Samstag, 25. Februar 2017

Suhrkamps Romane des Jahrhunderts (3) - Franz Kafka: Das Schloß.


Franz Kafka: Das Schloß. st 2565

 

Wenn man von einem deutschsprachigen Jahrhundertschriftsteller sprechen kann, einen, den man auf der Insel Sumatra ebenso kennt wie am Genfer See und in den peruanischen Anden, einen, den kein Schüler und keine Schülerin von der Hauptschule bis zum Elite-Gymnasium umhin kann, im Deutschunterricht lesen zu müssen, wenn es einen Autoren des 20. Jahrhunderts gibt, den die meisten vermutlich sogar anhand eines Portraits identifizieren könnten, dann ist es ohne Zweifel nicht Thomas Mann, nicht Hermann Hesse, nicht Günter Grass noch Heinrich Böll, sondern der Prager Versicherungsmathematiker Franz Kafka (1883-1924). Kafka ist ein Emblem, ein Markenname geworden und wahrscheinlich der einzige Schriftsteller, der es sogar geschafft hat, ein Adjektiv zu werden. Sein Privatleben hat man bis in die Details ausgeleuchtet, jeden Textfetzen seines Werkes veröffentlicht, sich an der Interpretation seiner Bücher tausendfach versucht und unzählige Regalmeter der Universitätsbibliotheken damit bestückt. Zu Kafka scheint jedem etwas einzufallen, bei einer spontanen Umfrage in der Fußgängerzone ebenso wie an einer internationalen Hochschultagung in Mexico-City. Und dann wird niemand zu vergessen erwähnen, dass der scheue Herr Kafka aus dem damals noch österreichisch geprägten Prag all dies so nicht gewollt hatte, wir ihn gewissermaßen nur dank der Illoyalität seines Freundes Max Brod zu verdanken haben, dessen eigenes Schaffen dabei fast völlig unterging, der aber den Vernichtungsbeschluss Kafkas ignoriert und sich fortan in den Dienst von dessen Werk gestellt und es somit für die Nachwelt gerettet hat.

Franz Kafka: Das Schloß.
Es gäbe folglich keine unsinnigere Frage, als jene, ob Kafkas Roman Das Schloss Berechtigung hat, in der Suhrkamp-Reihe der Romane des Jahrhunderts aufzutauchen – jeder der Romane Kafkas ist ein Jahrhundert-Roman, darum, auch dies unterstreicht noch einmal seinen Status, ist er auch der einzige, dessen große Prosa in der Edition komplett enthalten ist. Seine Texte, ob sehr kurz oder lang, sind das Paradigma dessen, was Umberto Eco offenes Kunstwerk als Kennzeichen der Moderne genannt hat. Die Vielfalt und Unabgeschlossenheit der Interpretationsmöglichkeiten Kafkas erwächst nicht aus einer vertrackten, kryptisch-dunklen Sprache, im Gegenteil ist kaum eine nüchternere Berichterstattung denkbar, schnörkellos und klar wird beschrieben, Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor (7). Doch was beschrieben wird, ist, möchte man sagen, stets – anders. Wo scheinbare Leere herrscht, steht Das Schloss, der zukünftige Alptraum des Landvermessers K., doch das Schloss, diese Verkörperung der Macht, ist selbst eigentlich ein recht schäbiges Minidorf, hat nichts Erhabenes, der Anstrich war längst abgefallen, und der Stein schien abzubröckeln (14) – und bleibt für K. doch buchstäblich unerreichbar, wobei es ihm selbst irgendwann nicht mehr klar ist, was er dort erreichen möchte. „Wer bin ich also?“, fragte K., ruhig wie bisher (28), schon ziemlich zu Beginn des Romans. Bestellt als Landvermesser offenkundig vom Schloss aus, wird ihm gleichzeitig von dort Widersprüchliches per unzuverlässiger Boten und wechselnder Beamter mit noch mehr wechselnden Titeln übermittelt, in seinem Beruf werde er nicht gebraucht, man sei mit seiner Arbeit aber zufrieden, er wird zum Schuldiener degradiert, eine Funktion, die überflüssig ist, wenig geachtet und von den Lehrern unerwünscht. Er läuft von Pontius zu Pilatus, um Näheres zu erfahren, sucht Verbündete, verstrickt sich ungewollt in die Dorfintrigen, findet eine Braut, die er ebenso schnell und abrupt verliert. Gerät in den Strudel der Beziehungen innerhalb der Dorfgemeinschaft ohne je anerkannter oder auch nur respektierter Teil dieser zu werden. Nur eines hat Bestand, der absolute Glaube aller Einwohner an die Unfehlbarkeit der Behörden im Schloss und deren Beamter, denn Fehler kommen ja nicht vor, und selbst, wenn einmal ein Fehler vorkommt, wie in Ihrem Fall, wer darf denn endgültig sagen, dass es ein Fehler ist (77).

Die Offenheit von Kafkas Texten ermöglicht naturgemäß auch schnelle, oberflächliche Deutungen – die als Ausgangspunkt für tiefergehende Interpretation ja nicht unfruchtbar sein müssen. Sicher liegt es nahe, Das Schloss als Kritik an einer ausufernden Bürokratie zu verstehen, Kafka ist in einem dezidierten Beamtenstaat wie Österreich aufgewachsen, wusste, wovon er spricht, beziehungsweise schreibt. Genaugenommen war er selbst als Angestellter einer Versicherung, Teil eines – sowohl für die Außenstehenden als auch die daran im Innern Beteiligten – immer undurchschaubarer werdenden Systems. Allein das sollte diese einförmige Auslegung schon verhindern. Und K. ist keineswegs ein armes Opfer, das wehrlos in die Mühlen der Bürokratie gerät. Seine Analyse der Dörfler ist korrekt, Die Ehrfurcht vor der Behörde ist euch hier eingeboren, wird euch weiter während des ganzen Lebens auf die verschiedensten Arten und von allen Seiten eingeflösst, und ihr selbst helft dabei mit, wie ihr nur könnt (208); Auftakt zum Rebellentum verbirgt sich darin nicht, K. fährt fort: Doch sage ich im Grunde nichts dagegen; wenn eine Behörde gut ist, warum sollte man vor ihr nicht Ehrfurcht haben (208). K. selbst ist einer derjenigen, der jegliches Handeln der Behörde, und bei weitem nicht nur, wenn es gut ist, bis zum Grotesken rechtfertigt, das Obrigkeitsdenken, das er den Bewohnern scheinbar vorwirft, hat er fast mehr verinnerlicht als manche dieser selbst. Wo – berechtigter – Widerstand erkennbar ist, etwa in der Abwehr eines zudringlichen Beamten durch das Mädchen Amalia, scheint er diesen erst anzuerkennen, nur um die Ausgrenzung der kompletten Familie schließlich als durchaus gerechtfertigt zu bestätigen. Dass er selbst durch das Verhalten der Behörde und ihrer Beamten immer tiefer sinkt, sein Bemühen um Klärung seines Status’ und vor allem seine gewünschte Integration ins Dorfleben dadurch sabotiert werden, ist er stets bereit vor sich und anderen positiv und mit neuen Hoffnungen umzudeuten – Reste unabhängigen Denkens, die fast ausschließlich in den Frauenfiguren zu finden sind, kommen bei K. schon kurz nach seiner Ankunft nicht mehr vor. Der Name des obskuren oberen Beamten Klamm ist zur Bestimmung für ihn geworden wie für zahlreiche andere Bewohner des Ortes auch.

Warum K. nicht einfach das Dorf verlässt, nachdem er die Vergeblichkeit seines Tuns hätte längst erkennen müssen, ist vermutlich eine der vielen, vielen Fragen, die nie jemand beantworten wird. Diese Wendung, wenn es eine Wendung ist und keine Täuschung – Täuschungen sind häufiger als Wendungen (258), der Satz hat etwas von einer Gebrauchsanweisung für das Lesen kafkascher Texte. Nicht, dass er uns zu einer Lösung oder Auflösung führen würde. Nichts ist so passend wie das durch die Umstände seines Lebens erzwungene unabgeschlossene Ende der großen Romane Kafkas, geradezu natürlich scheint die Überlieferung als Fragment, das Abbrechen mitten im Text ohne durchgeführten Abschluss. Gerade Das Schloss scheint un-endlich, die Handlung, so der Eindruck, schreitet voran, ohne das sich je etwas vorwärts bewegt, auf Seite 3 ist K. nicht weiter als sie auf einer möglichen zukünftigen Seite 874 wäre. Oder herrscht hier doch mehr als nur eine scheinbare Leere?                        

Teil (2): Thomas Bernhard - Auslöschung

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