Sonntag, 16. Februar 2020

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (16): Oscar Wilde - Das Bildnis des Dorian Gray.


Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray. st 2732

Erschienen ist Oscar Wildes (1854-1900) aus einer Erzählung hervorgegangener einziger Roman Das Bildnis des Dorian Gray im Jahr 1890. Er ist folglich streng genommen kein „Roman des Jahrhunderts“, jedenfalls nicht des Zwanzigsten. Nimmt man jedoch nicht das Datum seiner Publikation, sondern seiner Wirkung, ist dieses Attribut mehr als gerechtfertigt. Nicht unbedingt, weil der Text einen maßgeblichen Einfluss auf das literarische Wirken der Jahre danach gezeitigt hätte – dafür war er zu typisch für sein Zeitalter des Fin de Siècle, von dem sich die folgende Generation in ihren Mitteln und Inhalten erst einmal scharf abgrenzte –, sondern weil er, was schließlich nicht jedem ambitionierten Roman gegeben ist, zu einem großen Publikumserfolg und letztlich einem der meistgelesenen englischsprachigen Bücher überhaupt wurde. Je nach Leserschaft wohl auch aufgrund der Biographie seines Autors – oder in manchen Kreisen, gerade den in Wildes Texten oft charakterisierten und karikierten, trotz eben dieses öffentlichen Lebens.
Wilde selbst ließ einmal die Bemerkung fallen, er habe sich in allen drei Hauptpersonen verewigt, dem Maler Basil Hallward, dessen aristokratischem Freund Lord Henry Wotton und dem jungen Dandy-Lehrling Dorian Gray, auch er Spross eines altehrwürdigen Adelsgeschlechtes. Den Leserinnen und Lesern werden jedoch vor Beginn einige Warnungen als Rezeptionsanweisungen vorgegeben, die sowohl textextern als auch textimmanent verstanden werden können – und sollen: Die Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verstecken ist die Aufgabe der Kunst (7), was sich auf den Schriftsteller ebenso bezieht wie auf den Maler. Alle Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol. Wer unter die Oberfläche geht, tut es auf eigene Gefahr (8). Noch heute ist Wilde für solch Aphorismen berühmt und für Kalendersprüche und Internetzitate verwendbar, insbesondere aufgrund der oft – scheinbar – paradoxen Aussagen. Ein Meister dieser geistreichen, zumeist widersprüchlich in Chiasmen angeordneten Repliken ist Lord Wotton, Um eines Epigramms willen opferst du jeden Menschen, Harry (263), eine Bemerkung, die den blasierten Zyniker bestens umschreibt, dem die Lust an Gesuchtheit, Wohlklang und Formulierung seiner Aussagen, die stets eine ungefährdete Provokation darstellen, wichtiger ist als der letztlich folgenlose Inhalt. Schönheit in der Sprache dient ihm lediglich wie in allen seinen Tätigkeiten nur zur Vermeidung des aus seiner Sicht größten Übels: der Langeweile.
Dorian Gray, der anfangs noch so unbedarfte Jüngling, der dem Maler Basil Hallward als Inspiration Modell sitzt, durchschaut diese gefährliche Oberfläche nicht, im Gegenteil. Anders der Maler, der sogleich ahnt, welchen fatalen Einfluss der wortgewandte Lord auf den aufnahmebereiten Jungen haben muss, doch die Begegnung nicht unterbinden kann. Gleich zu Beginn impft Wotton Dorian Gray den Abscheu vor dem Alter ein, wenn alte Leute überhaupt zu einer Gemütsbewegung fähig sind  (10), vor allem die Furcht vor dem Verlust der Schönheit, weil Sie die entzückendste Jugend haben, und es gibt ein Ding, das sich zu haben lohnt: Jugend (34), doch was die Götter geben, nehmen sie schnell wieder. Sie haben nur ein paar Jahre, in denen Sie wahrhaft, vollkommen, völlig leben können. Wenn ihre Jugend dahingeht, verlässt Sie auch ihre Schönheit (35), eine Ungerechtigkeit, wie der Lord konstatiert, Die gemeinen Wiesenblumen welken, aber sie blühen wieder (36), wir bekommen nie wieder unsere Jugend (36). Dorian verinnerlicht diese Sicht, mit der ihm Wotton zu gleich Angst macht und ihm schmeichelt: Ein neuer Hedonismus – das ist es, was unser Jahrhundert braucht. Sie könnten sein sichtbares Symbol sein (35) und sie wird ihm am deutlichsten durch das meisterhafte Portrait, das Hallward von ihm angefertigt hat. Nur im allerersten Augenblick herrscht Begeisterung, Der Eindruck seiner eigenen Schönheit kam wie eine Offenbarung über ihn. Er hatte ihn nie zuvor gehabt (38), schnell jedoch begreift er, dass nach dem ihm soeben Gesagten dieses Bild ein ständiges Menetekel sein wird. Ich werde alt und grässlich und widerwärtig werden, aber dieses Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie älter als dieser Junitag heute (39), worauf er eine Art Fluch und Bitte zugleich ausspricht: Wenn es nur umgekehrt wäre! Wenn ich immer jung bleiben könnte und dafür das Bild immer älter würde! Dafür – dafür – dafür gäbe ich alles! Ja, es gibt nichts in der ganzen Welt, was ich nicht dafür gäbe! Ich gäbe meine Seele dafür! (39).
Dorian Gray schließt einen klassischen Teufelspakt – nur ohne Teufel. Es ist nicht klar, an wen sich seine Bitte richtet, Religion ist nur eine der vielen inhaltsleeren sinnlich-ästhetischen Erfahrungen, und weder der Maler noch Lord Wotton, der schließlich am ehesten dem Verführer gleichkommt, verfügen im eigentlichen Sinn über transzendente Fähigkeiten. Im Gegenteil, Hallwards von Gray geradezu tranceartig inspirierte Schöpferkraft ist mit der Anfertigung dieses Meisterwerkes am Ende, wodurch er zudem seinen Einfluss auf sein Modell verliert. Diesen übernimmt vorerst Wotton, der Dorian Gray in die seichte Welt der amüsanten Vergnügen, des spitzfindigen Gesprächs mit Esprit und des ausgefeilten Geschmacks einweiht, gemäß seinem erwähnten Ziel, ihn zum Bannerträger des Hedonismus zu formen. Selbst dieser Zyniker ahnt, dass er hier mit einem Schicksal spielt, aber ihm ist das Spiel immer noch wichtiger als das Leben: Der Himmel über ihm war wie eine verwelkte Rose. Es gemahnte ihn an das ganze feuerfarbene Leben seines Freundes, und die Frage kam ihm: Wie würde das enden? (81)
Dorian kommt nicht über den Einfluss von Oberflächen hinaus, wie ihn ja das Portrait versinnbildlicht. Als er sich Hals über Kopf in eine junge Schauspielerin verliebt, kann er nicht zwischen ihren Rollen und ihren echten Gefühlen unterscheiden. Die Äußerungen des Lebens interessieren ihn nicht, nur ihre ästhetische Form – brüsk bricht er mit ihr, die daraufhin Selbstmord begeht. Durch die Ansichten Lord Wottons bestärkt, sieht Dorian Gray darin lediglich eine recht unschöne Störung seines über den Alltäglichkeiten erhabenen verfeinerten Empfindens. Dorian bleibt schön und äußerlich jung. So hat es den Anschein. Die Veränderung geht in dem Portrait vor, es barg das Geheimnis seines Lebens und erzählte seine Geschichte. Es hatte ihn gelehrt, seine eigene Schönheit zu lieben. Sollte es ihn lehren, sich vor der eigenen Seele zu ekeln? (122), das Bild, ob verändert oder unverändert, sollte ihm das sichtbare Wahrzeichen des Gewissens sein (123). Dorian hat nicht seine Jugend und Schönheit eingetauscht, sondern, was gerne vergessen wird, seine Seele, die nun im Bild enthalten ist – dieses zeigt ihn nicht altern, sondern grausamer werden. Ein Künstler sollte schöne Dinge schaffen, sollte aber nichts von seinem eigenen Leben hineintun (21f) hatte Basil Hallward noch verkündet, doch Dorian Gray hat einen Teil seines Lebens in das Bild ausgelagert – seine Menschlichkeit. Skrupel- und gefühllos kann er den Freitod der Schauspielerin ebenso hinnehmen wie er den Mord an dem Maler begeht, dessen Spuren durch Erpressung beseitigen lässt und ihm der Unfall seines Verfolgers James Vane als Glücksfall erscheint. Ist sein Leben als blasierter Dandy à la des Esseintes zwar frei von Gewissensängsten, doch auch seelenlos; der Versuch, diese innere Leere durch das genaue Gegenteil, dem Besuch im schmuddeligen Rotlichtviertel, lebendiger als all die graziösen Formen der Kunst, die Traumschatten der Poesie (240), zu bekämpfen, schlägt fehl. Dorian glaubt, sich nur noch durch die Zerstörung des Bildes – mit eben jenem Messer, mit dem er seinen Freund Hallward ermordet hat – retten zu können. Es sollte dieses ungeheuerliche Leben der Seele töten, und wenn diese grässlichen Zeichen der Drohung nicht mehr wären, hätte er Frieden (285). Ganz unrecht hat er damit nicht, wie das anschließend wiederhergestellte Portrait belegt, doch wer das Leben der Seele tötete, wer seine eigene Menschlichkeit unwiederbringlich beseitigt, begeht Selbstmord.  

Vorgänger (Teil 15): Robert Walser - Geschwister Tanner.
                                                                                    

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