Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall. st 2558
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st 2558 Thomas Bernhard: Auslöschung. |
Die achtziger
Jahre waren keine sehr erfreuliche Zeit in der deutschsprachigen Literatur.
Resigniert hatte man sich nach dem Engagement der Siebziger in die „Neue
Subjektivität“ zurückgezogen, selbst hervorragende Schriftsteller und
Schriftstellerinnen produzierten nun schwer erträgliche Selbstbespiegelungen
von Durchschnittstypen, die jedes einzelne Gefühl mehrfach kommentierten und
sich selbst zu finden hofften. Während international die Postmoderne höchste
Triumphe feierte, machten sich hierzulande weitschweifige Gymnasiallehrer
Gedanken über ihre Zukunft und ihr Menschsein. Auf den ersten Blick könnte man
Thomas Bernhards
Auslöschung. Ein Zerfall aus dem Jahr 1989 für einen
charakteristischen Vertreter der Epoche halten, schließlich handelt es sich um
gut 650 Monolog eines Mannes, der soeben erfahren musste, dass seine halbe
Familie – die Eltern und der Bruder – bei einem Verkehrsunfall umgekommen sind.
Viel mehr an Handlung gibt das Buch nicht her: der Tag der Ankunft des
Telegramms mit der Todesnachricht, der Tag der Ankunft des Protagonisten auf
seinem Heimatschloss Wolfsegg und kurz noch die folgende Beerdigung.
Naturgemäß ist Thomas Bernhards (1931-1989) Roman, sein letzter –
er hatte in früher vollendet, aber zurückgehalten – und umfangreichster, alles
andere als ein Vertreter der selbstmitleidigen Nabelschau. Es ist, noch einmal,
ein Bernhard in kondensiertester Form, der den eigenwilligen Stil des Autors,
den selbst jeder halbwegs vertraute Laie schon nach drei Sätzen wiedererkennen
könnte, zu einem Manifest zusammenfasst, in dem Franz-Josef Murau, der
unverhoffte Erbe seines verhassten Elternhauses, die Auslöschung dieses Gutes
und der Erinnerung seiner Familie durch Aufschreiben beschließt – ein paradoxes
Unterfangen, naturgemäß, da die Erinnerung nun für alle Zeiten zu Papier
gebracht wurde. Doch Murau ist ohnehin ein Mann der Widersprüche und
oberflächliche Leser Bernhards, die noch dazu gerne geneigt sind, Erzähler und
den Autor, der, sagen wir mal, polternde Auftritte liebte, zu verwechseln,
laufen leicht Gefahr, ihm auf den Leim zu gehen. Was nicht schwer ist, liefert
Bernhard doch in seinen Roman die Stichworte selbst mit. Meine
Übertreibungskunst habe ich so weit geschult, dass ich mich ohne weiteres den
größten Übertreibungskünstler, der mir bekannt ist, nennen kann (611), so
Murau – und wer käme nicht darauf, dies auf Thomas Bernhard selbst anzuwenden?
Doch nur wenige Zeilen später heißt es sogleich: Aber auch dieser Satz ist
natürlich wieder eine Übertreibung, denke ich jetzt, während ich ihn
aufschreibe, und Kennzeichen meiner Übertreibungskunst (611). Der Roman
gehorcht ganz sicher nicht einfachen Schemata. Murau ist ein äußerst
gegensätzlicher Charakter, unzuverlässig in seinen Ansichten und Aussagen,
verlässlich nur in seiner Ungerechtigkeit und Arroganz, ein raffinierter
Vertuscher meiner Abscheulichkeiten (471), sein Hochmut ist ihm nichts
anderes als ein Machtmittel gegen eine Welt, die uns sonst und also ohne diesen
Hochmut mit Haut und Haaren verschlingen würde (435f). Murau arbeitet sich,
wie gesagt wird, an seiner Familie ab, denen er die Unterdrückung seiner
Geistesgaben und ihre katholisch-nationalsozialistische Vergangenheit
und Gegenwart, ihr Österreichertum überhaupt, vorwirft. Dem Leser bleibt es
ständig überlassen, hinter der Fassade des Herabwürdigens ein reales Bild zu
erkennen. Murau wird ihm hierbei keine große Hilfe sein – er kann seine Mutter
seitenweise auf das gröbste beschimpfen, gar als das Böse schlechthin
bezeichnen und sie doch kurz darauf wieder liebevoll beschreiben, nur um sie
sofort wieder zu verdammen.
Jeder Bernhard-Enthusiast wird die
Auslöschung mit Genuss lesen –
und Bernhard gehört wohl zu den Schriftstellern, zu denen man ein eindeutiges
Verhältnis hat: man mag ihn, oder doch eher nicht. Vielleicht ist Letzteres
eine Geschmacksfrage, aber man wird auch als Skeptiker anerkennen müssen, dass
Bernhard eine Einzelleistung höchsten Ranges in der Nachkriegsliteratur
vollbracht hat. Dass die
Auslöschung nicht einmal zehn Jahre nach ihrem
erscheinen schon das Prädikat
Roman des Jahrhunderts erhält, ist
ausnahmsweise mal keine Übertreibung. Hier findet sich noch einmal alles, was
einen Bernhard, ob Theaterstück oder Prosawerk, ausmacht: das
Lehrer-Schüler-Verhältnis, die unglaublich musikalische Syntax mit ihrer
eigenen nie monotonen Monotonie, die so beliebten Schimpftiraden, das
aristokratische
Geistesmenschentum und ein Unterbau von tiefen
philosophischen Gedanken.
Nach diesem Bericht muß alles, was Wolfsegg ist,
ausgelöscht sein. Mein Bericht ist nichts anderes als eine Auslöschung
(199).
Teil (1): James Joyce - Ulysses