Franz
Kafka: Das Schloß. st 2565
Wenn man von
einem deutschsprachigen Jahrhundertschriftsteller sprechen kann, einen, den man
auf der Insel Sumatra ebenso kennt wie am Genfer See und in den peruanischen
Anden, einen, den kein Schüler und keine Schülerin von der Hauptschule bis zum
Elite-Gymnasium umhin kann, im Deutschunterricht lesen zu müssen, wenn es einen
Autoren des 20. Jahrhunderts gibt, den die meisten vermutlich sogar anhand
eines Portraits identifizieren könnten, dann ist es ohne Zweifel nicht Thomas
Mann, nicht Hermann Hesse, nicht Günter Grass noch Heinrich Böll, sondern der
Prager Versicherungsmathematiker Franz Kafka (1883-1924). Kafka ist ein Emblem,
ein Markenname geworden und wahrscheinlich der einzige Schriftsteller, der es
sogar geschafft hat, ein Adjektiv zu werden. Sein Privatleben hat man bis in
die Details ausgeleuchtet, jeden Textfetzen seines Werkes veröffentlicht, sich
an der Interpretation seiner Bücher tausendfach versucht und unzählige
Regalmeter der Universitätsbibliotheken damit bestückt. Zu Kafka scheint jedem
etwas einzufallen, bei einer spontanen Umfrage in der Fußgängerzone ebenso wie
an einer internationalen Hochschultagung in Mexico-City. Und dann wird niemand
zu vergessen erwähnen, dass der scheue Herr Kafka aus dem damals noch
österreichisch geprägten Prag all dies so nicht gewollt hatte, wir ihn
gewissermaßen nur dank der Illoyalität seines Freundes Max Brod zu verdanken
haben, dessen eigenes Schaffen dabei fast völlig unterging, der aber den
Vernichtungsbeschluss Kafkas ignoriert und sich fortan in den Dienst von dessen
Werk gestellt und es somit für die Nachwelt gerettet hat.
Franz Kafka: Das Schloß. |
Es gäbe folglich
keine unsinnigere Frage, als jene, ob Kafkas Roman Das Schloss
Berechtigung hat, in der Suhrkamp-Reihe der Romane des Jahrhunderts
aufzutauchen – jeder der Romane Kafkas ist ein Jahrhundert-Roman, darum, auch
dies unterstreicht noch einmal seinen Status, ist er auch der einzige, dessen
große Prosa in der Edition komplett enthalten ist. Seine Texte, ob sehr kurz
oder lang, sind das Paradigma dessen, was Umberto Eco offenes Kunstwerk als
Kennzeichen der Moderne genannt hat. Die Vielfalt und Unabgeschlossenheit der
Interpretationsmöglichkeiten Kafkas erwächst nicht aus einer vertrackten,
kryptisch-dunklen Sprache, im Gegenteil ist kaum eine nüchternere
Berichterstattung denkbar, schnörkellos und klar wird beschrieben, Lange stand
K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in
die scheinbare Leere empor (7). Doch was beschrieben wird, ist, möchte man
sagen, stets – anders. Wo scheinbare Leere herrscht, steht Das
Schloss, der zukünftige Alptraum des Landvermessers K., doch das Schloss,
diese Verkörperung der Macht, ist selbst eigentlich ein recht schäbiges
Minidorf, hat nichts Erhabenes, der Anstrich war längst abgefallen, und der
Stein schien abzubröckeln (14) – und bleibt für K. doch buchstäblich unerreichbar,
wobei es ihm selbst irgendwann nicht mehr klar ist, was er dort erreichen
möchte. „Wer bin ich also?“, fragte K., ruhig wie bisher (28), schon
ziemlich zu Beginn des Romans. Bestellt als Landvermesser offenkundig vom
Schloss aus, wird ihm gleichzeitig von dort Widersprüchliches per
unzuverlässiger Boten und wechselnder Beamter mit noch mehr wechselnden Titeln
übermittelt, in seinem Beruf werde er nicht gebraucht, man sei mit seiner
Arbeit aber zufrieden, er wird zum Schuldiener degradiert, eine Funktion, die
überflüssig ist, wenig geachtet und von den Lehrern unerwünscht. Er läuft von
Pontius zu Pilatus, um Näheres zu erfahren, sucht Verbündete, verstrickt sich
ungewollt in die Dorfintrigen, findet eine Braut, die er ebenso schnell und
abrupt verliert. Gerät in den Strudel der Beziehungen innerhalb der
Dorfgemeinschaft ohne je anerkannter oder auch nur respektierter Teil dieser zu
werden. Nur eines hat Bestand, der absolute Glaube aller Einwohner an die
Unfehlbarkeit der Behörden im Schloss und deren Beamter, denn Fehler kommen
ja nicht vor, und selbst, wenn einmal ein Fehler vorkommt, wie in Ihrem Fall,
wer darf denn endgültig sagen, dass es ein Fehler ist (77).
Die Offenheit
von Kafkas Texten ermöglicht naturgemäß auch schnelle, oberflächliche Deutungen
– die als Ausgangspunkt für tiefergehende Interpretation ja nicht unfruchtbar
sein müssen. Sicher liegt es nahe, Das Schloss als Kritik an einer
ausufernden Bürokratie zu verstehen, Kafka ist in einem dezidierten
Beamtenstaat wie Österreich aufgewachsen, wusste, wovon er spricht,
beziehungsweise schreibt. Genaugenommen war er selbst als Angestellter einer
Versicherung, Teil eines – sowohl für die Außenstehenden als auch die daran im
Innern Beteiligten – immer undurchschaubarer werdenden Systems. Allein das
sollte diese einförmige Auslegung schon verhindern. Und K. ist keineswegs ein
armes Opfer, das wehrlos in die Mühlen der Bürokratie gerät. Seine Analyse der
Dörfler ist korrekt, Die Ehrfurcht vor der Behörde ist euch hier eingeboren,
wird euch weiter während des ganzen Lebens auf die verschiedensten Arten und
von allen Seiten eingeflösst, und ihr selbst helft dabei mit, wie ihr nur könnt
(208); Auftakt zum Rebellentum verbirgt sich darin nicht, K. fährt fort: Doch
sage ich im Grunde nichts dagegen; wenn eine Behörde gut ist, warum sollte man
vor ihr nicht Ehrfurcht haben (208). K. selbst ist einer derjenigen, der
jegliches Handeln der Behörde, und bei weitem nicht nur, wenn es gut ist,
bis zum Grotesken rechtfertigt, das Obrigkeitsdenken, das er den Bewohnern
scheinbar vorwirft, hat er fast mehr verinnerlicht als manche dieser selbst. Wo
– berechtigter – Widerstand erkennbar ist, etwa in der Abwehr eines
zudringlichen Beamten durch das Mädchen Amalia, scheint er diesen erst
anzuerkennen, nur um die Ausgrenzung der kompletten Familie schließlich als
durchaus gerechtfertigt zu bestätigen. Dass er selbst durch das Verhalten der
Behörde und ihrer Beamten immer tiefer sinkt, sein Bemühen um Klärung seines
Status’ und vor allem seine gewünschte Integration ins Dorfleben dadurch
sabotiert werden, ist er stets bereit vor sich und anderen positiv und mit
neuen Hoffnungen umzudeuten – Reste unabhängigen Denkens, die fast
ausschließlich in den Frauenfiguren zu finden sind, kommen bei K. schon kurz
nach seiner Ankunft nicht mehr vor. Der Name des obskuren oberen Beamten Klamm
ist zur Bestimmung für ihn geworden wie für zahlreiche andere Bewohner des
Ortes auch.
Warum K. nicht
einfach das Dorf verlässt, nachdem er die Vergeblichkeit seines Tuns hätte
längst erkennen müssen, ist vermutlich eine der vielen, vielen Fragen, die nie
jemand beantworten wird. Diese Wendung, wenn es eine Wendung ist und keine
Täuschung – Täuschungen sind häufiger als Wendungen (258), der Satz hat
etwas von einer Gebrauchsanweisung für das Lesen kafkascher Texte. Nicht, dass
er uns zu einer Lösung oder Auflösung führen würde. Nichts ist so passend wie
das durch die Umstände seines Lebens erzwungene unabgeschlossene Ende der
großen Romane Kafkas, geradezu natürlich scheint die Überlieferung als
Fragment, das Abbrechen mitten im Text ohne durchgeführten Abschluss. Gerade Das
Schloss scheint un-endlich, die Handlung, so der Eindruck, schreitet voran,
ohne das sich je etwas vorwärts bewegt, auf Seite 3 ist K. nicht weiter als sie
auf einer möglichen zukünftigen Seite 874 wäre. Oder herrscht hier doch mehr
als nur eine scheinbare Leere?
Teil (2): Thomas Bernhard - Auslöschung
Teil (2): Thomas Bernhard - Auslöschung