Halldór
Laxness: Salka Valka.
Ein
kleines Fischerdorf an der mittleren Küste Islands, im Nirgendwo, bewohnt von
Menschen, die nur notdürftig ihr Dasein fristen, in Abhängigkeit gehalten vom
reichsten Mann vor Ort, dem Kaufmann Johann Bogesen, der ein raffiniertes
Schuldensystem geschaffen hat, mit dem er die Kontrolle über das Dörfchen
behält. Dort landen mit dem Linienschiff eine Frau und ihre Tochter, doch
niemand will ihnen Aufnahme gewähren, weder der Pastor, noch Bogesen, noch der
Arzt, alle winden sich mit Argumenten aus der Verantwortung, selbst die
Heilsarmee kann sich erst zur Hilfe überwinden, als die Frau bei einer ihrer
Versammlungen ein Erweckungserlebnis hat. Tatsächlich großzügig zeigt sich nur
das versoffene Großmaul Steinthor, der die beiden bei Verwandten in einer schäbigen
Hütte unterbringt. Salka Valka, so der Kosename der 11jährigen bemerkt bald,
dass sie sich ihrer Mutter entfremdet, die einerseits immer stärker von ihrem
naiven Jesusglauben geprägt wird, anderseits zunehmend in den Bann Steinthors
gerät, der jedoch weder vom Alkohol noch von anderen Frauen lässt. Salka selbst
findet nicht in die Gemeinschaft, sie ist ein selbstbewusstes, weil auf sich
allein gestelltes Kind, forsch und nie um eine Erwiderung verlegen. Von den
Kindern des Dorfes gehänselt, hat sie nur in dem älteren Jungen Arnaldur eine
Art Freund, da dieser, selbst ein Außenseiter, ihr Lesen und Schreiben
beibringt. Ihre Mutter träumt derweil von einer Hochzeit mit Steinthor, der
sich allerdings davonmacht, als die Geburt des gemeinsamen Kindes bevorsteht und
nachdem er versucht hat, Salka zu vergewaltigen. Nachdem sie diesen Schock
überwunden hat, versucht Sigurlina ihr Leben zu konsolidieren, indem sie dem
Antrag eines Bauern nachgibt, der sie zur Frau haben möchte, doch die Hochzeit
verzögert sich, das Kind stirbt und plötzlich taucht Steinthor wieder auf. Sigurlina
läuft wieder zu ihm über, alles scheint von vorne zu beginnen. Doch wieder
verschwindet Steinthor kurz vor der Hochzeit, die zweifach Betrogene sucht den
Tod im Meer. Nun könnte man für den zweiten Teil einen Bruch erwarten, der auch
kommt, aber in überraschender Form. Salka, nun eine junge Frau, wohnt allein in
einer schmuck eingerichteten Hütte, sie hat Anteil an einem Schiff und eine
wichtige Position im neugegründeten Schifferverein, offenkundig auch Geld –
gesandt von einem Unbekannten aus Amerika. Es ist ihr also gelungen, sich eine
Position im Ort zu erarbeiten, mit der sie hofft, die Verhältnisse dort
verbessern zu können. Sie ist immer noch eine Außenseiterin, die als zu männlich
gilt, aber nun eine mit Ansehen. Doch die Kämpfe mit dem Monopolisten Bogesen,
der sich gern als liebender Patriarch gibt, werden immer härter, das Dörfchen
gerät in die Schwankungen der isländischen Politik, zwischen freisinnigen
Unabhängigkeitskämpfern wie Bogesen und sozialistischen Ideengebern wie dem
plötzlich zurückkehrenden Arnaldur, der vor Ort agitiert, Streiks organisiert
und fanatische Reden schwingt. Salka ist hin- und hergerissen, beide
Möglichkeiten scheinen ihr keine Optionen, beides wird auf dem Rücken der armen
Schichten ausgetragen – hinzukommt ihre uneingestandene Liebe zu Arnaldur. Noch
komplizierter wird ihre Lage durch das Auftauchen des scheinbar geläuterten –
und inzwischen vermögenden – Steinthor, sie gerät in Gefahr, den Weg ihrer Mutter
einzuschlagen. Doch dafür ist Salka nicht beeinflussbar genug, sie hält trotz
aller Versuchungen an der ihr eigenen Mischung aus Instinkt, Vernunft und
Selbstlosigkeit fest, für die sie jedoch hohe Preise zu zahlen hat. Halldór Laxness (1902 bis 1998) bewies mit "Salka Valka" einmal mehr, warum er zu den
Literaturnobelpreisträgern gehört, die diese Auszeichnung auch tatsächlich
verdient haben. Die Schilderung der tristen Atmosphäre des Dorfes, der
einzelnen, oft äußerst wankelmütigen Charaktere seiner Bewohner, der verhärteten
Obrigkeit in Form des huldvollen Pastors, des dem Wahnsinn verfallenen Arztes
oder des sich selbst bemitleidenden ausbeuterischen Bogesen, durch einen nicht
selten ironisch sarkastischen Erzähler, vor allem aber die Gestaltung der
Hauptfiguren, über Sigurlina bis Steinthor, von Arnaldur bis vor allem zu
Salka, deren Perspektive wir hauptsächlich einnehmen, erweist er sich als einer
der ganz Großen. Denn keine dieser Personen ist eindeutig, selbst da, wo unsere
Sympathien liegen, gibt es keine einfachen Linien, gerade Salka ist eine
Person, mit der man auch streiten kann, sie weiß ihre Unabhängigkeit von allen
zu wahren, passt sich nicht an, bleibt dadurch aber auch allein. Sie geht keine
geraden Wege, ringt mit ihren Entschlüssen, liegt dadurch auch falsch, macht es
sich nie bequem. Sie ist eine der viel zu wenig bekannten, ganz großen
Frauengestalten der Literatur des 20. Jahrhunderts und "Salka Valka" ein
Meisterwerk.
Per
Olof Sundman: Ingenieur Andrées Luftfahrt.
Anders
als bei uns ist der 1897 von dem schwedischen Beamten Salomon August Andrée
unternommene – zweite – Versuch, den Nordpol mithilfe eines Ballons zu
erreichen in seinem Heimatland ebenso legendär wie unvergessen. Per Olof Sundman (1922 bis 1992) schildert das Unternehmen aus der Sicht des jungen
Ingenieurs Knut Fraenkel, der sich darum bemüht, den freigewordenen dritten
Platz in dem Fluggefährt einnehmen zu dürfen, nachdem der am ersten durch
fehlende Winde bedingten abgesagten Startversuch beteiligte Nils Ekholm
inzwischen zum Kritiker des gesamten Unternehmens geworden war. Fraenkel
bekommt die Stelle und bereitet sich mit seinem Kollegen Strindberg und dem
Ersatzmann Swedenborg – sie hießen tatsächlich so und waren entfernte Verwandte der
bekannteren Träger dieser Namen – intensiv auf die Reise vor, während Andrée
weiterhin seinem Beruf nachgeht und eher im Stillen wirkt. Die Begeisterung der
Bevölkerung, verbunden mit viel schwedischem Nationalstolz, ist groß, auch
wegen der parallelen Erfolge anderer Polarexpeditionen, etwa – ausgerechnet –
des Norwegers Fritjof Nansen. Nachdem diesmal die Wetterlage günstiger scheint,
kann der Flug schließlich von Spitzbergen aus starten. Doch Fraenkel muss bald
feststellen, dass das ganze Unternehmen weitaus weniger akribisch und
wissenschaftlich gesichert vorbereitet worden war, als er geglaubt hatte. Nach
und nach verliert er seine Illusionen über das Vorhaben, vor allem aber über den
Leiter Andrée. Schon früh hatten dieser und Strindberg zuviel Ballast
abgeworfen und die zur Steuerung notwendigen Schleppseile in einem Panikanfall
gekappt, an sich treibt der Ballon nun unkontrolliert über dem Eis und droht
ständig aufzuschlagen, was nach drei Tagen auch der Fall ist – weit entfernt
vom Pol und dem Ziel einer einmonatigen Luftfahrt. Fraenkel und auch Strindberg
wird bewusst, dass Andrée elementare Grundsätze vernachlässigt und sich
generell idealistischen Phantasien hingegeben hatte, was sich bei dem nun
notwendigen Versuch zeigt, einen Weg zu angelegten Vorratslagern zu finden. Unter
Führung des überforderten und wenig entscheidungsfreudigen Andrée schlägt man
Wege ein, die schließlich zur Aufgabe führen, da die unter extremen Mühen
zurückgelegten Kilometer jeweils durch die Bewegungen des Packeises wieder
konterkariert werden. Es bleibt nur die Errichtung eines Winterlagers im Eis,
doch das erste Schneehaus wird zerstört, man muss sich auf eine Gletscherinsel
zurückziehen, entkräftet und krank. Strindberg stirbt. Und er wird nicht der
einzige bleiben. Dem Geschehen angemessen schildert Sundman – für ihn typisch –
das Scheitern der berühmten Expedition und den Verlust der Illusionen bei den
jungen Teilnehmern in einem äußerst knappen, unterkühlten Tonfall. Die langsame
Entlarvung des gesamten Unternehmens als von Vorneherein zum Scheitern
verurteilt geht einher mit den zunehmend bedrängenden Umständen, die sich als
mehr und mehr aussichtlos erweisen. Spannend und hart.
Matthias
Brandt: Raumpatrouille.
In
Matthias Brandts (geboren 1961) kurzem Band mit kurzen Erzählungen stoßen wir
ständig auf Doppelungen. Es sind autobiographische Geschichten aus der Sicht
eines Kindes in der Bundesrepublik der 1970er Jahre aus dem beschaulichen Bonn,
das nebenher auch Bundeshauptstadt ist. Nun ist Brandt ein bekannter
Schauspieler und sein Vater ein gewesener – zur Zeit des Textes aktiver –
Bundeskanzler. Das reizt natürlich – eben – doppelt. Eine ohnehin berühmte
Persönlichkeit schreibt über sich und seine noch berühmtere Familie, dazu kommt
der wiederum zweifache Kunstgriff, dass die Leser:innen einerseits gewissermaßen
mit Schlüsselromanelementen gelockt werden, andererseits der Nostalgiefaktor
keine geringe Rolle spielt, der sich unter anderem in der wiederkehrenden exakten
Benennung von bestimmten Gegenständen und Namen manifestiert, vom Bonanza-Rad
bis Wim Thoelke. Die eigentlich interessante Doppelung ist aber, wie banal,
sprich ununterschieden von anderen – unseren – Kindheiten ein Kanzlerkind
aufwächst, es sind dieselben beziehungsweise ähnlichen Befürchtungen,
Erlebnisse, Fantasien, die wir alle hatten, was einerseits beruhigend ist,
andererseits die Identifikation – und damit den Erfolg des schmalen Bändchens –
bei den Leser:innen erklärt. Das man zum Besuch beim älteren Nachbarn geschickt
wird, geschniegelt und leicht verlegen, ist nichts Besonderes, auch wenn es
sich in diesem Fall um einen ehemaligen Bundespräsidenten handelt. Die
wenigsten von uns wurden vermutlich je von Personenschützern zum Übernachten
bei einem Schulfreund gefahren, aber dieses Gefühl, dort soviel mehr zu dürfen,
dass die Gasteltern ganz anders und locker seien – die böse Ironie ist, dass es
sich um tatsächlich um einen totalen Spießeralbtraum handelt –, das sich
letztlich in eine moralische Krise und abruptes Heimweh verwandelt, weil man es
als Verrat an der eigenen Familie empfindet, so oder so ähnlich haben das
sicher viele erlebt. Das alles ist womöglich nicht der Gipfel der
Höhenkamp-Literatur, aber auch mehr als das Geschreibsel eines sich
selbstverwirklichenden Schauspielers, es ist eine unterhaltsame und auch
durchaus nachdenklich stimmende Lektüre.
Arthur
C. Clarke: Die sieben Sonnen.
Es
ist nicht immer ganz leicht mit dem Schreiben von Science-Fiction: Setzt man
seine Geschichte in vergleichsweise naher Zukunft an – etwa dem Jahr 2050 –, so
besteht die Gefahr, dass das eigene Werk von eben jener Zukunft eingeholt wird
und sich viele Voraussagen als peinlich falsch herausstellen. Verschiebt man die
Abläufe in scheinbar sichere Gefilde, beispielsweise die Zeit um 2350, so kann
es passieren, dass man dort Erfindungen als erstaunlich und unglaublich
innovativ präsentiert, die inzwischen für jede:n Leser:in längst Alltag
geworden sind, so wie es manchem Erzeugnis der Star-Trek-Serien erging. Oder
man macht es wie Arthur C. Clarke (1917 bis 2008) in den „Sieben Sonnen“ und
geht komplett auf Nummer sicher, in dem man die Handlung einfach kurzerhand in
eine Zeit nach Tausend Millionen Jahren ansetzt. Die Menschheit hat sich beim
Versuch, ein galaktisches Imperium zu errichten, reichlich übernommen, wurde im
Gegenzug von sogenannten Invasoren auf die dabei größtenteils zerstörte Erde
zurückgedrängt und lebt nun als Restbestand geschützt in der einzig
verbliebenen Stadt Diaspar. Um den eigenen Bestand zu erhalten, aber auch, um
jegliche Wiederholung der vergangenen Katastrophen zu verhindern, sind die
Überlebenden wohlbehütet, selbstvergessen und an allem um sie herum völlig
desinteressiert. Die Menschheit hat Unsterblichkeit erreicht, in der der
Einzelne nach gut tausend Jahren Lebensspanne in ein Stadium der Regeneration
verfällt, aus dem er nach einiger Zeit, angereichert mit den Erinnerungen
seiner Vorleben, wiederersteht zu dem bequemen, von Maschinen und Robotern
umsorgten Leben in Diaspar. Doch Alvin ist anders: Er besitzt keine Erinnerung
an Vorleben, er ist tatsächlich ein „neues“ Geschöpf. Dies macht ihn zum
Außenseiter, aber versieht ihn auch mit ungewohnten Eigenschaften: etwa
Neugier. Alvin möchte wissen, ob es außerhalb Diaspars wirklich nichts gibt als
reine Wüste – die natürliche Furcht der Bewohner vor der Außenwelt fehlt ihm.
Über Umwege gelingt es ihm, Diaspar zu verlassen – und tatsächlich stellt er
fest, dass mit Lys noch eine weitere menschliche Gemeinschaft auf dem Planeten lebt.
Diese ist freier als Diaspar, doch verlangt genauso streng, nicht mit der Stadt
in Kontakt zu kommen. Alvin ist gezwungen, entweder dort zu bleiben oder sein
Gedächtnis an den Aufenthalt löschen zulassen. Doch er hat andere Pläne, er
will mehr Wissen und er will Veränderung. Mit seiner Flucht zurück nach Diaspar
löst er konsequenzenreiche Veränderungen aus. Clarke, einer der Altmeister der
Nachkriegs-Science-Fiction, verhandelt hier, für ihn, der sich sonst
hauptsächlich für die technische Weiterentwicklung interessierte, eher
ungewöhnlich, überwiegend philosophische Themen – auch vor dem Hintergrund des
Kalten Krieges. Insgesamt sind die „Sieben Sonnen“ ein Thesenroman, mit
anderen Worten: nicht unbedingt ein actionreicher Pageturner. Somit mehr etwas
für Liebhaber:innen des Genres oder Hardcore-Clarke-Fans.
Henri
Bosco: Le mas Théotime.
Pascal
Dérivat lebt seit zehn Jahren auf einem Landgut in einer höhergelegenen Region
der Provence, er bewohnt dort das Herrenhaus (frz. mas) Théotime, während auf
dem zum Areal gehörenden Gehöft die Familie Alibert, die für die Landwirtschaft
und auch seine Versorgung zuständig ist, untergebracht ist. Es ist ein beschauliches
Leben, geprägt von den täglichen Arbeiten und den Anforderungen der
Jahreszeiten und es ist auch einsam, mit den zurückhaltenden Alibert versteht
sich Pascal fast wortlos, das Dorf ist weit, die Nachbarn, einzelne kleinere
verstreute Gehöfte machen sich, bis auf einen, kaum bemerkbar. Da wird Pascal
die Ankunft seiner Cousine Geneviève angekündigt. Sie soll sich bei ihm von
einer unglücklichen Beziehung erholen. Er ist wenig begeistert, sein Verhältnis
zu Geneviève war immer äußerst zwiespältig, während er tief im Inneren seine
Liebe zu ihr verbarg, gab er sich äußerlich rüde, bis hin zu einem Skandal auf
einem Familienfest, als er sie bei einem Annäherungsversuch schlug – einer der
Gründe, warum er sich vom Großteil der Familie zurückzog auf das Landgut. Doch
Geneviève hatte ihm schon längst verziehen und bald scheint sie sich nicht nur
in das ruhige Leben auf Théotime einzufügen, Pascal spürt die alten Gefühle
wieder in sich hochkommen, die auch von ihr erwidert werden, ohne dass es zu
einer Aussprache kommt. Ein Zwischenfall sorgt dann für die Störung des Idylls.
Geneviève hatte Clodius aufgesucht, den Nachbarn, der seit Jahren aus Tradition
eine unverbrüchliche Feindschaft mit den Bewohnern Théotimes pflegt, obwohl er
ein Cousin Pascals ist. Dieser holt Geneviève vom Nachbarhof, wobei er Clodius
zurückstößt, der zu Boden fällt und liegenbleibt. Über Tage herrscht
Unsicherheit: Hat er Clodius getötet, da dieser seitdem nicht mehr aufgetaucht
ist? Wäre das schlimmer als die Rache, die dieser mit Sicherheit nehmen würde,
falls er überlebt hat? Zu allem Unglück leidet Geneviève unter der Situation,
sie begibt sich auf einige Zeit zu einem Verwandten in ihrem Heimatort. Doch
Clodius erscheint nach einigen Tagen wieder, sich anfangs harmlos gebend, bereitet er, wie
befürchtet, einen langsamen, quälenden Feldzug gegen seine Nachbarn vor. Doch
eines Tages liegt er tot vor seinem Haus, erschossen. Pascal wird nur kurz
verdächtigt, noch erstaunlicher aber ist, dass der ihn hassende Cousin ihm als
letzten Verwandten sein Gut vererbt hat. Pascal steht vor der Entscheidung,
dieses Erbe anzutreten oder zu verweigern, das ihn auf immer mit Clodius
verbinden wird. Derweil versteckt er den Mörder seines Cousins bei sich auf dem
Hof, wo er ihn zufällig entdeckt, aber nicht verraten hat. Er will das Motiv
für die Tat wissen, handelt es sich doch bei dem Mann um einen ihm völlig
Unbekannten, der Kleidung nach ein Städter. Nichts ist geblieben vom
beschaulichen Landleben, Pascal ist mit zahlreichen Dilemmata konfrontiert, die
Aliberts entfremden sich ihm und irgendwann steht plötzlich wieder Geneviève
vor der Tür, die sich ihm weiterhin aus scheinbar unersichtlichen Gründen
verweigert. Doch der Grund ist längst bei ihm zuhause – der Mann, den er
versteckt. Henri Bosco (1888 bis 1976) ist bei uns so gut wie unbekannt, in
Frankreich gilt er als einer der großen Jugendschriftsteller. „Le mas Théotime“
wie viele seiner Werke in der Provence angesiedelt, ist ein äußerst karges
Buch, das von seinem Personal lebt. Es sind eigenbrötlerische Charaktere, in
sich gekehrt, es wird unglaublich wenig gesprochen miteinander, aber sehr viel
geschwiegen. Selten wird etwas offen gesagt, teils verzweifeln die Figuren aber
auch an ihrer Sprachlosigkeit, ihrer Unfähigkeit, ihre Gefühle auszudrücken.
Die Einsamkeit zeigt ihre beiden Seiten, das Genügsame, Glücklichmachende, aber
auch das Hilflose, Alleingelassene. Ein großartiges Portrait einer Landschaft
und ihrer Menschen.
Alissa
Walser: Die kleinere Hälfte der Welt.
Manche
Bücher altern schnell. Der dünne Band mit Erzählungen von Alissa Walser
(geboren 1961) stammt aus dem Jahr 2000 und wirkt schon heute so, als würde er
inzwischen nicht mehr geschrieben werden. Ob das gut oder schlecht ist, darüber
kann man trefflich diskutieren, in jedem Fall hat man beim Lesen dieser
Geschichten, in den sexuelle Gewalt eine offene oder unterschwellige Rolle
spielt, ein zumeist mindestens ungutes Gefühl. Zwar sind die Männer das
ausübende Element, beherrscht von ihrer Triebhaftigkeit, zwar scheinen einige
Frauen mit ihrer Macht, die sie dadurch über ihr Gegenüber erlangen, zu spielen
oder diese selbstbewusst zu nutzen, aber es gibt auch einen schwer
durschaubaren Graubereich, in dem gerade die Mädchen eher Opfer ihrer eigenen
Verführungskünste werden, sie das Unheil fast bewusst heraufbeschwören, was
leider etwas zu sehr an die Kurze-Rock-Debatte erinnert. Aber vielleicht muss
das jede:r für sich entscheiden, wenn er oder sie sich an die nicht ganz einfache
Lektüre der Erzählungen macht.
Robert
Seethaler: Ein ganzes Leben.
Andreas
Egger wächst in einem kleinen Alpendorf auf, eine glückliche Kindheit ist es
nicht. Er wird von entfernten Verwandten aufgezogen, seine Mutter – der Vater
ist unbekannt – ist früh gestorben. Seinen Pflegeeltern dient er nur als
zusätzliche Arbeitskraft und als Prügelobjekt, während einer der unzähligen
Bestrafungen wird er so sehr misshandelt, dass sein Bein bricht und er fortan
hinkt. Trotzdem wächst er zu einem kräftigen Burschen heran, der bald gegen
Bedenken wegen seiner Behinderung eine verantwortungsvolle Aufgabe beim
Seilbahnbau bekommt und seine Liebe findet, eine zugezogene Kellnerin. Es
scheint alles im Lot, man hat ein kleines Häuschen außerhalb des Dorfes, lebt
bescheiden, aber glücklich. Doch eine Lawine zerstört das Haus und tötet Marie,
Egger verzweifelt und zieht in den Krieg, aus dem er erst nach langer
Gefangenschaft zurückkehrt. Er verdingt sich erfolgreich als Fremdenführer für
die immer zahlreicheren Touristen, die in das prosperierende Dorf einfallen,
später entwickelt er sich zum Eigenbrötler, zieht in einen verfallenen Stall,
stirbt. Ein ganzes Leben ist vorbei. Wieder ein Bestseller aus der Feder Robert
Seethalers (geboren 1966), der von seiner nüchternen Erzählweise und einem
ebenso klaren Plot lebt. Der Erfolg beruht auf der gekonnten Verknüpfung von
Vertrautem: Der recht einfach gestrickte, aber liebenswerte Dorfkauz, die
Kindheit beim bösartigen Bauern, überhaupt das seltsame Leben der Dorfbewohner,
gespickt mit grausigen Details und kuriosen Bräuchen, alles vor imposanter
Kulisse, der Einfall des Fremden in Form der Seilbahnarbeiter und der
Touristen, die zerstörerische Lawine – ein Klassiker des Genres! –, die
Verbundenheit mit der Heimat, die schon eine Busreise zu den Nachbarorten exotisch
und gefährlich wirken lässt, und einiges mehr. All das ist nicht neu, aber nett
aufbereitet, man liest es recht gern, weil es gut geschrieben ist und weil man
es schon kennt. Nicht mehr, nicht weniger.