Max Frisch:
Homo faber. st 2740
„Homo faber
für die Schule“. Ob jemand analog zu Max Frischs Roman eine eigene Version
für den Unterricht schreiben wird, ist eher unwahrscheinlich als unklar. Die
Voraussetzungen wären schließlich durchaus gegeben, analog zu Schillers Wilhelm
Tell ist Homo faber heute unbestritten ebenso ein Klassiker wie sein Autor.
Trotzdem würde das Vorhaben wohl allein daran scheitern, dass der Roman
tatsächlich bereits zu den beliebtesten Unterrichtslektüren zählt – bei den
Lehrkräften, ob diese Begeisterung von den Schülerinnen und Schülern geteilt
wird, steht wiederum auf einem anderen Blatt. Am Text liegt dies sicher nicht,
die Pubertät ist vermutlich einfach grundsätzlich nur bei den wenigsten eine
gute Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit einem doch ziemlich komplexen
Roman.
Die Beliebtheit
als Unterrichtsstoff mag jedoch daran liegen, dass diese Komplexität sich schon
durch die Andeutungen des Titels auf ein scheinbar einfaches Schema
herunterbrechen lässt – Homo faber, der sich der Technik bedienende
Mensch, selbst in den beiden Worten liegt der Kontrast beziehungsweise Konflikt
zwischen Mensch und Technik bereits offen zu Tage. Diesem doch recht einfachen
Schluss gehen noch immer viele auf den Leim – der Autor selbst legt die Fährte
schließlich allzu offensichtlich. Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge
zu sehen, wie sie sind. Ich sehe alles, wovon sie reden, sehr genau; ich bin ja
nicht blind. Ich sehe den Mond über der Wüste von Tamaulipas – klarer als je,
mag sein, aber eine errechenbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine
Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis? (27) Fabers
Erklärungen sind so plakativ, dass die Unehrlichkeit aus ihnen herausspringt,
die unverlangten Bekenntnisse des Ingenieurs dienen hauptsächlich der
Selbstvergewisserung – und die hat nur nötig, wer sich eben nicht mehr sicher
ist. Das ständig von ihm – er ist ja der Berichtende – vorgetragene Selbstbild
des nüchternen Beobachters, des klaren Denkers, des planenden Systematikers,
auch seine Charakterisierung als Misanthrop und Frauenverächter werden
durchgängig im gesamten Roman als Täuschungen und Lügen entlarvt. Der
Propagandist der Rationalität – ich finde es nicht fantastisch, ich finde es
erklärlich (27), ich bin nun einmal der Typ, der mit beiden Füßen
auf der Erde steht (53) – handelt in einem fort äußerst irrational.
Dafür schickt in
Max Frisch durch allerlei geradezu einem Kolportageroman entlehnte Situationen.
Faber muss auf einem Flug nach Mexico in der Wüste notlanden. Dort beschließt
er, einen Deutschen, den er eben erst im Flugzeug kennengelernt hat, zu
begleiten, der seinen verschollenen Bruder auf einer Tabakfarm im Dschungel
Guatemalas sucht. Die Expedition gelingt mit einigen Schwierigkeiten, doch der
Gesuchte ist tot – erhängt – und zudem ein alter Bekannter Fabers: der Ex-Mann
seiner einstigen großen Liebe Hanna. Zurück in New York, flieht Faber vor
seiner Freundin Ivy, weil er zu schwach ist, die Beziehung zu ihr zu beenden.
Statt eines Fluges bucht er eine Schiffsreise, um schneller zu entkommen. Dort
trifft er auf eine dreißig Jahre jüngere Passagierin, die ihn fasziniert –
erneut wirft er alle seine Pläne um und beginnt mit ihr eine Reise durch
Südeuropa. Durch Andeutungen dämmert ihm, dass dieses Mädchen Elisabeth, die er
Sabeth nennt, die Tochter Hannas ist, was ihn nicht hindert, mit ihr zu schlafen.
Doch Elisabeth wird vor Athen von einer Schlange gebissen, trotz
zwischenzeitlicher Besserung stirbt sie. Dementsprechend prekär ist die
Wiederbegegnung mit der Mutter. Was ungewiss war und Faber ständig durch nur
ihn überzeugende Logik zu verdrängen suchte – genoß ich es, die Rechnung
auch noch schriftlich zu überprüfen. Sie stimmte; ich hatte ja die Daten
(140) – wird nun unleugbar: Elisabeth war auch Fabers Tochter. Er gibt sein
bisheriges Leben auf und will Hanna heiraten – doch vorher muss er sich einer
Operation unterziehen. Mit unvorhersehbarem Ausgang.
Was in der
Raffung wie ein recht bizarres Konstrukt erscheint, ist im Erzählfluss des
Romans alles andere als ein spektakuläres Getriebensein – dank des sich
nüchtern gebenden Berichterstatters Faber, der in klarer Sprache die Abläufe
schildert. Panik beim Beinaheabsturz mit dem Flugzeug? Fehlanzeige. Es war
der Motor links, der die Panne hatte; ein Propeller als starres Kreuz im
wolkenlosen Himmel – das war alles (17). Angst in der Wüste, wo tagelang
nichts zu passieren scheint? Keineswegs. Verzweiflung angesichts des sinnlosen
Herumlungerns in der Gluthitze des mexikanischen Dorfes, der anschließenden
Irrfahrt durch das Dschungeldickicht, dem toten Freund an der Drahtschlinge?
Nicht mit Faber. Charakteristischerweise filmt er die Stationen seines Lebens,
schafft also – ganz die Smartphonegeneration des Jahres 1957 – noch im Erleben
eine Distanz, die ihm letztlich selbst als schal bewusst wird. Nochmals
Joachim am Draht, aber diesmal von der Seite, so daß man besser sieht was los
ist; es ist merkwürdig, es macht nicht nur meinem jungen Techniker, sondern
auch mir überhaupt keinen Eindruck, ein Film, wie man schon manche gesehen hat,
Wochenschau, es fehlt der Gestank, die Wirklichkeit, wir sprechen über
Belichtung (215). Faber, der stets von sich weist, ein Zyniker zu sein,
offenbart selbst hier in der Erkenntnis noch den zugrundeliegenden Zynismus:
der tote Freund wird zum Belichtungsproblem.
Klingt, als hätte die Standardinterpretation, Fabers rational
eingerichtetes Leben breche durch die Wucht der Ereignisse plötzlich zusammen,
die Verknüpfung der Zufälle, die er stets leugnet – es war eine ganze Kette
von Zufällen. Aber Fügung? (24) – bringe sein Weltbild ins wanken, einiges
für sich. Das ist nicht gänzlich verkehrt, nur stellt sich von Beginn an die
Frage, ob dieses vermeintlich feste Gefüge an Rationalität jemals wirklich
Bestand hatte und nicht von vorneherein eine große Illusion Fabers war. Der
Techniker vertraut auf die Technik? Fehlanzeige. Im letzten Augenblick
verlor ich die Nerven, so daß die Notlandung [...] nichts als ein blinder
Schlag war, Sturz vornüber in die Bewusstlosigkeit (23). Der Planer plant
vorausschauend und verlässlich? Nichts weniger als das. Warum ich es tat,
weiß ich nicht (39) – ein ständig wiederkehrender Satz, typisch für Faber,
typisch, dass er dies nie zugeben würde. Alles Ungewohnte macht mich sowieso
nervös (86), weshalb er abrupte Entscheidungen fällt, die er sich selbst
nicht erklären kann: spontane Reisebeschlüsse, unmotivierte Heiratsanträge,
Bekenntnisse gegenüber Fremden, Weibisches, wie er so etwas selbst nennt,
plötzliche Sentimentalitäten, Selbstmordgedanken. Homo Faber, den
kalkulierenden Ingenieursmenschen? Diesen gibt es schon vorher nicht. Die Distanzierungen
gegenüber den Mitmenschen gelingen nicht, die Natur, die der Technik
unterworfen werden soll, schlägt ständig – und grausam – zurück, der Zufall,
der dem Planer ein Gräuel sein muss, beherrscht die Abläufe. Das Leben verläuft
nicht auf gelegten Gleisen – ein sturer Büffel reicht schon aus, das
Vorankommen zu stoppen (vgl. 40f) – und ein Satz wie Ich kann nicht die
ganze Zeit Gefühle haben (105) ist schon biologisch unwahr. Faber ist eben
doch nur ein Mensch, ein unersetzlicher Mensch.
Vorgänger (Teil 16): Oscar Wilde - Das Bildnis des Dorian Gray.
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