Freitag, 31. Oktober 2014

Die Schnellschreibschule. Heute: Der Hyperlativ.

Der Hyperlativ – Journalismus und sprachliche Manipulation   

Sprachverfall? Nein, aber Sprachmissbrauch

Hierzu zwei einleitende Bemerkungen: Hier geht es keineswegs um die oft von fragwürdiger Seite vorgebrachte Klage um deutschen Sprachverfall. Superlativkonstruktionen im Deutschen sind weder schön noch hässlich, denn das sind in einer Sprache schwer überprüfbare Kategorien, sie liegen fast buchstäblich im Auge des Betrachters. Und ohne Superlativ wäre beispielsweise die literarische Bewegung der Romantik schwer vorstellbar. Sprache dient dem Verstehen untereinander und der Superlativ (auch der "Hyperlativ") erfüllt diesen Zweck problemlos. Deshalb ist er mitunter so populär.
Problematisch ist nur seine manipulative Kraft, eine Fähigkeit, die natürlich der Sprache (neben dem Bild) auf besonders unscheinbare Weise innewohnt. Und darum ist dies keine Klage, sondern eher eine Mahnung zur Vorsicht.

Dem Spiegel den Spiegel vorhalten

Die Auswahl des Spiegels ist nicht Zeichen von dessen außergewöhnlicher Perfidität, auch nicht der Abneigung, sondern eher der Neigung des Autors, jede andere Zeitschrift oder Zeitung könnte als Beispielgeber dienen, manche wären sicher noch nahe liegender. Doch ist der Spiegel deshalb gut geeignet, weil er über eine breite Leserschaft verfügt und hohes Ansehen genießt – mit anderen Worten: viel Einfluss besitzt. Die zitierten Sätze stammen alle aus Ausgaben des Jahres 2010.
 
"Es ist der 8. Mai 1985, und sie haben eben eine der bedeutendsten Reden der deutschen Geschichte gehört" (Spiegel 11/2010)
Und zwar von Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor dem Bundestag zum Kriegsende vor vierzig Jahren. Die Rede war beachtlich und fand international viel Aufmerksamkeit, kein Zweifel, ein große Stunde des deutschen Parlamentarismus. Eine bedeutende Rede – sicher. Eine der bedeutendsten Reden – nun gut. Eine der bedeutendsten Reden der deutschen Geschichte – ja? Es wäre so einfach gewesen zu schreiben „der deutschen Nachkriegszeit“ oder „der Bundesrepublik“, man würde das nicht in Frage stellen. Aber gleich der gesamten deutschen Geschichte der letzten 1.100 Jahre? Die (welt)geschichtliche Auswirkung der Reden Ottos des Großen zu seinen Truppen vor der Schlacht auf dem Lechfeld, Luthers vor Karl V. oder – um ein völlig anderes, aber in seinen katastrophalen Folgen auf seine Weise eben 'bedeutendes' Beispiel zu nennen – Goebbels’ im Sportpalast 1943 waren sicher spürbarer als es Weizsäckers Rede jemals sein wird. Und daran wird sich auch nichts ändern.
 
"Simon Ammann ist der größte Skispringer aller Zeiten" (Siegel 9/2010)
Nicht vielleicht Jens Weißflog – oder gar Sven Hannawald, der als einziger bisher alle Springen der Vierschanzentournee gewonnen hat? Doch es geht nicht um die durchaus respektablen Leistungen des kleinen Schweizers Ammann, sondern um den schönen Hyperlativ aller Zeiten, sehr gern benutzt von der Werbebranche, aber da sind die Kunden dies gewohnt – und nehmen es auch nicht so ernst. Aller Zeiten heißt ja, dass es nie mehr einen solchen geben wird – alle gegenwärtigen Skispringer und auch alle der Zukunft sollten demnach den Beruf wechseln, es sei denn, sie geben sich (wie offenkundig Weißflog und Hannawald) mit dem Mittelmaß zufrieden. Zum Trost hatten wir Deutschen kurzzeitig wenigstens einmal "den größten Feldherrn aller Zeiten", woran aber inzwischen schon niemand mehr so richtig glauben mag – zum Glück.
 
"... als eine der besten TV-Serien aller Zeiten" (Spiegel 20/2010)
Gemeint ist "The Wire". Noch, denn vielleicht sieht es in ein paar Jahren anders aus. Doch hier war der Verfasser immerhin vorsichtiger, er benutzt den unbestimmten Artikel und schenkt damit anderen TV-Serien die Hoffnung, auch noch zu den besten aller Zeiten gehören zu können. Das nennt man generös.
 
"Auf den Rückfall in die fürchterlichste Vergangenheit folgte die gegenwärtigste Gegenwart aller Zeiten" (Spiegel 20/2010)
Hier hat man dann schließlich auch bald die Grenzen der Verständlichkeit erreicht – und Sprache damit endgültig zweckentfremdet. Was vermutlich besonders beeindruckend klingen soll, wirkt lediglich unfreiwillig komisch. Gemeint ist übrigens der Wiederaufbau deutscher Städte nach 1945. Was gegenwärtigste Gegenwart ist, weiß nur der Verfasser des Spiegel-Artikels, vielleicht noch Martin Heidegger, wie eine Gegenwart alle Zeiten repräsentieren soll, weiß ... der Teufel.
 
"Die Szene, in der eine Wärterin ein faustgroßes Stück Zucker auf den Tisch in der Gemeinschaftszelle der Ausgehungerten legt, gehört zum Entsetzlichsten, was jemals beschrieben worden ist" (Spiegel 25/2010)
Das mag sein – doch warum hatte dann bis zu ihrer Wiederentdeckung kaum jemand von der Autorin Angela Rohr, um die es in dem Artikel geht, etwas gehört (oder gelesen). Nun, das mag tatsächlich ein Fehler der Leserschaft sein, solche Fälle gibt es – leider – in der Literaturgeschichte. Trotzdem untermauert es nicht gerade die Behauptung der Verfasserin. Auch hier reicht der Superlativ nicht, er muss noch durch ein jemals erweitert werden, das gleich die gesamte Literatur der Welt mit einschließt.
 
"Im Augenblick ist Buenos Aires die wohl aufregendste Stadt der Welt" (Spiegel 40/2010)
Darum hat man bis zur Frankfurter Buchmesse, aus deren Anlass der Artikel damals gedruckt wurde, außer Meldungen über diverse argentinische Staatsbankrotte so gut wie nichts von ihr gehört. Doch die sind schließlich auch ziemlich aufregend, zugegeben. Der Autor lässt mit seinem wohl auch Zweifel zu, zurecht, denn morgen ist wieder Berlin die aufregendste Stadt aller Zeiten (und des Planeten selbstverständlich) und übermorgen Shanghai, dann vielleicht Istanbul. Und letzten Endes kann uns das egal sein, schade um die ganze Aufregung, weil London, New York und Paris wohl – gerade auf kulturellem Niveau – tonangebend bleiben werden wie nun schon seit Jahrzehnten.
 
Wie schon erwähnt, die Werbebranche liebt den Superlativ und ganz besonders als Hyperlativ, viele Politiker sind ihr darin gefolgt, auch sie wollen schließlich gewissermaßen etwas verkaufen. Man hat sich daran gewöhnt. Den Marketing-Experten wird der Gebrauch des Hyperlativs kaum, den Politikern schon viel eher schaden. Dem seriösen Journalismus schadet er in jedem Fall. Denn jeder Hyperlativ ist schon eine Art Falschmeldung. Nur vielleicht nicht die größte Falschmeldung aller Zeiten, die jemals gedruckt wurde – das kann sein.

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