Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman.
Er entstand ungefähr um 1150, war ein Meilenstein der deutschprachigen Literaturgeschichte und ein Flop. Dabei hatte der Autor, der sich als "Pfaffe Lambrecht" zu Beginn des Textes selbst vorstellt - mehr ist über ihn nicht bekannt, vermutlich stammte er aus dem Süden irgendwo zwischen Trier und Regensburg -, ein Geistlicher, wobei Pfaffe noch nicht abwertend gemeint ist, eigentlich eine guten, weil sehr beliebten Stoff gewählt: Das Leben Alexanders des Großen. Der galt schon in der Antike als Bestsellerstoff, hatte die Geschichte doch einiges zu bieten: eine schwierige Jugend, verwirrende Familienverhältnisse, ein geheimnisumwitterter Tod des Vaters, der Alexander in sehr jungen Jahren auf den Thron bringt, schließlich der Zug gegen Persien, der ihn erst den Erzfeind Darios besiegen, ein Riesenreich erobern und dann an die Grenzen der damals bekannten Welt stoßen lässt. Bis seine Truppen meutern, ihn zum Rückzug zwingen und er schließlich noch immer jung, aber unspektakulär an einer Krankheit verstirbt, woraufhin prompt sein Weltreich zerfällt. Das gibt viel her, Liebesgeschichten und große Schlachten, Helden und Bösewichte inklusive und auf all das greift der Pfaffe Lambrecht natürlich zurück. Dazu nutzte er weitere Quellen, die den Alexandermythos noch um einige nicht ganz so historische Episoden ausschmückten, etwa seine Begegnung mit den Amazonen oder Kämpfe gegen Drachen. Hinzukommt, dass Alexander auch in der Bibel erwähnt wird und dort keine sehr wohlwollende Beurteilung erfährt. Deshalb ist Lambrechts Alexanderroman auch keineswegs - anders als viele antike Vorgänger - ein Werk voller Bewunderung, sondern charakterisiert seinen Protagonisten sehr ambivalent, oft als vom Zorn geleitet oder unmäßig in seiner Gewalt. Ein Meilenstein war das Buch, da hier erstmals ein rein weltlicher Stoff, wenn auch mit christlicher Interpretation, präsentiert wurde. Noch kein höfisches Heldenepos und sprachlich hin und wieder holprig, fand der Roman bei späteren mittelalterlichen Autoren wenig Gnade, nur mit Glück kam er durch wenige Überlieferungen auf uns. Heute sieht man dies anders und das Pionierwerk des Pfaffen Lambrecht wird hoch geschätzt.
Carlos
Ruiz Zafón: Marina.
Es
war ein nachgereichter Erfolg, ermöglicht durch den Bestseller „Der Schatten
des Windes“, der nun dem früheren Roman Carlos Ruiz Zafóns (geboren 1964),
seinem ersten Buch für ein nicht (nur) jugendliches Publikum, die verspätete
Aufmerksamkeit im deutschsprachigen Raum verschaffte. „Marina“, nun als erster
der großen Barcelona-Romane des Meisters deklariert, besaß bereits alle
Merkmale von Zafóns wirksamem Rezept: neben dem Schauplatz Barcelona die
üblichen halbverfallenen schauerlichen Villen, ein junges Pärchen als
Hauptakteure, ein zu verfolgendes, in bizarren Biographien verstecktes
Geheimnis, Friedhöfe, Abwasserkanäle, schöne Künstlerinnen, melancholische
Künstler, überhaupt das ganze Inventar aus den Schauerromanen, diesmal
prominent besetzt mit einem weiteren Klassiker, dem wahnsinnigen
Wissenschaftler. Es ist wie immer ein Phänomen und man erstaunt beim Lesen
gewissermaßen über sich selbst, wie selbstverständlich man all diese doch
längst abgestumpften Klischees aus dem frühen 19. Jahrhundert nicht nur
immer wieder hinnimmt, sondern sie sogar einmal mehr mit viel Genuss liest. Das
liegt wohl daran, dass Zafón das altbekannt Vertraute einfach virtuos neu
kombiniert und er unzweifelhaft ein sehr begnadeter Erzähler ist, dem man vieles
verzeiht, von den oft sentenzhaften Sätzen bis hin zu der schematischen
Figurengestaltung, die, wie schon einmal erwähnt, selten changiert, sondern sehr
gute Gute und sehr böse Böse hervorbringt. Wer nicht mehr als einen
Schauerroman erwartet, der aber wird bestens unterhalten.
Herta
Müller: Der König verneigt sich und tötet.
Die
Leser*innenzahlen eines Zafón würde man Herta Müller (geboren 1953) wünschen
und gönnen. Immerhin dürfte sich ihr Publikum mit der Verleihung des
Literaturnobelpreises 2009 erhöht haben, auf Dauer hat sich ihr landläufiger
Bekanntheitsgrad aber leider trotzdem nicht im allgemeinen Bewusstsein
festgesetzt. Eine verdiente Preisträgerin ist sie zweifellos, inhaltlich wie
sprachlich, sofern man dies trennen möchte. Für beides ist der Band „Der König
verneigt sich und tötet“ ein gutes Beispiel, eine Essaysammlung, die über
Sprache und Macht reflektiert, jedoch nicht in dem eher üblichen Sinne der
subtilen Abwehr im dissidentischen Schreiben, sondern der persönlichen
Bedeutung von Wörtern einerseits in einem totalitären Umfeld und andererseits
in der Erinnerung an eben jene Wirkung, die Worte in so einer Umgebung
annehmen, obwohl diese gar nicht mehr existiert. Für Herta Müller, aufgewachsen
in einem deutschsprachigen Dorf während der Diktatur Ceausescus, als Angehörige
einer Minderheit und Schriftstellerin doppelt bedrängt, verkehren sich Wörter
und Redewendungen in ihr Gegenteil oder nehmen, für viele harmlos dahingesagt,
eine drohende Wirkung an. Die westeuropäische Sehnsucht nach einer einsamen
Insel beispielsweise, die für Müller gleichbedeutend ist mit einem Wunsch nach
einem Gefängnisaufenthalt. Das Aufwachsen mit zwei Sprachen ermöglicht aber
auch befreiende Betrachtungen, den Vergleich der Wörter, im Deutschen oft
erstaunlich nüchtern, im Rumänischen bildhafter, poetischer. Auch wenn Herta
Müller oft von Verhören, Bespitzelung und dem Tod von Freunden berichtet, ist
die Schilderung von Gewalt in ihren Texten subtiler, zeigt den Versuch der
Zerstörung von Willen auf eine tiefere, bedrängendere Weise als durch reine
physische Angriffe, eine Mechanik, die darauf abzielt, den Wesenskern der
„Gegner*innen“ zu zermürben und zu vernichten. Hier wird Sprache zum
Rettungsanker.
Ryonosuke
Akutagawa: Rashomon.
Apropos
hohe Literaturpreise. Eine der angesehensten Trophäen in diesem Bereich ist der
japanische Akutagawa-Preis, benannt nach dem Autor des Erzählbandes, der
dankenswerterweise vor einiger Zeit vom Luchterhand-Verlag veröffentlicht
wurde. Ryonosuke Akutagawa (1892-1917) gehörte zur zweiten Generation
japanischer Schriftsteller*innen, die von der europäischen Literatur
beeinflusst waren. Anders als die Vorgänger*innen waren sie nicht bloßen
Kopist*innen des westlichen Stils, sondern versuchten, die fremden mit den
eigenen Traditionen zu vereinen. In der Novellenform und mit seinen
Kurzgeschichten wurde Akutagawa zum vorbildlichen Meister. Vom Westen wiederum
lange unbeachtet, wurde er erst postum durch Kurosawas Film – der lose zwei
Motive aus Erzählungen des Dichters verknüpft – dort neu entdeckt. Und
Akutagawas Geschichten sind gerade wegen seiner Verschmelzung europäischer und
japanischer Einflüsse ein hervorragender Einstieg in die fernöstliche Literatur
überhaupt. Auch, weil sie oft spannende, kontroverse Themen aufgreifen, etwa
über den Mann, der seine bei einem Erdbeben verschüttete Frau nicht retten kann,
die unter einem schweren Balken eingeklemmt ist und sie schließlich tötet, als
ein durch das Beben ausgelöster Brand das Haus erreicht. Hat er richtig
gehandelt? Oder der schwer verschuldete Mann, der von einem berühmten Dieb, dem
er zufällig vor Jahrzehnten, da dieser noch als Bettler herumstreifte, einmal
half, Geld annimmt, um seine Familie zu retten? Wiederkehrend ist neben der
Frage nach Schuld auch das Motiv des Wahnsinns, etwa des genialen Malers, der
skrupellos seine Modelle misshandelt, um ein lebensechtes Bild der Hölle zu
schaffen. Schließlich bittet er den Auftrag gebenden Fürsten, er möge eine
Kutsche mit Insassen verbrennen, damit er, der Maler, dies als Motiv in sein
Gemälde aufnehmen könne. Der Fürst folgt dem Wunsch – und setzt in die Kutsche
die Tochter des Malers. Das Bild wird fertig. Akutagawas Interesse ist das
menschliche Handeln, die Psychologie unter dramatischen Umständen, die bizarr
sein können, aber auch alltäglich – und er urteilt nicht. Er ist ein würdiger
Namensgeber eines der höchsten Literaturpreise.
Siri
Hustvedt: Die unsichtbare Frau.
Genaugenommen
ist der Titel von Siri Hustvedts (geboren 1955) einstigem Romandebut
Etikettenschwindel, richtiger müsste er heißen: „Die unsichtbaren Frauen“. Denn
das übergreifende Motiv der unsichtbaren Frau zieht sich durch alle der fünf
lose zusammenhängenden Kapitel, die nicht nur deshalb fast wie ein
Novellenzyklus wirken. Iris Vegan ist die verbindende Hauptfigur, die selbst
immer, mal freiwillig mal unfreiwillig, mit ihrer verschwindenden
Persönlichkeit zu tun bekommt: sei es als spontane Schutzmaßnahme, ihren
richtigen Namen zu verschweigen, sei es als anfängliche Spielerei, sich als Mann zu
verkleiden und auszugeben, die zur gefährlichen Obsession wird, als sie
beginnt, Aspekte einer literarischen Figur zu übernehmen und Fiktion und
Realität zu vermischen, oder sei es infolge einer geheimnisvollen Krankheit,
einer Art Migräne, die jedoch dazu führt, dass Iris Teile ihres Bewusstseins
verliert. Und dann sind da eben noch all die Frauen, die auf verschiedene Weise
in ihr Leben treten und wieder daraus verschwinden: die ermordete Mieterin,
über die sie eine obskure Dokumentation anlegen soll, die Mitpatientin im
Krankenhaus, die, offenbar geistig verwirrt, ohne Erklärung eines Morgens nicht
mehr im Zimmer auftaucht. Und dann gibt es ja noch diese Aufnahme eines
befreundeten Künstlers, ein Photo, auf dem Iris als Person gar nicht zu
erkennen ist, ihrer Meinung nach, dass aber bald in Umlauf gerät, woraufhin
jeder und jede sie anspricht. Kunstvoll arrangiert Hustvedt ihr Hauptthema in
den Kapiteln, die keineswegs, wie sich beim Lesen herausstellt, chronologisch
angeordnet sind, wobei sie die beklemmende Atmosphäre eines – möglicherweise –
schleichenden Wahnsinns ihrer Protagonistin hervorragend einfängt.
Dashiell
Hammett: Der dünne Mann.
Es
ist einiges anders in „Der dünne Mann“: Dashiell Hammetts (1894-1961) Nick
Charles ist verheiratet, im Ruhestand und in New York. Es ist alles beim alten
in „Der dünne Mann“: Nick Charles trinkt viel und ständig, gerät in
Mordermittlungen und Gefahr und löst am Ende einen Fall. Und irgendwo
dazwischen liegt die Tatsache, dass er diesmal sogar mit einer ausnahmsweise
nicht korrupten, teilweise sogar durchaus fähigen Polizei zusammenarbeitet oder
doch nur so weit, wie es ihm weiterhilft. Wie er überhaupt die ganze
Angelegenheit, den Mord an der Gehilfin eines entfernten Bekannten, nur so
nebenher erledigt, sich dabei mehrfach darauf berufend, aus dem Geschäft der
Schnüffelei ausgestiegen zu sein. Aber niemals geht man so ganz – und da Nora,
seine Frau, ihn keineswegs hindert, sondern selbst ihre Beiträge zur Aufklärung
leistet, gehörig von Neugier getrieben, überführt Nick Charles den Mörder halt,
wenn’s denn unbedingt sein muss, naturgemäß mit überraschender Pointe. Trotzdem gehört
„Der dünne Mann“ zu den schwächeren Teilen der Reihe, Nicks unzählige Hinweise
auf seine Trinkfreude, die nicht ganz so spritzigen Dialoge – in einem Buch,
das hauptsächlich aus Dialogen besteht –, die im Großen und Ganzen nicht
sonderlich fesselnde Geschichte der verkorksten Familie mit ihrem verwirrenden
Hin und Her entfalten nicht den Charme anderer Hammett-Romane. Teils fast schon
selbstparodistisch, wirken Detektiv und Autor fast etwas müde, eben im
buchstäblichen Ruhestand.
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