Dienstag, 31. Oktober 2017

James McIntyre: Two Poems.


Für gewöhnlich würdigt dieser Blog herausragende Lyrik, die oftmals leider in Vergessenheit geraten ist - dieses Mal aber stellen wir zwei Gedichte eines kanadischen Dichters vor, der völlig zurecht und zum Glück keinerlei Aufmerksamkeit mehr genießt.   
James McIntyre (1827-1906) wählte als Gegenstand seiner Gedichte - er veröffentlichte insgesamt immerhin zwei Poesiebände - oft ziemlich Außergewöhnliches. Theoretisch eine gute Idee, doch ob tonnenschwere Käse (eines seiner Lieblingsthemen) und Holzbeine wirklich der Würdigung durch die Musen bedurft hätten, lässt sich zweifellos recht leicht beantworten: nein. Auch ansonsten pflegte McIntyre neben der verfehlten Themenwahl alle kennzeichnenden Eigenschaften eines sehr schlechten Dichters: falsche Metaphern, holprige Metrik und laue Reimkünste (balloon/noon/moon/soon, dig/leg). Aber lesen Sie einfach selbst:
 
Das erste Gedicht schrieb er zu Ehren eines Riesenkäses, der auf einer Landwirtschaftsausstellung in Toronto präsentiert worden war.

Ode on the Mammoth Cheese

Weighing over 7,000 Pounds

We have seen thee, queen of the cheese,
Lying quietly at your ease,
Gently fanned by evening breeze,
Thy fair form no flies dare seize.

All gaily dressed soon you'll go
To the great Provincial show,
To be admired by many a beau
In the city of Toronto.

Cows numerous as a swarm of bees,
Or as the leaves upon the trees,
It did require to make thee please,
And stand unrivalled, queen of cheese.

May you not receive a scar as
We have heard that Mr. Harris
Intends to send you off as far as
The great world's show at Paris.

Of the youth beware of these,
For some of them might rudely squeeze
And bite your cheek, then songs or glees
We could not sing, oh! queen of cheese.

We'rt thou suspended from balloon,
You'd cast a shade even at noon,
Folks would think it was the moon
About to fall and crush them soon.


Dieses Gedicht war zugegeben ziemlicher Käse (schlechte Lyrik bringt schlechte Wortspiele hervor!), aber McIntyre versuchte sich auch an ernsteren Themen, etwa der Trostspendung für Einbeinige - leider fällt sein gut gemeinter Rat ungewollt ziemlich zynisch aus, man kann sich nicht so recht vorstellen, dass bei den Betroffenen tatsächlich große Freude über ihr unverhofftes Glück, ein Holzbein tragen zu dürfen, im gewünschten Maße ausbricht.

Wooden Leg

Misfortune sometimes is a prize,
And is a blessing in disguise;
A man with a stout wooden leg,
Through town and country he can beg.

And the people in the city,
On poor man they do take pity;
He points them to his timber leg
And tells them of his poor wife, Meg.

And if a dog tries him to bite,
With his stiff leg he doth him smite,
Or sometimes he will let him dig,
His teeth into the wooden leg.

Then never more will dog delight
This poor cripple man for to bite;
Rheumatic pains they never twig,
Nor corns annoy foot or leg.

So cripple if he's man of sense,
Finds for ill some recompense;
And though he cannot d
ance a jig;
He merry moves on wooden leg.

And when he only has one foot,
He needs to brush only one boot;
Through world he does jolly peg,
So cheerful with his wooden leg.

In mud or water he can stand
With his foot on the firm dry land,
For wet he doth not care a fig,
It never hurts his wooden leg.

No aches he has but on the toes
Of one foot, and but one gets froze;
He has many a jolly rig,
And often enjoys his wooden leg.


Mehr von James McIntyre und anderen MeisterpoetInnen in:
Kathryn and Ross Petras (ed.): Very Bad Poetry. New York: 1997.
Siehe auch: Lektüremonat Oktober 2017.


 

Mittwoch, 4. Oktober 2017

Mit Fräulein Annika unterwegs...in der agilis 84246 von Donauwörth nach Ulm.


Mit Fräulein Annika unterwegs...in der agilis 84246 von Donauwörth nach Ulm.

 

Kennen Sie diese Abteilungen in den größeren Bahnhofsbuchhandlungen, wo reihenweise Bildbände lagern über Bahnstrecken, Bahngebäude und Lokomotiven? Die Aischtalbahn 1945-1975, Bahnhöfe des südlichen Hunsrück, Die Baureihe XYZ-Lilalu der Deutschen Reichsbahn? Wer kauft diese Bücher? Offenkundig sehr viele – und das können nicht nur pensionierte Bahnbeamte sein, die sich allerdings hinter der Mehrzahl der Autoren verbergen dürften. Und es sei diesen Kollegen und ihren Lesern – ob es auch Leserinnen gibt? – unbenommen, der morbide Reiz untergegangener Bahnstrecken, von denen es schließlich nicht allzuwenige gibt, ist durchaus nachvollziehbar, die Architektur mancher Bahnbauten auch, die Technik irgendwelcher Dampfrösser, naja, Geschmackssache. Dies Ganze nur als Vorwarnung, dass von alldem im folgenden rein gar nichts zu lesen sein wird, obwohl wir uns gemeinsam auf eine kurze Bahnreise begeben werden. Keine Ahnung, wie das Zugmodell heißt, es ist der typische hellgrüne kleine Regionalzug der agilis, der in Donauwörth bereits auf uns wartet, weshalb Fräulein Annika und ich uns wie gewohnt sputen müssen, um ihn zu erwischen – und wie gewohnt gelingt dies auch. Die Fahrt geht in gut einer Stunde – genau: 68 Minuten – vom genannten Donauwörth durch das nördliche Bayerisch-Schwaben mit der sogenannten Donautalbahn ins baden-württembergische Ulm. Die alte Reichsstadt an der Wörnitz mit ihrem Umsteigebahnhof, wo sich diese Strecke mit der von Nürnberg über Augsburg nach München kreuzt, ist ein Schmuckstück, von dem wir heute leider nichts mitbekommen als ein paar Quadratmeter Bahnhofsunterführung, was bedauerlich ist, uns an einem anderen Tage aber einen eigenen Bericht erlaubt. Denn der Zug rollt schon an, kaum dass wir eingestiegen sind. Fräulein Annika macht es sich bequem, ich hole erst mal Brotzeit – es ist mittags – und Notizbuch heraus.             

Vor dem ersten Halt nach nur wenigen Minuten sitzt gleich mal ein Reh im Gebüsch an der Bahntrasse, wir bewegen uns durch eine sehr ländliche Gegend. Und das unbeeindruckte Tier bleibt zu unser beidseitigem Glück auch friedlich sitzen. Derweil fahren wir in Tapfheim ein. Was gibt es über den Ort zu sagen? Fräulein Annika findet den Namen irgendwie schön, ohne dies erklären zu können. Ich gebe ihr recht. Ansonsten keinen Schimmer, wir waren noch nie dort, in Tapfheim. Für uns Zugfahrer kann er aber als Beispiel dafür dienen, wie man zu unverdienten Hass kommt. Denn als in umgekehrter Richtung letzter Ort vor dem Knotenpunkt Donauwörth, wo man etwa auf den Zug nach Nürnberg stets nur fünf Minuten zum Umsteigen hat, zieht es sich bei knapper werdender Zeit spätestens ab Schwenningen den allgemeinen stillen Groll des in terminliche Bedrängnis Geratenden zu, so dass die Ankündigung Nächster Halt: Tapfheim ein innerliches „Oaaaah nee, dieses Scheißtapfheim!“ und ein äußerliches Zucken und Seufzen hervorruft. Allerdings nur bei Bahnlaien, Profis bleiben durch jahrelanges Üben äußerst gelassen, außerdem fahren wir Richtung Ulm und drittens kann Tapfheim hierfür nun mal rein gar nichts.

Wir sausen folglich weiter nach Schwenningen und zwar mit zwischenzeitlich 132 km/h, wie die Anzeige verrät. Wieder ein Dorf, über das man nun eher wenig weiß und nicht weiß, ob dies für oder gegen einen oder das Dorf spricht. Immerhin sieht dieses Schwenningen äußerlich hübscher aus als sein größerer Namensvetter im Schwarzwald. Weiter geht’s.           

Der jeden vorpubertären Rotzlöffel sicher zu lustigem Kichern und frühkindlichen Scherzen anregende Name Blindheim steht für eine der interessanten Stationen unter den unbekannteren Orten an der Strecke. Denn hier wurde einst Weltgeschichte geschrieben, was man Dorf und Landschaft erst einmal eher nicht ansieht. Was man nämlich sieht vom Bahnfenster aus, vorausgesetzt man sitzt auf der richtigen – nördlichen Seite – ist ein großes Freiluftdepot zahlreicher ausrangierter Straßenbahnwagen, die der Farbe nach aus der bayerischen Landeshauptstadt München stammen dürften. Wie sie hier herkamen und warum sie nun ihren Lebensabend buchstäblich vor sich hingammelnd in Blindheim verbringen dürfen? Eine bislang ungeklärte Frage. Langsam durch Pflanzenbewuchs zuwuchernd hat die Nachbarschaft des Tramfriedhofes zum Bahnhof etwas von einem idyllischen Schrottplatz.
 

Man sitzt bequem in der agilis, egal wie groß man ist.
Jetzt aber zur Weltgeschichte. Auch da spielt die bayerische Landeshauptstadt eine – wie so oft unrühmliche – Rolle. Der dort sitzende Kurfürst hatte sich nämlich mal schnurstracks mit den Franzosen des Sonnenkönigs Louis XIV. verbündet, um auf Kosten des Reiches seine eigenen Machtpläne voranzutreiben. International bekannt wurde dieser schließlich gesamteuropäische Konflikt unter dem Namen Spanischer Erbfolgekrieg. Und es schien so, als hätte der Münchner Kurfürst – es war Maximilian II. Emanuel – aufs richtige Pferd gesetzt. Bis zu jenem 13. August 1704, an dem die vereinten kaiserlichen und englischen Truppen unter Prinz Eugen und John Churchill, dem Duke of Marlborough, dem Ganzen mit der Schlacht bei Blindheim ein Ende setzten. Der Krieg ging zwar noch bis zum Frieden von Utrecht 1713 weiter, aber die bayerischen Machtgelüste waren passé – die Franken kämpften übrigens, wie eigentlich immer, auf der Seite des Kaisers, woran unter anderem die nördlicher gelegene Weißenburger Schanzenlinie erinnert. So weit die Geschichtsbücher – nur wer da hineinschaut, wird überhaupt keine Schlacht von Blindheim finden. In Deutschland firmiert sie unter dem Namen Zweite Schlacht von Höchstädt, die Nachbarn heimsen also den Ruhm ein. Und wer ein englisches Werk aufschlägt, wundert sich völlig über eine Battle of Blenheim. Zieht man den Atlas (oder google maps) zurate, wird es nur noch kurioser. Blenheim liegt in Neuseeland, nicht Bayerisch-Schwaben. Erklärung, rückwärts aufgedröselt: das neuseeländische Blenheim wurde zu Ehren der Schlacht so benannt. Blenheim deshalb, weil die französischen Vortruppsoldaten, die auf Seiten der Engländer dienten (um unsere Verwirrung nur noch größer zu machen also Franzosen, die gegen Franzosen kämpften), den Namen Blindheim nicht recht aussprechen konnten. So kam es zur immerhin hübschen Alliteration Battle of Blenheim, die zugegeben auch mit Blindheim gut, aber mit dem benachbarten Höchstädt, das die ordnungsliebenden Deutschen einfach zum Durchnummerieren der Schlachten – insgesamt deren drei – nutzten und von dem man besser nicht wissen möchte, wie die Franzosen es aussprachen, gar nicht funktioniert hätte.

Nachdem wir an großflächigen Solaranlagen auf den Feldern, wo einst die Schlachten tobten, vorbeigefahren sind, zwischen denen, um die heutige Friedfertigkeit zusätzlich zu unterstreichen, auch noch Tradition mit Moderne verbindend Schafe grasen, kommen wir in Höchstädt an. Dazu fällt uns ein weiterer ebenfalls friedlicher Dreiklang ein oder auf: die drei folgenden Donaustädte besitzen – zumindest vom Zug aus betrachtet – eine gewisse äußerliche architektonische Ähnlichkeit. Der Bahnhof liegt eher am Stadtrand, das Häusermeer der Altstadt wird jeweils dominiert von einem charakteristischen Münsterturm, meist noch ein paar anderen Türmchen und einem vorbarocken Schlossbau. Man möchte gerne hier aussteigen, wenn man nicht weiter müsste. Nun kommt aber der junge, überaus freundliche Schaffner und kontrolliert unaufdringlich unsere Fahrkarte, fast so, als wäre es ihm unangenehm, uns stören zu müssen. Wir rollen weiter und sehen vom Fenster aus einen Sonderpostenmarkt – früher das, was man einen Ramschladen nannte, nur eben im Hallenformat –, der sich TOBI nennt, was, wie der Untertitel verkündet, nicht der Name des Besitzers ist, sondern eine Abkürzung für Total billig. Es verwundert immer wieder – und in diesem Fall besonders – wieso die Händler sich des doch sehr ambivalenten Wortes billig bedienen und nicht des doch reichlich eindeutigeren preiswert. Vielleicht, weil der Besitzer ein besonders ehrlicher Kerl ist. Fräulein Annika lacht. Zurecht.

Dillingen - Blick vom Schloss zur Studienkirche.
Am folgenden Bahnhof findet meist der größte Personenaustausch statt, kein Wunder, handelt es sich doch um eine Universitätsstadt: Dillingen an der Donau. Zugegeben, eine ehemalige Universitätsstadt, die glor- und lehrreichen Zeiten sind schon vorbei, auch wenn die Bauten der einstigen Jesuitenhochschule noch immer die Stadt prägen und einst zahlreiche Absolventen mit klingenden Namen hervorgebracht hatten. Dillingen, heute Kreisstadt, profitierte von der Reformation in der Reichsstadt Augsburg, die den dortigen Fürstbischof dazu veranlasste, einerseits seine Residenz hierher zu verlegen, weshalb die Stadt auf engem Raum von Kirchen und Klöstern sowie einem Schloss nur so strotz und er zweitens hier eine gegenreformatorische Universität gründen ließ, deren Lehre ebenso ausstrahlte wie die Architektur ihrer Bauten – eine Mischung aus Spätgotik und Renaissance, die noch immer sehr beeindruckend anzuschauen ist. Leider erkennt man all dies vom Zug aus nur in den Zipfelchen der zahlreichen Türme. Wenn nicht gerade der örtliche Landtagsabgeordnete in einen Skandal oder ein früherer Fußballnationaltorwart in einen medienträchtigen Auftritt verwickelt ist, ruht Dillingen etwas sanft im Gedächtnis der Menschheit – leider. Der Besuch dieser Stadt ist ein äußerst lohnenswertes Erlebnis.

Gelehrt geht es weiter in die nächste und letzte der drei ähnlichen Städte: Lauingen. Aus ihr stammt Albertus Magnus, schon namentlich als ein großer erkennbar und man darf davon ausgehen, dass seine Schriften im benachbarten Dillingen lange zur Grundlektüre gehörten. Philosophische Lehrer-Schüler-Gespanne auf Höchstniveau sind erstaunlicherweise gar nicht so selten. Der antike Klassiker Platon und Aristoteles als ewiges Vorbild, Hegel schickte gleich mehrere Schüler in die Welt, die mit und gegen ihn ihre Epoche und die Gegenwart prägten, von Marx bis Kierkegaard. Im Mittelalter waren Albertus Magnus und Thomas von Aquin solch ein Spitzenduo, heute in der Wahrnehmung, nicht unbedingt in ihrer Wirkung wohl etwas vernachlässigt, Philosophieseminare über Albertus dürften im Sommersemester 2017 vermutlich nicht allzu oft in den Vorlesungsverzeichnissen auftauchen. An seiner Bedeutung ändert dies jedoch nichts, die Lauinger dürften mit recht stolz auf den berühmten Sohn ihrer Stadt sein, auch wenn hier im Zug niemand sitzt, der scholastische Werke liest. Noch einmal blicken wir auf die nun geradezu vertraute Silhouette einer Stadt mit Münster, Schloss und Türmchen, bevor es auch schon weitergeht.

Und zwar nach Gundelfingen. Vielleicht liegt es daran, dass wir ab und zu in Bahnhofsbuchhandlungen eines von Disneys Lustigen Taschenbüchern mitnehmen, aber jedes mal drängt sich hier viel mehr als schlechte Scherze über Blindheim der Name Gundel Gaukeley auf. Was schließlich auch nicht viel über Pennälerniveau liegt. Und dem Ort nicht gerecht wird, denn Gundelfingen kann etwas sehr, sehr Seltenes aufweisen. Einen renovierten Bahnhof in dem noch dazu eine Fahrdienstleiterin sitzt – oder wie auch immer der offizielle Titel dieser Menschen in den Stellwerken heute heißen mag. Ein nichtheruntergeramschtes Bahnhofsgebäude auf dem Dorf in der Nachmehdornära! In der eine Bahnangestellte arbeitet! Ein Hauch von Achtzigerjahren der Bundesrepublik weht uns an – wirklich nur ein Hauch, denn unter dem ewigen Helmut Kohl säße dort im Kabuff höchstwahrscheinlich keine Frau. Man merkt schon, so ein ungewohnter Anblick verwirrt einem gleich die Sinne.

Zum Glück fahren wir nun durch die großen Gleisanlagen eines wieder liebevoll heruntergekommenen Bahnhofes namens Neuoffingen, der offenbar nur noch für den Güterverkehr angesteuert wird, von diesem aber immerhin recht zahlreich. Wir aber rauschen durch. Bald gesellt sich die träge – gegen unsere Fahrtrichtung – dahinfließende Donau zu uns, von nun an Begleitung nördlich der Strecke, manchmal näher, manchmal ferner. Dagewesen sein müsste sie schließlich schon länger, gesehen haben wir sie aber nicht.

Wir rollen in den bahntechnisch bedeutendsten Halt unserer Strecke ein, Günzburg. An diesem Knotenpunkt haben wir einen so genannten „planmäßigen Aufenthalt“, weil wir hier stets regulär von einem IC überholt werden. Dieser hält ebenfalls in Günzburg und wir müssen ihm für gewöhnlich noch dazu einen Vorsprung gewähren – obwohl wir früher hier waren, aber die Bahnhierarchie ist ungerecht. Doppelt ungerecht, denn im Gegensatz zu unserer agilis nimmt es der feine IC mit der Pünktlichkeit selten genau, weshalb wir von ihm unverschuldet ein paar zusätzliche Minuten aufgebrummt bekommen. Normalerweise steigen hier um diese Uhrzeit zahlreiche Schüler ein, aber dankenswerterweise – das werden beide Seiten so sehen – sind derzeit Ferien. Günzburg ist also ein IC-Halt, folglich überrascht der hier frisch renovierte Bahnhof nicht, auch dies ein Fall der seltsam gearteten Bahnhierarchie, denn in Dillingen etwa steigen sicher mehr Menschen täglich in die regional- und Bummelzüge als hier in Günzburg in den IC. Sei’s drum, die verrinnenden Minuten im Bahnhof kann man, wenn man ausnahmsweise kein Buch oder wie 85% der Mitfahrgäste ein Smartphone in der Hand hat, zum Abschweifen der Gedanken beim Blick auf die Altstadt nutzen. Die liegt südlich – links der Fahrtrichtung – auf einem Hügel, rechts die kanalisierte Donau. Man kann sich leicht vorstellen, dass die praktisch veranlagten Römer die Anhöhe für eines ihrer Grenzkastelle nutzten, um hier zudem einen wichtigen Übergang über den damals sicher nicht so glatt dahinfließenden Fluss zu errichten und zu überwachen. Der Überlieferung war dieses einer der letzten Außenposten, denn sie in der Spätantike hier an der Nordgrenze noch hielten. Eine Art Außenposten blieb Günzburg auch weiterhin, spätestens nachdem die Österreicher den Ort im Mittelalter zu einer kleinen Nebenresidenz ausbauten, die es gegen ständige bayerische Begehrlichkeiten zu verteidigen galt – interessant hierbei, dass die umliegenden Reichsstädte Günzburg stets gegen die Münchner Gelüste unterstützten. Noch beim Übergang 1806 soll der hiesige Stadtpfarrer die Übergabe an das neue Königreich als offenkundige Strafe für die Sünden der Günzburger gebrandmarkt haben. Den Österreichern verdanken die Günzburger in jedem Falle ihr schönes Stadtbild, das nicht mehr an die drei mehrfach erwähnten Donaustädte, sondern eher schon an Oberschwaben erinnert. Die Hauptkirche prangt hier in stattlichem Rokoko.

Noch eine historische Überlegung kann man anhand Günzburgs anstellen. Lauingen tut sich mit seinem Albertus Magnus leicht, aber was, wenn man die Geburtstadt eines Josef Mengele ist, der international für einen der wahrscheinlich widerwärtigsten Charaktere überhaupt steht? Für eine kleinere Gemeinde – die ja noch dazu durchaus andere Personen von weitaus anderer Bedeutung, unter anderem sei an Petra Kelly erinnert, hervorgebracht hat – ist dies stets eine Bürde. Wieviele Arschlöcher beispielsweise schon aus Hamburg hervorgegangen sind, interessiert keinen Menschen, aber der Name Mengele, dessen Vater, ein Industrieller, noch dazu Ehrenbürger der Stadt ist, wird stets mit Günzburg verbunden bleiben, so wenig diese für die Entwicklung ihrer Mitbürger kann. Das Klügste ist wohl, dies als Verpflichtung anzusehen und Aufklärung zu betreiben. Fräulein Annika und ich beschließen, dies bei einem Besuch einmal zu überprüfen, obwohl und gerade weil wir uns sicher sind, dass die Günzburger dies gut gelöst haben. Außerdem wirkt die Stadt einfach einladend.

Hier muss irgendwo auch das deutsche Legoland sein, aber Fräulein Annika meint, es sei schon recht so, dass man es nicht sehe, man könne es getrost ignorieren. Sie scheint gewisse Vorbehalte zu haben. Unsere nächste Station, Leipheim, nennt sich unglaublich aussagekräftig „Stadt an der Donau“, nun gut, beides dürfte nicht verkehrt sein, aber doch auch auf circa 1500 weitere Städte in Europa zutreffen. Doch geschenkt. Über Jahre haben wir sowieso immer Laup- und Leipheim verwechselt, wie es einem aus unerfindlichen Gründen manchmal so geht, noch dazu ist auch Laupheim eine Stadt ziemliche nahe an der Donau und gar nicht so weit weg. Um noch ehrlicher zu sein, wissen wir über Leipheim letztlich genauso wenig zu berichten (immerhin, ein Schloss lugt von einem Hügel über der Stadt hervor) wie über den Halt Nersingen, der als nächstes ansteht. Selbst der Zug schwingt sich zu angezeigten Höchstgeschwindigkeiten von 155 km/h auf, wahrscheinlich eher nicht, um schnell hier wegzukommen, sondern dank der leichten Verspätung – danke noch mal an den IC! – die er, dies sei vorweggenommen, bis Ulm fast wieder einholt: es wird letztlich eine Minute länger als geplant.

Denn da ist ja noch der allerletzte Halt auf bayerischem Boden: Neu-Ulm. Der Bahnhof dieser Stadt ist wie die Stadt – übrigens eine der größten im Bundesland Bayern, was einen doch jedes Mal überrascht, auch weil man Neu-Ulm für einen Vorort Ulms gehalten hat, der es letztlich ja auch ist. Aber wir haben ihr Harald Schmidt zu verdanken, weshalb wir einmal geflissentlich über all ihre architektonischen Mängel hinwegsehen, obwohl das sehr, sehr schwerfällt gerade in diesem Betonbahnhof, der ein bisschen nach S-Bahn in einem gelackten Berliner Neubauviertel aussieht. Aber vielleicht hat Neu-Ulm eher unser Mitleid statt Häme verdient und das der Vorort von seiner Metropole durch eine Ländergrenze getrennt wird, trägt sicher auch nicht zur Besserung bei.

Somit willkommen in Baden-Württemberg und dem Endbahnhof Ulm. Wie die Ausgangsstation Donauwörth ebenfalls einstige Reichstadt, wie diese ihren eigenen Bericht wert. Da wir mit dem Zug angekommen sind, soll ruhig noch erwähnt werden, dass Ulm eine der beklopptesten Gleisnummerierungen der nördlichen Hemisphäre aufweisen kann, die einerseits durch Auslassung eine enorme Anzahl vortäuscht – wir kommen zum Beispiel auf 28 an – andererseits aber auf einem Bahnsteig dann auch gleich mal völlig wirre mehrfache Gleisnummern verteilt und diese wiederum gerne in Nord und Süd unterteilt. Was tut man nicht alles, um die Passagiere zu verwirren – sie zum Beispiel durch eine unscheinbar kleine Tür zusätzlich durch das Hauptgebäude jagen...aber auch darüber kann der langerprobte Bahnprofi nur noch lässig die Schultern zucken. Und Fräulein Annika macht nicht mal das.