Roberto
Bolano: Die wilden Detektive.
Natürlich
ist in dem Roman von Roberto Bolano (1953-2003) nichts so, wie es scheint und
erst recht werden uns hierfür keinerlei Erklärungen geliefert. Anfangs handelt
es sich offenbar um die Geschichte eines jungen Mannes, 17 Jahre, der in Mexico
City versucht, sich einem Kreis avantgardistischer Dichter und Dichterinnen
anzuschließen, die sich nach einer früheren literarischen Bewegung der 1920er
Jahre „Realviszeralisten“ nennt. Doch so genau erfahren wir nie, worin deren
Innovation besteht, wie und was sie schreiben, und auch wer dazugehört, ist nie
so genau klar, selbst den eigenen Mitgliedern nicht – auch die Mitgliedschaft
des jungen 17jährigen wird hunderte Seiten später bezweifelt. Nur die beiden
führenden Köpfe, Arturo Belano und Ulises Lima sind die unangefochtenen Köpfe
der Gruppe, aber worin besteht eigentlich ihr Führungsanspruch? Der –
vermeintliche – Protagonist wird in jedem Falle durch seine neuen
Bekanntschaften in eine üble Geschichte hineingezogen, eine Freundin seiner
Geliebten wird von ihrem Zuhälter bedroht und verfolgt, weshalb er überhastet mit
ihr, Belano und Lima aus der Hauptstadt fliehen muss. Hier endet der erste Teil
des Buches. Der zweite verfolgt in vielen Einzelgesprächen das Schicksal der
verschiedenen Realviszeralisten, das nur selten mit Literatur zu tun hat, Bruchstücke
von meist wenig erfreulichen Biographien tun sich auf, in denen schließlich
auch immer nebelhaft die beiden ehemaligen Anführer Belano und Lima auftauchen.
Schließlich springt der Roman im dritten Abschnitt wieder zum Fluchtgeschehen
zurück, das jedoch gleichzeitig die Suche nach einer Dichterin der ersten
Realviszeralisten ist – beides endet in einer Katastrophe. Bolano eröffnet ein
riesiges Panoptikum, in der ein gesamtes Weltwissen einfließt, das weit über
die lateinamerikanische Literatur hinausgeht. Gleichzeitig verschwindet darin
unser Wissen über die Personen. So wie die Figuren im Buch oft auf der Suche
nach anderen sind, Dichter*innen, Freund*innen, im Großen wie im Kleinen, lässt
sich trotz der vielen Angaben kein zusammenhängendes Leben erkennen, so
detektivisch man vorgehen möchte. Und die einzig erfolgreiche Suche hat fatale
Folgen. Ein Bolano-Roman in Reinkultur, wie immer großartig.
Ludwig
Tieck: Vittoria Accorombona.
Er
ist ein Klassiker, war unglaublich produktiv, extrem einflussreich und in allen
literarischen Genres bewandert, durchlebte alle Stufen der deutschen Romantik
und war seiner Zeit in manchem sehr weit voraus, insbesondere in seinen
Bühnenstücken, die die Postmoderne bereits vorwegnahmen – und er wird bis heute
gelesen, jeder kennt zum Beispiel „Der gestiefelte Kater“. Und doch ist Ludwig
Tieck (1773-1853) außerhalb von Fachkreisen im öffentlichen Bewusstsein kaum
verankert. Sein letzter Roman „Vittoria Accorombona“ von 1840 war ein
Bestseller und wurde sofort in mehrere Sprachen übersetzt. Die Geschichte der
schönen Vittoria aus altem Geschlecht, gleichzeitig junge Dichterin, die ins
Intrigengeflecht des Italiens der Spätrenaissance gerät – und darin umkommt –
beruht auf historischen Fakten. Das zerfledderte, unabgeschlossene und mit
Gedichten durchsetzte Romanschreiben, einst von Tieck selbst mitetabliert, hat
er nun – gut fünfzig Jahre nach seinen ersten Texten – hinter sich gelassen,
auch der sprachliche Enthusiasmus der Frühzeit ist gedämpfter. Zwar ist der
Plot am Anfang etwas schwerfällig, aber Tieck überzeugt vor allem durch die
Charakterisierung seiner Figuren, die äußerst ambivalent sind. Hier sucht
letztlich jeder seinen eigenen Vorteil, der ihm den Aufstieg sichert.
Wechselnde Koalitionen, ziemlich skrupellose Beseitigung des Gegners, heute
oben, morgen am Galgen, all das ist Alltag und kann ganz schnell geschehen.
Auch Vittorio Accombona, ziemlich forsch auftretende junge Dame, ist davon nicht
frei – sie wahrt sich ihre Eigenheiten und ihre Distanz, heiratet aber aus
Berechnung, doch immerhin mit edlen Motiven – einen ungeliebten Ehemann, der unter
mysteriösen Umständen getötet wird, was ihr ermöglicht, sich mit ihrem
Geliebten, einem Herzog, zu verloben – der hatte, weitaus weniger mysteriös
vorher eigenhändig seine Frau erwürgt. Auch das Desinteresse Vittorias am
Schicksal ihrer Mutter, die, von ihren Kindern nach derem Aufstieg undankbar
gemieden, dem Wahnsinn verfällt, macht sie nicht unbedingt sympathisch, auch
wenn Tieck viel daran gelegen ist, sie als selbstwusste Frau in feindlicher
Umgebung darzustellen. Nimmt nur langsam Fahrt auf, bleibt aber ein
lesenswerter Roman.
Claude
Berri: Le vieil homme et l’enfant.
Das
französische Nachkriegskino vom anspruchsvollen Filmschaffen der Nouvelle Vague
– zu dem er
selbst als Regisseur beitrug – bis hin zu den großen kommerziellen und oft auch internationalen Erfolgen von "Willkommen bei den „Sch’tis“ bis „Asterix“ war ohne Claude Berri (1934-2009) nicht denkbar. Und er war ein Multitalent: Regisseur, Schauspieler, Drehbuchautor und insbesondere Produzent. „Le vieil homme et l’enfant“ enthält nicht nur das Drehbuch zum gleichnamigen Film von 1967, sondern auch eine einführende autobiographische Erzählung aus der Feder Berris – der Grundlage zum Film, der davon in einigen Punkten leicht abweicht. Der kleine Claude ist zwar kein aufmüpfiger Junge, aber einer, der seine Eltern trotzdem immer wieder in Verlegenheiten bringt. Zwar sind die Missetaten des 9jährigen eigentlich keine außergewöhnlichen, aber die Situation macht sie gefährlich. Denn Claude und seine Eltern sind Juden im Frankreich des Zweiten Weltkriegs – es ist äußerst unklug, auffällig zu werden. Und so bringt jeder Dummejungenstreich die Familie in Gefahr, nur scheint, was den Papa zur Verzweiflung bringt, der Nachwuchs dies nicht zu verstehen. Als die äußere Situation immer bedrängender wird, entschließen sich Claudes Eltern schweren Herzens, ihn unter falscher – katholischer – Identität bei den Eltern einer Bekannten unterzubringen, in einem einsamen Bergdorf. Die übernehmen die Aufgabe gerne, der Junge bringt Leben in das Häuschen der beiden herzlichen Alten, die nicht wissen, dass es sich dabei um einen Juden handelt. Denn der nette Opa Pépé, ehemaliger Weltkriegsoffizier, ist leidenschaftlicher Anhänger Pétains und vor allem überzeugter Antisemit, überall erkennt er auf den ersten Blick die Feinde Frankreichs: Engländer, Kommunisten, de Gaulle und natürlich die Juden. Anfangs unsicher, versteht Claude selbstbewusst mit der Situation umzugehen, indem er Pépé immer wieder dazu bringt, sich über die Juden auszulassen und ihn scheinbar ängstlich fragt, wie man diese erkennt und was sie alles so Gefährliches tun. Der Junge fühlt sich sichtlich wohl, beide albern miteinander herum, es folgt ein schwerer Abschied, als der Junge nach Kriegsende wiederabgeholt wird. Berri verzichtet auf die allzu naheliegende Pointe, Pépé am Ende aufzuklären über den Jungen. Ein liebenswerter Antisemit, geradezu das Ideal des netten Großvaters, noch dazu verkörpert von einer Ikone des französischen Kinos, Michel Simon? Das könnte man bedenklich finden, ist aber ein sehr wirksames Mittel, schließlich führt nichts mehr als die absurden Ansichten Pépés, die in den versichernden Worten gegenüber des ihn mit angeblichen Ängsten provozierenden Claude gipfeln, dass dieser ganz gewiss kein Jude ist, weil er keine von deren leicht erkennbaren Merkmalen besäße, dazu, diese Ansichten als Humbug zu entlarven. Und dass diese Ansichten aus dem Mund eines an und für sich netten Menschen stammen, rückt nur das immer noch hochaktuelle Dilemma in den Fokus, dass es eben nicht nur totalverbohrte, widerwärtige und geistesschwache Spinner sind, die solche gefährlichen totalverbohrten, widerwärtigen und geistesschwachen Dinge von sich geben, sonst würden sich diese ja nicht weiterhin verbreiten. Berris Film zeigt nicht, dass Antisemiten nett sind, sondern dass auch Nette Antisemiten sein können – und dass dies unsere Aufmerksamkeit und den Mut zum Widerspruch erfordert.
selbst als Regisseur beitrug – bis hin zu den großen kommerziellen und oft auch internationalen Erfolgen von "Willkommen bei den „Sch’tis“ bis „Asterix“ war ohne Claude Berri (1934-2009) nicht denkbar. Und er war ein Multitalent: Regisseur, Schauspieler, Drehbuchautor und insbesondere Produzent. „Le vieil homme et l’enfant“ enthält nicht nur das Drehbuch zum gleichnamigen Film von 1967, sondern auch eine einführende autobiographische Erzählung aus der Feder Berris – der Grundlage zum Film, der davon in einigen Punkten leicht abweicht. Der kleine Claude ist zwar kein aufmüpfiger Junge, aber einer, der seine Eltern trotzdem immer wieder in Verlegenheiten bringt. Zwar sind die Missetaten des 9jährigen eigentlich keine außergewöhnlichen, aber die Situation macht sie gefährlich. Denn Claude und seine Eltern sind Juden im Frankreich des Zweiten Weltkriegs – es ist äußerst unklug, auffällig zu werden. Und so bringt jeder Dummejungenstreich die Familie in Gefahr, nur scheint, was den Papa zur Verzweiflung bringt, der Nachwuchs dies nicht zu verstehen. Als die äußere Situation immer bedrängender wird, entschließen sich Claudes Eltern schweren Herzens, ihn unter falscher – katholischer – Identität bei den Eltern einer Bekannten unterzubringen, in einem einsamen Bergdorf. Die übernehmen die Aufgabe gerne, der Junge bringt Leben in das Häuschen der beiden herzlichen Alten, die nicht wissen, dass es sich dabei um einen Juden handelt. Denn der nette Opa Pépé, ehemaliger Weltkriegsoffizier, ist leidenschaftlicher Anhänger Pétains und vor allem überzeugter Antisemit, überall erkennt er auf den ersten Blick die Feinde Frankreichs: Engländer, Kommunisten, de Gaulle und natürlich die Juden. Anfangs unsicher, versteht Claude selbstbewusst mit der Situation umzugehen, indem er Pépé immer wieder dazu bringt, sich über die Juden auszulassen und ihn scheinbar ängstlich fragt, wie man diese erkennt und was sie alles so Gefährliches tun. Der Junge fühlt sich sichtlich wohl, beide albern miteinander herum, es folgt ein schwerer Abschied, als der Junge nach Kriegsende wiederabgeholt wird. Berri verzichtet auf die allzu naheliegende Pointe, Pépé am Ende aufzuklären über den Jungen. Ein liebenswerter Antisemit, geradezu das Ideal des netten Großvaters, noch dazu verkörpert von einer Ikone des französischen Kinos, Michel Simon? Das könnte man bedenklich finden, ist aber ein sehr wirksames Mittel, schließlich führt nichts mehr als die absurden Ansichten Pépés, die in den versichernden Worten gegenüber des ihn mit angeblichen Ängsten provozierenden Claude gipfeln, dass dieser ganz gewiss kein Jude ist, weil er keine von deren leicht erkennbaren Merkmalen besäße, dazu, diese Ansichten als Humbug zu entlarven. Und dass diese Ansichten aus dem Mund eines an und für sich netten Menschen stammen, rückt nur das immer noch hochaktuelle Dilemma in den Fokus, dass es eben nicht nur totalverbohrte, widerwärtige und geistesschwache Spinner sind, die solche gefährlichen totalverbohrten, widerwärtigen und geistesschwachen Dinge von sich geben, sonst würden sich diese ja nicht weiterhin verbreiten. Berris Film zeigt nicht, dass Antisemiten nett sind, sondern dass auch Nette Antisemiten sein können – und dass dies unsere Aufmerksamkeit und den Mut zum Widerspruch erfordert.
Jean
Laborde: Des Teufels schwache Seite.
Wir
steigen mit einer seltsamen Szene mitten ins Geschehen ein: Zwei junge Frauen rangeln
in einem Zimmer miteinander, dabei zerbricht eine Ampulle. Im Nebenzimmer
stirbt derweil der Industrielle Paul Dupré, seit längerem bettlägerig aufgrund
einer Herzschwäche. Die eine Frau, seine Krankenschwester, kann nur noch seinen
Tod feststellen, die andere, seine Gattin, ruft einen Arzt, der dies bestätigt.
Wegen der unklaren Todesursache muss er den Vorfall melden, Mme Dupré ruft
sofort ihren Anwalt zuhilfe. Dieser, M. Cassidis, ist der Star der Pariser
Juristenszene, berühmt und bewundert, gefürchtet und geachtet von Freund und
Feind, ein unbestrittener Meister seines Fachs. Als es zu einer Untersuchung
kommt, geführt von dem skeptischen und von seinen Kollegen als Freigeist nicht
unbedingt geschätzten Ermittlungsrichter Gaudet, stellt sich ein Gleichgewicht
an Verdacht ein, der sowohl die Witwe, von der sich Dupré angeblich trennen
wollte, als auch die Krankenschwester trifft, vermeintliche Geliebte des
Kranken. Immer neue Wendungen treten auf: ein Testament zugunsten der Krankenschwester,
das sich jedoch als Fälschung erweist, die Weigerung der Frau, ihre Liebschaft
zuzugeben, was sich als Lüge erweist. Und doch erfahren wir Leser*innen, dass
Mme Dupré die Mörderin ist – sie gesteht es freimütig Cassidis, der ihr
inzwischen sexuell verfallen ist. Der ist weniger schockiert, im Gegenteil
sieht er es als höchste Herausforderung, eine Schuldige vor Gericht
freizubekommen, dass dafür einer Unschuldigne der Tod droht – wir sind im
Frankreich der 1960er Jahre – ist zweitrangig. Cassidis kann alle
Anschuldigungen, Belastungszeugen und Verdachtsmomente so umkehren, dass sie
ein schlechtes Licht auf die Krankenschwester werfen. Gaudet, zur Objektivität
verpflichtet, sucht nach einem Ausweg, um das Verfahren möglichst lange in der
Schwebe zu halten und es ausgeglichener zu gestalten, da er zunehmend von der
Unschuld der Pflegerin überzeugt ist. Doch die objektiven Indizien, die er in
seiner Akte anlegen muss, spielen stets Cassidis in die Hände. Gaudet gibt den
Fall ab, tritt unvermutet selbst als Zeuge im Prozess auf, er will verhindern,
dass der brillante Anwalt eine Unschuldige hinter Gitter bringt. Jean Laborde
(1918-2007), selbst gelernter Jurist, schuf eine Mischung aus Kammerspiel und
Justizkrimi, die eine zutiefst pessimistische Sicht seiner Zunft widerspiegelt,
ohne in das sensationsheischende Zerrbild von Juristen zu verfallen, dass
schlechte Krimis insbesondere im TV so gerne bedienen. Laborde geht mehr in die
Tiefe rechtsphilosophischer Fragen. Der Ausgang des Textes ist dementsprechend
überraschend. Verklagen sollte man allerdings den deutschen Verlag für den
schwachsinnigen, vom Inhalt völlig abgekoppelten Titel. Das Original heißt so
schlicht wie passend: „Les bonnes causes“.
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