Ein renommierter Wissenschaftler einer aufstrebenden, aktuellen Disziplin - Computational Science, also der rechnerbasierten Auswertung von Statistiken - veröffentlicht in einem der führenden deutschen Verlage - Suhrkamp - ein Werk zu einem brisanten Thema, welches exakt dem Zeitgeist entspricht: den drängenden Probleme des Klimawandels und der Überbevölkerung. Gutgemischte Zutaten für einen Bestseller, möchte man meinen. Und siehe da, es entstand: ein Bestseller. Die entscheidende Frage ist allerdings: Warum?
Stephen Emmott: Zehn Milliarden. |
Negativ - und nüchterner - betrachtet, ergeben sich aus der Konzession genau all die Defizite, die solche kurzatmigen Statements stets mit sich bringen. Letztlich handelt es sich entweder um Parolen oder um postulierte Fakten, denen weder eine Erläuterung folgt noch eine überprüfbare Herleitung, alles im Twitter-Stil. Angereichert durch die erwähnten auswechselbar wirkenden Statistiken, die ebenfalls ohne großen Kontext hauptsächlich Wissenschaftlichkeit eher suggerieren, und ästhetisch sehr ansprechenden Schwarz-Weiß-Photos, die den Zweck des Buches eben gerade durch ihre professionelle Stilisierung konterkarieren. Die Planquadrate endloser Felder oder die Linien mehrspuriger Autobahnen wirken durch ihre strenge Geometrie eher beeindruckend denn erschreckend.
"Kein theoretischer Überbau, kein moralischer Zeigefinger, nur die Fakten", verspricht der Klappentext. Dass es keine grundlegende Theorie hinter dem Vorgetragenen gibt, ist, wie erwähnt, mehr bedauerlich als hilfreich, doch der Schwerpunkt liegt naturgemäß auf dem Wort "Überbau", der Text gibt Ideologiefreiheit vor. Abgesehen davon, dass der Text von seiner Form her ohnehin einem Pamphlet - einer Kampfschrift mit Aufforderung zur Veränderung - am nächsten kommt, ist diese Behauptung eben...eine Behauptung. Natürlich folgt das Buch einer Ideologie, es versucht nicht einmal, diese zu verschleiern. Schlecht muss das nicht sein, aber dann sollte man es unterlassen, sich als objektiv - "nur die Fakten" - und neutral hinzustellen. Und - gleichfalls der Natur eines Pamphlets entsprechend - wird der angeblich nicht vorhandene moralische Zeigefinger ständig erhoben.
Schließlich hält Emmott der Allgemeinheit - der Menschheit an sich - ihren führenden Vertretern, aber auch seinen Lesern und Leserinnen jeweils vor, welchen Beitrag zum Klimawandel sie leisten - oder eben nicht. Das meiste hiervon ist einem halbwegs gut informierten Zeitungsleser sattsam bekannt, doch es muss ja nicht verkehrt sein, dies alles noch einmal in kompakter Form zusammenzutragen, etwa als Argumentationshilfe. Dies wäre ein Verdienst des Autors ("wäre" statt "ist", weil, wie gesagt, die Argumente im Raum stehen bleiben, ohne weiter unterfüttert zu werden). Weiter geht der Autor nicht. Es fiele schwer, ihn gegen den Vorwurf des Alarmismus zu verteidigen - Emmott zeichnet das Bild einer kaum noch vermeidbaren Katastrophe in drastischen Ausdrücken, bleibt jedoch jedweden konstruktiven Lösungsansatz schuldig. Mehrfach bewegt er sich in diese Richtung, doch stets läuft es darauf hinaus, dass sowohl die großen Ideen und Technologien etc. als auch das Handeln des Einzelnen kaum von Belang sei oder Aussicht auf Erfolg habe. Zwar predigt er als alleiniges Mittel den radikalen Verzicht - räumt jedoch realistischerweise umgehend ein, dass solch ein Appell nichts fruchten werde. Im Prinzip eine Aufforderung zum Nichtstun mit wohligem Grusel - ganz entgegen dem breitgedruckten Zitat der Rückseite: "Wenn wir eine globale Katastrophe verhindern wollen, müssen wir irgendetwas Radikales tun - und ich meine wirklich TUN."
Leser und Leserinnen zum Handeln - zu einem schwammigen "irgendetwas" - in letzter Minute aufzufordern, während der Text ständig suggeriert, dass es nichts mehr nutzt, während in einem fort nur im Negativen argumentiert wird - nach der Formel: wir tun dies oder jenes nicht - sprich kein positiver Anknüpfungspunkt geboten wird, gehört zu den zahlreichen Paradoxien des Buches, mit denen es sich selbst ständig unterläuft. Emmott pocht auf eigene Wissenschaftlichkeit, polemisiert in billiger Stammtischmanier jedoch gleichzeitig gegen die (Natur)Wissenschaft: brauchen wir etwa Millionen für das CERN? Natürlich nicht, sagt Emmott.
Im Mittelpunkt unseres Denkens sollte das Überleben unserer Erde und damit der Menschheit stehen - wer möchte dem widersprechen? Jedem einigermaßen klar denkenden Zeitgenossen hat das schon vor der Lektüre des schmalen Bändchens eingeleuchtet. Wer jedoch mehr möchte als sich nur bestätigt fühlen und auf Rat oder wenigstens Anregungen zur Abhilfe hofft, wird von Emmott nicht nur alleingelassen, sondern lediglich tiefer in die Resignation getrieben. Aufgeschlossene Leser und Leserinnen hinterlässt das Buch im wahrsten Sinne des Wortes rat-los. Ein Gegner in einer Diskussion, der sich schlechter Argumente bedient, ist ein Glücksfall - ein Verbündeter mit schwachen Argumenten dagegen ist eine Katastrophe.
Stephen Emmott: 10 Milliarden. Berlin: Suhrkamp 2015.