Lars Gustafsson: Der Mann auf dem blauen Fahrrad.
Lars Gustafsson (1936-2016) war ein, wie man heute sagen würde, klassischer Vertreter der Postmoderne, der das experimentierende Schreiben liebte, aber darüber das Erzählen nicht vergaß. Leser:innen durch literarische Kniffe in die Irre zu führen, aber dabei spannend und vor allem aber auch tiefgründig zu bleiben, war seine hohe Kunst. Dies ist auch in einem seiner letzten Romane zu erahnen, in dem ein Mann auf dem titelgebenden blauen Fahrrad durch die schwedischen Lande fährt, um dort als Verkäufer einer Küchenmaschine sein Glück zu versuchen. Denn Glück ist ihm nicht unbedingt gegeben, er scheint in einer Lebenskrise zu sein, unsicher ob seiner Berufung, aber auch in seiner Ehe, zu sehr ist er ein Träumer, dem sich stets neue Probleme auftun, zu denen er gedanklich abschweift. Dabei gibt es davon ganz konkret ohnehin schon genug, als er unter Zeitdruck noch ein Herrenhaus aufsucht, dabei von Hunden angefallen wird, die ihn vom Fahrrad stürzen lassen, wobei er sich verletzt. In dem Gebäude sucht er Hilfe, doch die Menschen dort verhalten sich merkwürdig, er kommt gar nicht dazu, seine Anliegen vorzubringen – seine Küchenmaschine und sein verletztes Handgelenk. Sollte er nicht lieber wieder gehen, spätestens als er erfährt, dass die alte Mutter der Besitzerin des Hauses im Sterben liegt? Aber die Hausherrin unterhält sich freundlich mit ihm, weder abweisend, noch wirklich einladend. Gustafsson orientiert seine Geschichte an einigen alten Fotos, die er gefunden hatte, in wahlloser Reihenfolge konstruiert er um sie seine Geschichte. Dies geschieht mit den üblichen Raffinessen, aber letztlich bleibt das ganze Experiment trotz einiger kluger Einfälle ein reichlich trockenes Unterfangen. Eine Spielerei, nicht mehr, nicht weniger.
Frank Norris: Der Octopus.
Es ist ziemlich clever eingefädelt. Ende des 19.Jhs. hatte die US-Regierung den damals noch privaten Eisenbahngesellschaften sogenannte „land grants“ gewährt, um den Ausbau der Infrastruktur zu fördern. Die Eisenbahnen bekamen das die neuen Strecken umgebende Land überlassen, um diese leichter zu finanzieren. Dies hatte den doppelt erwünschten Effekt, dass eben nicht nur neue Linien gebaut wurden, sondern sich um diese sogleich Bewohner ansiedelten, da die Bahngesellschaften das ihnen überlassene Land billig weiterverpachteten, mit der Aussicht für die Farmer, dieses in absehbarer Zeit übernehmen zu können. So auch in Kalifornien, wo mehrere Siedler enorme Weizenfarmen auf dem Pachtland der Southern Pacific Railroad errichtet haben. Was nach Geben und Nehmen klingt, ist eine ziemlich einseitige Sache, wie den Bauern bald bewusst wird: Einerseits zögert die Bahn die Übergabe des Landes ständig hinaus, die Farmer leben also in Unsicherheit, ihr Pachtvertrag kann jederzeit gekündigt werden. Zudem ist die SPR der örtliche Monopolist, der durch seinen Einfluss auf die Politik überteuerte Frachttarife durchsetzt, schließlich sind die Bauern auf den Transport ihrer Getreide angewiesen. Frank Norris (1870 bis 1902), der bedeutendste Vertreter des us-amerikanischen Naturalismus, schildert die bitteren Folgen des Gilded Age für die Farmer, die in die Fänge von Monopolisten und korrupter Politik geraten. Ihr Versuche, sich zu wehren, durch Zusammenschluss und durch diverse Mittel von der Anpassung an die politischen Verhältnisse mit Hilfe von Mauscheleien und Bestechungsversuchen bis hin zu Gewalt, lässt sie schlussendlich nicht nur ihr Land, sondern auch ihre Integrität verlieren – und noch vieles mehr, denn es kommt zu einer Katastrophe, als die Bahn die inzwischen alteingesessenen Bauern erst zum Kauf ihrer eigenen Farmen zu Mondpreisen zwingen will und sie, da diese dazu nicht in der Lage sind, von ihrem Land vertreibt. Norris verknüpft diese – an reale Geschehnisse angelehnten – Ereignisse mit mehreren persönlichen, eindringlich geschilderten Schicksalen, für die er viel Raum lässt, um zu zeigen, dass hinter den abstrakten wirtschaftlich-politischen Vorgängen konkretes menschliches Leid steht. Die Anklage, die der Roman, fast schon resigniert, formuliert, ist bitter, am Ende stehen nur Verlierer. Aktuell ist der Roman auch weiterhin, Monopolisten sind ja keineswegs eine Sache der Vergangenheit.
Roberto Bolano: Das Dritte Reich.
Beim Lesen des Titels dieses frühen Romans Roberto Bolanos (1953 bis 2003) wird einem etwas mulmig zumute, erst recht, wenn man erfährt, dass es in dem Buch um einen Deutschen geht, der Kriegsspiele liebt und es in ihnen zu wahrer Meisterschaft gebracht hat. Tatsächlich bleibt das Zwiespältige dieses seltsamen Hobbys immer erhalten, auch wenn Udo Berger sonst keine rechtsextremen Vorlieben aufweist. Doch seine – sozusagen die historischen Hintergründe ignorierende – Begeisterung für Strategiespiele, in denen hauptsächlich der Zweite Weltkrieg nachgestellt wird, besitzt gleichwohl alle Anzeichen des Fanatismus. Von seinem Hobby kann er auch nicht lassen, als er einen entspannten Urlaub mit seiner Freundin in Spanien an der Küste verbringt, in Erinnerung an Aufenthalte mit seinen Eltern. Die faszinierende Hotelbesitzerin lenkt ihn mehr ab als die neugewonnenen Freunde, ein deutsches Pärchen, von denen der Mann ein typischer Sauftourist ist, der noch dazu seine Begleiterin terrorisiert. Udo möchte ihnen eigentlich ebenso ausweichen wie den örtlichen Bekanntschaften, heruntergekommenen Latin Lovers, die sich immer wieder aufdrängen. Anders ist es mit einem Bootsverleiher, der ein schäbiges Dasein führt, zudem durch einen Brandunfall völlig entstellt ist. Während ihr deutscher Bekannter plötzlich spurlos verschwindet, vermutlich im Meer ertrunken, und die Beziehung zu seiner Freundin immer mehr in die Brüche geht, bis auch sie abreist, lässt sich Udo einerseits auf die Hotelbesitzerin ein, die ihn umgarnt und zugleich auf Abstand hält, vor allem aber versucht er, „den Verbrannten“ in die Geheimnisse des Strategiespiels einzuweihen. Anfangs sieht er ihn als willigen Sparringspartner, doch hat er ihn womöglich unterschätzt… Zwar noch stringenter erzählt als spätere Romane, weist „Das Dritte Reich“ bereits zahlreiche Merkmale von Bolanos narrativen Künsten auf, so das Entstehen zahlreicher Lücken, in denen Vorgänge nie aufgeklärt oder weiterverfolgt werden, vor allem jedoch die nie durchschaubaren Motive des Handelns der Personen. Die Figuren wirken wie Getriebene, nur weiß man nie, was sie eigentlich antreibt. Wer sich vorsichtig an Bolanos Werk heranwagen möchte, findet mit dem Roman einen guten Einstieg.
Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1869.
Der Einstieg ist spektakulär. Eine Gruppe Jugendlicher auf dem Dorf flieht in einem – natürlich gestohlenen – Wagen vor der Polizei, springt aus dem Auto und entkommt erfolgreich durch die Gärten des Ortes vor der Staatsmacht. Obwohl sie sich dilettantisch anstellen, persönlichen Besitz im Fahrzeug zurücklassen, kann ihnen nichts nachgewiesen werden – der Verdacht auf den Mitgliedern der Gruppe bleibt aber sitzen. Und zwar ein Leben lang. Was womöglich auch daran liegt, dass sie sich, auf Veranlassung des Erzählers, den Namen Rote Armee Fraktion für ihren Club ausdenken, im Jahr 1969, also noch vor den etwas berühmteren Damen und Herren Baader, Ensslin, Meinhof. Bleibt allerdings die Frage: Stimmt das überhaupt? Haben diese Aktionen jemals stattgefunden oder sind sie nur Ausbund der Phantasie des jungen 13jährigen, der unter seiner Umgebung, insbesondere seiner Familie leidet, wo eine Caritas-Mitarbeiterin die Herrschaft im Haus übernommen hat, nachdem die Mutter durch eine langfristige Krankheit ausfällt und der Vater vollkommen von seiner Firma beansprucht wird? Die Behörden scheinen von den anarchistisch-terroristischen Neigungen des Jungen überzeugt, jede Handlung seines Lebens wird von ihnen in diesem Sinne gedeutet, er in abstruse Verhöre verstrickt, die voller Widersprüche strotzen – aber vielleicht ebenfalls nur seiner Phantasie entsprungen sind wie die Agententätigkeit der Frau von der Caritas für die ostdeutschen Machthaber? Wem ist zu trauen in diesem umfangreichen Text? Dem Erzähler wohl eher nicht, der aus seinen manisch-depressiven Phasen und Klinikaufenthalten schließlich auch keinen Hehl macht. Aber sind auch alle anderen Figuren und Handlungen seine Erfindung? Gibt es einen festen Kern – und wenn ja, hilft uns das irgendwie weiter? Unter den vielen ebenso verworrenen wie miteinander verwobenen Erlebnissen scheint aber gleichwohl eine immer wieder auftauchende Grundstruktur, eine Lebensgeschichte zu liegen. Die Verhöre mit ihren teils abstrusen Dialogen und die – vermeintlich – realistischen Schilderungen des Jugendlichen aus den späten 1960er und 70er Jahren mit viel Zeitkolorit wechseln sich ab mit teils ausschweifenden Schilderungen, in denen die reale Ebenen verlassen, die ohnehin nicht geringen Ansprüche an die Leser:innen höher geschraubt werden, manchmal mit Längen, aber stets äußerst kunstvoll und sprachgewandt. 2015 erhielt Frank Witzel (geboren 1955) für seinen Roman, dessen Titel schon verrät, dass er nicht den üblichen Lesegewohnheiten entspricht, gleichwohl den Deutschen Buchpreis. Sehr schön.