James Joyce: Ulysses. st 2551
Stattlich und
feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen,
auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen (7). Mit diesem
recht unspektakulären ersten Satz aus James Joyces (1882-1941) Ulysses
begann der Suhrkamp-Verlag 1996 seine Reihe der Romane des Jahrhunderts, der
wohl ästhetisch schönsten Taschenbuchedition um die Jahrtausendwende. Die Wahl
gerade dieses Werkes als Auftakt kann kaum überraschen, es dürfte allenfalls
noch ein einziges Buch geben, das Ulysses den Titel als bedeutendsten Roman des
20. Jahrhunderts streitig machen könnte, Marcel Prousts Auf der Suche nach
der verlorenen Zeit. Nun könnte allenfalls noch eingewandt werden, ob es
allzu klug sei, sein Pulver gewissermaßen gleich zu Beginn zu verschießen, doch
ging es dem Verlag nicht um eine Rangordnung oder gar einen Wettbewerb, sondern
vielmehr um ein weltweites Panoptikum der Romanliteratur des vergangenen
Jahrhunderts.
Und da steht Ulysses zweifelsohne
an vorderster Stelle, wofür sich zahlreiche Gründe finden ließen, von denen nur
einer hier ausführlicher genannt werden soll: obwohl bereits 1922, also noch im
ersten Viertel des Jahrhunderts erschienen, ist Joyces Meisterwerk das Buch,
das die Strömungen der vorhergehenden Jahrzehnten aufnimmt, durch das sie als
Nadelöhr oder an ihm vorbei als Torwächter hindurch müssen und aus dem danach
zahlreiche neue Strömungen hervorgehen werden. Als Romanschreiber muss man
sich vom Ulysses erst wieder erholen, sonst findet man keine eigene Stimme,
so charakterisiert Salman Rushdie den Einfluss diesen einen Buches. Dass Joyce
zahlreiche Stile seiner Vorgänger aufnimmt, zumeist in parodistischer Form, er
die ganze Literaturgeschichte in Pastiches durchwandert, ist bekannt – dass er
zahlreiche Nachfolger geprägt hat und damit selbst Literaturgeschichte
geschrieben, ist offensichtlich. Da er einen gelinden anhaltenden Schmerz in
seinen Fußsohlen verspürte, streckte er den Fuß nach einer Seite aus und
betrachtete die durch Fußdruck im Lauf seiner wiederholten Gänge in mehreren
verschiedenen Richtungen entstandenen Falten, Protuberanzen und vorspringenden
Punkte, entknotete dann, vorgebeugt, die Senkelknoten, enthakte und löste die
Senkel, zog jeden seiner beiden Stiefel zum zweitenmal aus, löste die zum Teil
durchfeuchtete rechte Socke, durch deren Spitze wieder der Nagel der großen
Zehe gedrungen war, hob den rechten Fuß und zog, nachdem er einen purpurnen
elastischen Sockenhalter davon abgehakt hatte, seine rechte Socke aus, stellte
den unbekleideten rechten Fuß auf die Kante der Sitzfläche seines Stuhls,
fasste den vorstehenden Teil des großen Zehennagels und riß ihn sanft ab, hob
den abgerissenen Teil an seine Nüstern und inhalierte den Duft des Lebendigen,
warf dann das abgerissene Nagelfragment mit Befriedigung fort (878) –
akribisch-präzise Beschreibung à la nouveau roman vierzig Jahre vor
Alain Robbe-Grillet und Nathalie Sarraute. Nur ein Beispiel von vielen
möglichen.
Dabei ist der Plot der Handlung fast
schon mehr als banal: geschildert wird der Tag vom Aufstehen bis zum
Zubettgehen des Dubliner Annoncenwerbers Leopold Bloom. Jener 16. Juni 1904
(310) ist heute der legendäre „Bloomsday“, doch spielt sich an ihm wenig
Ereignisreiches ab, Bloom verbringt viel Zeit mit Freunden und Kollegen, auf
der Arbeit, aber vor allem auch in Kneipen und anrüchigen Gegenden. Gewiss, er
nimmt an einer Beerdigung teil und indirekt an einer Geburt, doch beide Male
sind hiervon nur Randfiguren seines persönlichen Umfeldes betroffen – es sind
also, obwohl hier die großen Themen Tod und Geburt angeschnitten werden, keine
einschneidenden und etwa mit großen emotionalen Umbrüchen verbundene
Wendepunkte im Leben des Leopold Bloom. Anders steht es – vielleicht – um die
Begegnung mit dem Mitprotagonisten Stephen Dedalus, einer der Figuren, deren
Weg er kreuzt, oder auch im Verhältnis zu seiner Frau Molly, deren legendärer
Schlussmonolog in Gedanken den 16.Juni 1904 für ihren Gatten dann eventuell
doch noch zu einem Wendepunkt werden lassen könnte.
Alltag also. Aber, wie Hermann
Broch, auf den Joyce früh eine enorme Wirkung hatte, sagte: ein Welt-Alltag. Damit ist
nicht gemeint, dass Joyce in seinem Roman quasi das Weltgeschehen an diesem
Juni 1904 auf eine umfassende Art, quasi in nuce, geschildert hat, oder wie
später ein Georges Perec eine möglichst vollständig-akribische Schilderung
genau dieses einen Tages versucht hat, sondern dass sich den Lesern der Alltag,
der so banal erscheint, durch das Können Joyces wie eine neue Welt erschließt. Die
Sprache soll nicht dazu dienen, einen Gegenstand zu fixieren, sie soll ihn
vielmehr für die Vorstellung entwerfen. Das aber bedeutet, dass der Gegenstand
nicht aus einem einzigen Blickwinkel gesehen wird, sondern aus möglichst
vielen. Durch die Vermehrung der Perspektiven werden zwar die Umrisse des
Gegenstandes unschärfer, dafür beginnt er jedoch zu wachsen, analysiert
Wolfgang Iser das Vorgehen des Schriftstellers Joyce. Die stilistische Vielfalt
ist hierbei eine Herausforderung für jedweden Leser, aber auch den Übersetzer –
derer sich Hans Wollschläger auf kongeniale angenommen hat, wobei er selbst
zugibt, dass es ein endgültiges Resultat nicht geben kann und selbst die
vorliegende Ausgabe ein Werk im Flusse ist und keineswegs abgeschlossen.
Dazu passt den wiederum
die Bemerkung eines Zeitgenossen Joyces, dessen großes Werk im gleichen Jahr
erschienen ist, weshalb 1922 gerne als annus mirabilis (mindestens) der
englischsprachigen Literatur bezeichnet wird: T.S. Eliot, Autor des Gedichtes The
Waste Land, der schließlich Ulysses mit einem weiteren bedeutenden
Ereignis der Zeit in Verbindung setzte: nachfolgende Schriftsteller werden die
durch Joyce gewonnenen Erkenntnisse und Möglichkeiten so nutzen können wie the
scientist who uses the discoveries of an Einstein. Damit schließt sich auch
der Kreis zu der oben bereits angeführten Beobachtung Salman Rushdies, so wie
ein begabter Physiker die Relativitätstheorie Einsteins kennen sollte, aber
anschließend nicht einfach nur diese reproduzieren, so muss sich jeder
Romanautor mit dem Werk Joyces auseinandersetzen und darüber hinausgehen – und
von beidem hat nie jemand behauptet, dass dies einfach sei. Und nebenbei hat
Joyce mit dem Ulysses seiner irischen Heimat einen im Roman geäußerten
Wunsch gleich miterfüllt: unser National-Epos muß erst noch geschrieben
werden (263).
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