Donnerstag, 17. März 2016

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (1) - James Joyce: Ulysses.


James Joyce: Ulysses. st 2551

Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen (7). Mit diesem recht unspektakulären ersten Satz aus James Joyces (1882-1941) Ulysses begann der Suhrkamp-Verlag 1996 seine Reihe der Romane des Jahrhunderts, der wohl ästhetisch schönsten Taschenbuchedition um die Jahrtausendwende. Die Wahl gerade dieses Werkes als Auftakt kann kaum überraschen, es dürfte allenfalls noch ein einziges Buch geben, das Ulysses den Titel als bedeutendsten Roman des 20. Jahrhunderts streitig machen könnte, Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Nun könnte allenfalls noch eingewandt werden, ob es allzu klug sei, sein Pulver gewissermaßen gleich zu Beginn zu verschießen, doch ging es dem Verlag nicht um eine Rangordnung oder gar einen Wettbewerb, sondern vielmehr um ein weltweites Panoptikum der Romanliteratur des vergangenen Jahrhunderts.

            Und da steht Ulysses zweifelsohne an vorderster Stelle, wofür sich zahlreiche Gründe finden ließen, von denen nur einer hier ausführlicher genannt werden soll: obwohl bereits 1922, also noch im ersten Viertel des Jahrhunderts erschienen, ist Joyces Meisterwerk das Buch, das die Strömungen der vorhergehenden Jahrzehnten aufnimmt, durch das sie als Nadelöhr oder an ihm vorbei als Torwächter hindurch müssen und aus dem danach zahlreiche neue Strömungen hervorgehen werden. Als Romanschreiber muss man sich vom Ulysses erst wieder erholen, sonst findet man keine eigene Stimme, so charakterisiert Salman Rushdie den Einfluss diesen einen Buches. Dass Joyce zahlreiche Stile seiner Vorgänger aufnimmt, zumeist in parodistischer Form, er die ganze Literaturgeschichte in Pastiches durchwandert, ist bekannt – dass er zahlreiche Nachfolger geprägt hat und damit selbst Literaturgeschichte geschrieben, ist offensichtlich. Da er einen gelinden anhaltenden Schmerz in seinen Fußsohlen verspürte, streckte er den Fuß nach einer Seite aus und betrachtete die durch Fußdruck im Lauf seiner wiederholten Gänge in mehreren verschiedenen Richtungen entstandenen Falten, Protuberanzen und vorspringenden Punkte, entknotete dann, vorgebeugt, die Senkelknoten, enthakte und löste die Senkel, zog jeden seiner beiden Stiefel zum zweitenmal aus, löste die zum Teil durchfeuchtete rechte Socke, durch deren Spitze wieder der Nagel der großen Zehe gedrungen war, hob den rechten Fuß und zog, nachdem er einen purpurnen elastischen Sockenhalter davon abgehakt hatte, seine rechte Socke aus, stellte den unbekleideten rechten Fuß auf die Kante der Sitzfläche seines Stuhls, fasste den vorstehenden Teil des großen Zehennagels und riß ihn sanft ab, hob den abgerissenen Teil an seine Nüstern und inhalierte den Duft des Lebendigen, warf dann das abgerissene Nagelfragment mit Befriedigung fort (878) – akribisch-präzise Beschreibung à la nouveau roman vierzig Jahre vor Alain Robbe-Grillet und Nathalie Sarraute. Nur ein Beispiel von vielen möglichen.

            Dabei ist der Plot der Handlung fast schon mehr als banal: geschildert wird der Tag vom Aufstehen bis zum Zubettgehen des Dubliner Annoncenwerbers Leopold Bloom. Jener 16. Juni 1904 (310) ist heute der legendäre „Bloomsday“, doch spielt sich an ihm wenig Ereignisreiches ab, Bloom verbringt viel Zeit mit Freunden und Kollegen, auf der Arbeit, aber vor allem auch in Kneipen und anrüchigen Gegenden. Gewiss, er nimmt an einer Beerdigung teil und indirekt an einer Geburt, doch beide Male sind hiervon nur Randfiguren seines persönlichen Umfeldes betroffen – es sind also, obwohl hier die großen Themen Tod und Geburt angeschnitten werden, keine einschneidenden und etwa mit großen emotionalen Umbrüchen verbundene Wendepunkte im Leben des Leopold Bloom. Anders steht es – vielleicht – um die Begegnung mit dem Mitprotagonisten Stephen Dedalus, einer der Figuren, deren Weg er kreuzt, oder auch im Verhältnis zu seiner Frau Molly, deren legendärer Schlussmonolog in Gedanken den 16.Juni 1904 für ihren Gatten dann eventuell doch noch zu einem Wendepunkt werden lassen könnte.

            Alltag also. Aber, wie Hermann Broch, auf den Joyce früh eine enorme Wirkung hatte,  sagte: ein Welt-Alltag. Damit ist nicht gemeint, dass Joyce in seinem Roman quasi das Weltgeschehen an diesem Juni 1904 auf eine umfassende Art, quasi in nuce, geschildert hat, oder wie später ein Georges Perec eine möglichst vollständig-akribische Schilderung genau dieses einen Tages versucht hat, sondern dass sich den Lesern der Alltag, der so banal erscheint, durch das Können Joyces wie eine neue Welt erschließt. Die Sprache soll nicht dazu dienen, einen Gegenstand zu fixieren, sie soll ihn vielmehr für die Vorstellung entwerfen. Das aber bedeutet, dass der Gegenstand nicht aus einem einzigen Blickwinkel gesehen wird, sondern aus möglichst vielen. Durch die Vermehrung der Perspektiven werden zwar die Umrisse des Gegenstandes unschärfer, dafür beginnt er jedoch zu wachsen, analysiert Wolfgang Iser das Vorgehen des Schriftstellers Joyce. Die stilistische Vielfalt ist hierbei eine Herausforderung für jedweden Leser, aber auch den Übersetzer – derer sich Hans Wollschläger auf kongeniale angenommen hat, wobei er selbst zugibt, dass es ein endgültiges Resultat nicht geben kann und selbst die vorliegende Ausgabe ein Werk im Flusse ist und keineswegs abgeschlossen.
            Dazu passt den wiederum die Bemerkung eines Zeitgenossen Joyces, dessen großes Werk im gleichen Jahr erschienen ist, weshalb 1922 gerne als annus mirabilis (mindestens) der englischsprachigen Literatur bezeichnet wird: T.S. Eliot, Autor des Gedichtes The Waste Land, der schließlich Ulysses mit einem weiteren bedeutenden Ereignis der Zeit in Verbindung setzte: nachfolgende Schriftsteller werden die durch Joyce gewonnenen Erkenntnisse und Möglichkeiten so nutzen können wie the scientist who uses the discoveries of an Einstein. Damit schließt sich auch der Kreis zu der oben bereits angeführten Beobachtung Salman Rushdies, so wie ein begabter Physiker die Relativitätstheorie Einsteins kennen sollte, aber anschließend nicht einfach nur diese reproduzieren, so muss sich jeder Romanautor mit dem Werk Joyces auseinandersetzen und darüber hinausgehen – und von beidem hat nie jemand behauptet, dass dies einfach sei. Und nebenbei hat Joyce mit dem Ulysses seiner irischen Heimat einen im Roman geäußerten Wunsch gleich miterfüllt: unser National-Epos muß erst noch geschrieben werden (263).

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