanden, das Gegenüber ist verschwunden und das Ich zurückgelassen, But you left me far behind. Die Solidarität hat sich diesseitig nicht bewährt, sie ist hinter dem hilflos-verletzenden Schweigen verschwunden. Geblieben sind Einsichten, die den anderen als den besseren Menschen erkennen lassen - nach dem Verlust. Now maybe some would say you’re left with what you had/ But you couldn’t share the pain, der Verlorene war der Humanere, der Sensiblere, dem das Leid unerträglich geworden war. Bei späteren Wiederholungen wird dieser Satz noch durch ein klagend-bestätigendes No, no, no unterstrichen, einerseits Verstärkung der Negation des couldn’t, andererseits aber auch Ausdruck der Verzweiflung über die eigene Uneinsichtigkeit des Ich.

Das eigene Versagen und das Versagen der anderen

Couldn’t share the pain besitzt jedoch eine doppelte Qualität. Das Leid der anderen kann nicht ertragen werden, doch auch das eigene Leiden kann nicht mitgeteilt und geteilt werden. They watch you suffer ist Vorwurf und Eingeständnis der Hilflosigkeit zugleich. Deshalb fehlt dem Satz zu Beginn der zweiten Strophe das Personalpronomen, an dessen Leerstelle könnte statt dem vorherigen You auch ein ‘I’ oder ‘We’ stehen. Weiter konjunktivisch - now maybe - reflektiert das Ich über sein eigenes Versagen, I could have made my own mistakes/ But I live with what I’ve known. Das Selbstbewusstsein ist hier wieder deutlich betont, aber kaum mehr als positives zu werten, da es auch Bewusstsein der verfehlten Vergangenheit, des - bewussten - Nicht-Handelns und Falsch-Handelns ist. Kontrapunkt zum dreifachen No, no, no ist das einfache und unauffällige Yes, dem das charakteristische maybe folgt. Wiederum wird auf eine mögliche Zukunft, eine bessere verwiesen. Und wiederum befindet diese sich außerhalb der diesseitigen Reichweite. We might share in something great.../ But then someday comes tomorrow holds a sense of what I feel for you in my mind, das Unsichere und Konjunktivische prägt auch diese Hoffnung.

Verschobene Hoffnungen

Immerhin eröffnen sich dort Perspektiven des ehrlichen Umgangs ohne Verletzungen, die Stiftung einer Sinnmöglichkeit. Dies unterscheidet sich offenkundig fundamental vom derzeitigen Zustand, der Blick auf das momentane Erleben ist ein resignierter, ein fragender - ohne Fragezeichen, da er Zustände beschreibt: But won’t you look at where we’ve grown/ Won’t you look at where we’ve gone. Das Ende der Strophe verweist kurzzeitig auf konkretere Ereignisse, auf das Ereignis des Todes des Anderen, As you trip the final line/ And that cold day when you lost control, an dem die Grenze überschritten wurde. Die Art und Weise dieses Übertritts bleibt ungenannt - Selbstmord scheint nahezuliegen - relevant ist das Ergebnis, das Fehlen. Das Ich wird in seiner Trauer ein weiteres Mal auf sein Versagen verwiesen.

Selbsterkenntnis der falschen Seite

Sein Zögern, sein ihm selbst unerklärlich gewordenes Verhalten gegenüber dem dahinsiechenden Freund wird/wurde durch Vertrauensentzug beantwortet, die Freundschaft hat versagt, Shame you left my life so soon you should have told me/ But you left me far behind. In die Trauer mischt sich eine verzweifelte Bitterkeit, die jedoch selbstverschuldet ist und eher dem eigenen Trost über das Versagen hinweghelfen soll. Schließlich hat das Ich den Niedergang seines Freundes beobachten können, sich vorsichtshalber aber der schweigenden Mehrheit angeschlossen und direkte Hilfe verweigert und dadurch seinen Beitrag zur Misshandlung geleistet. Vom Leidenden auch noch die Bitte um Hilfe zu erwarten, was als demütigend erfahren werden kann, war ein egoistisches Handeln, mit dessen zynischen Folgen der Zurückgelassene nun zu leben hat. 

Die eigene Schwäche ist die Stärke der Zyniker

1820 schrieb Charles Robert Maturin in seiner Gothic Novel Melmoth the Wanderer über die Freude am Leiden des Anderen: It is a species of feeling of which we never can divest ourselves - a triumph over those whose sufferings have placed them below us, and no wonder - suffering is always an indication of weakness - we glory in our impenetrability. Diese Äußerung eines ausgesprochenen Sadisten, der sich im Roman am Hungertod eines Liebespaares erfreut, spiegelt auch die Einsichten in Far Behind wieder, naturgemäß ohne deren inhumane Grundlage. Die eigene Sicherheit und gefühlte Unverletzlichkeit richtet sich am Untergang des Anderen auf, I said times have changed your friends/ They come and watch you crumble to the ground/ They watch you suffer. In der Berührung mit dem wie aussätzig gewordenen Unglücklichen liegt die Gefahr der Ansteckung, die „Freunde“ ziehen sich hinter eine Pseudo-Moralität zurück, some would say you’re left with what you had, entziehen sich ihrer Verantwortung und werden zum Teil und Beschleuniger des Verfalls, they hold you down, sie verwehren die Reintegration. Auch sie scheinen der Meinung, dass Leid und Leiden selbstverschuldete Schwäche seien. Dem gegenüber nimmt das Ich eine zwiespältige Rolle als einerseits Erkennender, andererseits Verweigender ein. Trotz seiner Einsichten, die möglicherweise erst nach dem Tod des Anderen ihre volle Erkenntniskraft in Form von Schuldgefühlen entfaltet haben, ist es nicht fähig gewesen einzugreifen, eindeutig Position zu beziehen. Maybe brother, maybe love, die höchsten Werte zwischen- und mitmenschlichen Zusammenlebens haben versagt.

Der Teufelskreis der Krankheit zum Tode

Die Erkenntnis des I didn’t mean to treat you bad, die am Ende mit dem resignierten Ruf But you left me far behind ausklingt, der die Unmöglichkeit der Wiedergutmachung und das Erreichen einer höheren Menschlichkeit des Verstorbenen (in jeglicher konnotativer Hinsicht), ist, wie schon betont, eine tief verzweifelte. Das Wissen um die bewirkte Verletzung, die hier schreckliche Folgen nach sich zieht und doch trotz aller Einsicht nicht verhindert werden kann, lässt für das eigene Handeln, dessen Herr man nur noch in der Möglichkeit zu sein scheint, keinerlei Hoffnung. Der Ausweg führt in einen menschenverachtenden Zynismus wie ihn die „Freunde“ repräsentieren oder eine konjunktivisches Jenseitspostulat, von dem das Ich jedoch weit entfernt ist, Far Behind gelassen, von dem entwichenen Anderen.

Hommage an den Freund und Absage an das selbstbestimmte Ich

Das Lied ist auf vordergründiger Ebene eine elegische Hommage an einen toten Freund, hinter der sich jedoch ein pessimistischer Abgesang auf die Souveränität des individuellen Ichs verbirgt. Dieses ist nicht nur unfähig, das Leid der anderen rechtzeitig zu erkennen und sein eigenes Leid - und sei es nur auf der Stufe des Selbst-Mitleids - zu ertragen (als charakteristisches Grunge-Thema), die Selbstschwäche führt nun auch noch zur Vergrößerung des allgemeinen Leidens, zur Vernichtung anderer. Vom Unterdrückten wird man ohne Zutun, ohne es zu wollen, zum Unterdrücker. Eine völlig determiniert erscheinende Welt, zu deren Rädchen der Einzelne geworden ist, lässt jegliche Schwäche in gnadenloser Weise zur Schuld werden. Far Behind klingt an eine weitere Hymne der Grunge-Bewegung, Tools Sober, und knüpft damit auf einen resignativen Strang an, dessen Konsequenzen ausweglose Verstrickungen des Ichs bedeuten müssen, anders als noch in den individuellen Aufbäumungen etwa Pearl Jams oder Soundgardens, die in ihrer bewussten Vergeblichkeit wenigstens noch die Camus’sche Revolte symbolisieren.         

Siehe auch: Bush, Sleater-Kinney, Catherine