Unter dem Titel Escapade veröffentlichte die Schriftstellerin Evelyn Scott – den für ihre Flucht gewählten Decknamen hatte sie für ihre literarische Karriere behalten – 1923 ihr „Fragment einer Autobiographie“. Obwohl noch sehr jung, fehlte es ihr dafür gewiss nicht an Stoff: noch nicht volljährig, war sie eine Liaison mit einem weitaus älteren Mann eingegangen, der noch dazu verheiratet war. Gemeinsam flohen sie vor dem gesellschaftlichen Druck der US-amerikanischen Südstaaten nach Brasilien.
Hintergründe einer Flucht
Wenn er nicht tatsächlich stattgefunden hätte, so hätte man diesen „plot“ gewissermaßen erst erfinden müssen: so böte sich die Möglichkeit zu einer dramatischen Abenteuergeschichte. Doch Evelyn Scott, eigentlich die in Tennessee 1893 geborene Elsie Dunn, hat keinerlei Neigung zu Romantizismus, wie man ihr zugute halten muss, dafür war sie schon zu früh eine Kämpferin für ihre eigenen und die Rechte der Frau im allgemeinen, wohl nicht zur Freude ihrer einst finanziell gutausgestatteten, aber nun im sozialen Abstieg befindlichen Familie.
1912 folgte der Skandal, Ausgangspunkt der titelgebenden Flucht: Elsie brennt mit dem verheirateten Dozenten ihrer Universität in New Orléans durch. Auch wenn es im Buch, wo die genauen Umstände (wohlweislich) ohnehin nie genau erwähnt werden, stets klingt, als seien Elsie – fortan Evelyn Scott – und ihr Geliebter Opfer verbohrter Südstaatenmoral geworden, sollte man dies durchaus kritischer sehen. Zum Zeitpunkt ihrer Flucht war Elsie/Evelyn noch nicht volljährig (das wäre sie erst mit 21 gewesen) – es spräche folglich eher gegen die Eltern, wenn sie das so einfach hingenommen hätten. Wenig verantwortungsvoll zeigen sich beide Flüchtende auch, als Evelyn schon wenige Wochen nach der Ankunft in Brasilien schwanger wird.
Evelyn Scott: Auf der Flucht. |
Ein Leben am Rande des Abgrunds
Denn die Zukunft ist alles andere als aussichtsreich und die beiden agieren – teils gezwungenermaßen – eher planlos: ohne Papiere (da sie in den USA nun auch polizeilich verfolgt werden), ohne Arbeit, ohne große Portugiesischkenntnisse. Das entbehrungsreiche Leben in der Fremde ist dann auch das eigentliche Thema des Buches. John – so das Pseudonym des Geliebten – schlägt sich mit Vertreter-Jobs durch, Evelyn hat mit ihrer Schwangerschaft, den heruntergekommenen Verhältnissen und ständigen Wohnungswechseln zu kämpfen. Die Geburt des Sohnes führt zusätzlich auch noch zu schweren gesundheitlichen Komplikationen, eine weitere Belastung ist die später hinzukommende „Tante“ Nannette (eine literarische Verschiebung – eigentlich war es ihre Mutter).
Der böse Blick einer gedemütigten Frau
Gerade diese Nannette ist ein Bild der Unangepaßtheit im fremden Land. Unfähig zur Selbständigkeit, dem früheren aristokratischen Status in geordneten Verhältnissen nachtrauernd, macht Nannette die anderen – insbesondere John – für ihren Abstieg verantwortlich und kommt körperlich wie geistig immer mehr herunter. Dafür wird sie von Evelyn verachtet – was nicht verwundert, denn Evelyn verachtet so ziemlich jeden. Und ihr zunehmender Hass auf Nannette begründet sich nicht wenig damit, dass diese ein gutes Spiegelbild ihrer selbst ist, auch wenn es sicher nicht ihr Vorhaben war, dies durch ihren Text nur allzu deutlich werden zu lassen.
Land der Fremde, Land der Abscheu
Denn es ist Evelyn selbst, die gegenüber ihrem Gastland und dessen Einwohnern einen geradezu herablassend-aristokratischen Standpunkt einnimmt. Portugiesisch lernt sie selbst nie halbwegs ausreichend (selbst die portugiesischen Textstellen strotzen noch von Fehlern). Die Brasilianer sind häßliche, stumpfe, niederträchtige Personen, ob männlich oder weiblich, das ganze Milieu ist geprägt von Widerlichkeit und Ekelerregendem, Positives findet sich so gut wie nicht. Ich möchte die ganze Welt mit meinem Leid vergiften. Ich möchte die Menschen mit der Krankheit unserer Niederlage anstecken. Das sind immerhin unverhohlen ehrliche Sätze. Gleichzeitig sprechen sie Evelyn Scott von einem eventuellen Rassismusverdacht frei – verachtenswert oder bestenfalls gleichgültig sind nicht die Lateinamerikaner, sondern einfach alle Menschen. Und in ihren lichteren Moment nimmt sie sich selbst davon nicht aus.
Die innere Kälte im warmen Süden
Dies scheint Scotts generelles Problem zu sein: das Buch läßt ein eklatantes Desinteresse an den Mitmenschen spüren, ständig tauchen Figuren neu auf, verschwinden aber ebenso abrupt wieder. Selbst die Beziehung zum Sohn ist merkbar distanziert. Der einzige Säulenheilige ist John, hier ist der Text auch alles andere als emanzipiert. So gesehen ist das Buch eine sehr offene Autobiographie – nach einem gescheiterten Experiment als Farmer findet John eine Anstellung bei einer Minenfirma. Damit endet das Buch – und auch die „Leidenszeit“ in Brasilien. Nachzutragen ist, dass Evelyn Scott später, fast erwartungsgemäß, zu allen Beteiligten ein mehr als distanziertes Verhältnis unterhält: Die Beziehung mit John geht in die Brüche, zur Mutter besteht jahrelang kein Kontakt, und der Sohn wird seine desinteressierte Mutter glühend hassen.
Eine autobiographische Demontage
Evelyn Scott, die 1963 relativ vergessen in New York starb, mag eine ernstzunehmende und achtenswerte Literatin gewesen sein, mit Auf der Flucht bringt sie sich für uneinvorgenommene Leserinnen und Leserin nicht gerade in Sympathieverdacht. Das Abenteuer einer weiblichen Selbstbehauptung, wie es der Klappentext nennt, erscheint eher wie die „Eskapade“ einer eher rücksichtlosen jungen Frau mit wenig Verantwortungsgefühl, neudeutsch: ein Egotrip.
Evelyn Scott: Auf der Flucht. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997.