Hermann
Hesse: Das Glasperlenspiel. st 2572
Als Hermann
Hesse (1877-1962) die Arbeit an seinem letzten großen Prosawerk nach zwölf
Jahren abgeschlossen hatte, konnte Das Glasperlenspiel 1943 in seiner
Heimat Deutschland längst nicht mehr veröffentlicht werden. Dass das Buch der
deutschen Zensur entgehen würde, daran dürfte er keinen Augenblick lang gedacht
haben – stellt der Roman doch einen einzigen Gegenentwurf zum Ungeist des
Nationalsozialismus dar. Der Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister
Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften, so der Untertitel,
bietet noch einmal einen Hermann Hesse in komprimierter Reinform. Die lange
Entstehungszeit und der relative Umfang lassen kaum vermuten, dass sich Hesse
in diesem Spätwerk als ein Meister der Andeutung erweist. Dies bezeugt schon
das titelgebende Glasperlenspiel. Zwar werden dessen Geschichte, seine Funktion
und seine Möglichkeiten scheinbar auf vielen Seiten beschrieben, sein Sinn und
Zweck als theoretisch ließe mit diesem Instrument der ganze geistige
Weltinhalt sich im Spiele reproduzieren (13) erklärt, doch nie wohnt der
Leser seiner Durchführung bei, noch wird er jemals Konkreteres über den Ablauf
erfahren. Das gesamte Weltwissen scheint in diesem Glasperlenspiel
zusammenzufließen, besonders Elemente der Mathematik, der Musik und der Mystik,
doch besteht das kluge Vorgehen Hesses darin, die Vorstellungskraft des Lesers
nicht zu beeinträchtigen, der die Lücken selbst zu füllen hat – also selbst
einen kreativen Akt der Phantasie vollzieht.
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Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel. |
Das Glasperlenspiel ist buchstäblich
ein Eliten-Projekt. Es ist ein Überbleibsel, hervorgegangen aus dem Schutt
vergangener Tage – den Tagen Hesses, darf man vermuten –, dem sogenannten
feuilletonistischen Zeitalter, wo das Abweichende, das Normwidrige und
Einmalige, ja oft geradezu das Pathologische (10) das Interesse der
Menschen bestimmte, sie sich von Geschichtsdeutern in den Untergang leiten
ließen oder der völligen Ignoranz hingaben. Diesen Niedergang überlebten nur
zwei große Institutionen, die durch Abgrenzung ihre geistige Unabhängigkeit
bewahrten, nämlich die beiden Mächte in der Welt, deren geschichtliche
Aufgabe die Erhaltung und Pflege des Geistes und des Friedens (193) ist,
die Römische Kirche und der Orden der Glasperlenspieler. Als Randnotiz sei
angemerkt, dass Hesse hier einerseits in einer kurzen Nebenbemerkung das
Aussterben des Protestantismus erwähnt, und andererseits wie im angeführten
Zitat die Religion als Aufgabe der Kirche gar nicht auftaucht.
Hesse lässt nun seine Leserinnen und
Leser am Aufstieg des Protagonisten Josef Knecht innerhalb des
Glasperlenspielerordens teilhaben. Dies ist ein strenger, extrem elitärer
Auswahlprozess, denn die große Mehrzahl aller Menschen auf der Erde lebte
anders, als man in Kastalien wohnte, fader, primitiver, gefährlicher,
unbehüteter, ungeordneter (104). Diese Züchtung einer abgeschotteten Elite,
die nicht frei ist von Arroganz und Verachtung, die auf absoluter Einordnung in
eine Hierarchie basiert, die nur dank ihrer strengen Disziplin funktioniert und
nach Reinheit, nach Ordnung strebt, der sie alles unterordnet, ist von einer
schwer erträglichen Borniertheit – ständig liegt in ihr die Gefahr des
Snobismus der Genialischen. Hesse selbst weiß um diese Ambivalenz. Nicht nur
ist der Weg Josef Knechts an die Spitze der Hierarchie als Magister Ludi – als
Meister des (Glasperlen)Spiels – keineswegs geradlinig, die dabei auftretenden
Zufälle und Undurchschaubarkeiten ironisieren subtil den steten Willen nach
Klarheit als Höchstprinzip des Ordens; so auch Knechts Freundschaften mit
dissidentischen Personen innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft – gerade
Gegenspieler wie der katholische Pater Jakobus ziehen ihn an.
Knechts letztendlich überraschender
Rücktritt von seinem Amt, seine Erkenntnis, dass auch das Glasperlenspiel kein
Ewigkeitswert ist, vielleicht sogar selbst Teil des Verfalls, treiben die
Ambivalenz auf die Spitze. Auf Hunderten von Seiten schien uns gezeigt worden
zu sein, dass nur die absolute Distanzierung von der Welt, der Rückzug ins rein
Geistige, ein geradezu vollkommener Eskapismus die Rettung des Geistigen
überhaupt möglich zu machen in der Lage sein würde – mit der Verachtung für
Politik, Individualismus und der Philosophie der Aufklärung, die damit
einhergeht. Doch damit nicht genug: Knecht verlässt diese geordnete Welt, womit
seine Biographie plötzlich in die Legende übergeht. Am Ende stirbt er
unspektakulär als Erzieher beim Schwimmen in einem eiskalten See – also an der
Natur.
Hesse unterläuft hierdurch auch die
Passagen seines Buches, die den Leser bei der Lektüre anfangs zurecht
erschrecken mögen, nicht nur wegen des Elitarismus, sondern auch, weil hier bis
in die Sprache hinein – es ist zum Beispiel mehrfach von Entartung (24)
die Rede – Denkweisen auftreten, die dem Faschismus ja keineswegs fremd waren:
Verachtung für klassische Politik, Individualismus als (Nerven)Krankheit, im
Grunde unheilbar (285), Befehlshörigkeit und Heranzüchtung einer Auslese
der Besten. Zwar dringt der tatsächliche Zeithintergrund – und dies auf eine
Weise, die von der Zensur niemals übersehen werden konnte – die Gegenposition
einnehmend mehrfach an die Oberfläche, etwa bei der Rolle der Literaten (vgl.
S. 381f), doch geschieht der Umbruch letztlich erst durch Knechts eigenes –
eben individuelles – Handeln, seine Absage an Ein- und Unterordnung: Was ich
begehre, ist das Gegenteil davon (362). Die Leserinnen und Leser sind Hesse
in dessen eskapistische Romanwelt gefolgt, aus der sie ihre individuellen
Schlüsse zu ziehen haben – vielleicht ist Hesse einfach selbst ein Magister
Ludi des Glasperlenspiels und wir seine Schülerinnen und Schüler.