Der
Literaturrückblick für den Monat November, wie gewohnt beschränkt auf die
fiktionalen Lesefrüchte.
Paul
Léautaud: Literarisches Tagebuch 1893-1956.
Léautaud
(1872-1956), jahrzehntelanger Redakteur und vor allem Theaterkritiker des „Mercure
de France“, war ein eigenwilliger Kauz, der am Rande von Paris in einem kleinen
Anwesen mit teils über fünfzig Tieren lebte – sie im Erdgeschoss, er im ersten
Stock –, zunehmend das Aussehen eines Clochards annahm und je älter, desto
schroffer in seinen Urteilen wurde. Die Veröffentlichung seines Tagebuchs,
teils noch zu Lebzeiten, war eine Sensation. Der Band aus der legendären
rowohlt-Reihe „das neue buch“ versammelt eine Auswahl, deren Reiz vor allem das
Wiederbegegnen mit vielen Größen der französischen Literatur von Huysmans über
Apollinaire, von Gide bis Bréton, von Claudel bis Valéry ist, begleitet von den
wenig zurückhaltenden Beobachtungen Léautauds. Für LiebhaberInnen der
französischen Kultur.
Heliodor:
Die äthiopischen Abenteuer von Theagenes und Charikleia.
Der
gebildete Römer schätzte natürlich seinen Vergil und Ovid, aber wenn er etwas
zur Entspannung lesen wollte, griff er sicher lieber zu Autoren wie Heliodor,
über den wir wenig wissen, außer seiner typischen Multikulti-Herkunft: er war
ein Phönizier, der im Römischen Reich auf griechisch schrieb – über Ägypten und
Äthiopien zur Zeit der Perser. Deshalb hieß sein Abenteuerroman ursprünglich
schlicht „Aethiopica“ und bietet alles, was von so einem Werk in der Spätantike
erwartet wurde: Das Liebespaar Charikleia und Theagenes gerät von Beginn an
(der prompte Einstieg sind die Überreste eines Gemetzels) von einem Schlamassel
ins nächste: Raubüberfälle, Entführungen, Intrigen, Verwechslungen,
Gefangenschaft, Folter, Todesurteile – um am Ende dann doch glücklich zu enden.
Die kolportagehafte Aneinanderreihung von Schicksalsschlägen, gemischt mit
subtiler Erotik und sehr viel Exotik hat auch gut 1700 Jahre später nichts von
Ihrem Reiz verloren.
Aelian:
Die tanzenden Pferde von Sybaris. Tiergeschichten.
Und
gleich noch ein äußerst beliebtes Genre der Römer, Anthologien von Anekdoten,
denn Aelian (um 170 – 230), eigentlich Claudius Aelianus, schrieb keine Fabeln,
sondern sammelte „Eigenheiten der Tiere“, wie das Buch im Original hieß – er
veröffentlichte auch ein Pendant mit „Bunten Geschichten“ über Menschen. Das
verwundert vielleicht, denn Aelianus war ein stadtrömischer Philosoph, der
sophistischen Richtung angehörend, andere Werke widmen sich der Vorsehung oder
klagten Kaiser Elagabal an, doch auch aus dem Wissen über Tiere sollten die
Mitmenschen ihre Lehren ziehen. Und so reihte Aelianus Kurioses und
Erstaunliches, Bizarres und Wunderliches aus der Tierwelt ungeordnet
aneinander, noch heute ein absolutes Lesevergnügen und Schmuck für jedes
Partygespräch – und wenn sich der Zuhörer an Geschichten wie zum Beispiel derjenigen
vom Seeigel stört, den man laut Aelianus in seine Einzelteile zerlegen und dann
ins Wasser werfen kann, wo er wieder von allein zusammenwächst, dann antworte
man ihm einfach mit dessen eigenen Worten: „Es ist meine Eigenheit, dass ich
nicht Sklave des Urteils oder des Gutdünkens anderer bin.“
Hans
Fallada: Der eiserne Gustav.
Wer
Fallada (1893-1947) schon lange kennt, wundert sich noch immer, dass er erst
über das Ausland vermittelt endlich auch in Deutschland reichlich spät die
verdiente Anerkennung der Kritik erhält. Ein großes Publikum hatte er schon
immer, was vielleicht zu früheren Fehlurteilen beitrug. Der Klappentext der
Taschenbuchausgabe von 1979 nennt Falladas Roman „volkstümlich“ und verweist
auf die Verfilmung mit Heinz Rühmann (1958), beides symptomatisch für die
Verkennung. Denn der eiserne Gustav ist keineswegs ein jovialer Kutscher mit
Berliner Schnauze, sondern das Portrait eines starren Überlebten, der vom
Mythos seiner preußischen Militärzeit nicht loskommt und damit seine Familie
und das Glück seiner Kinder zerstört. In seiner unübertrefflichen Art schildert
Fallada illusionslos das Leben der Kleinbürgerschicht am unteren
Gesellschaftsrand zwischen 1914 und 1928, deren Sicherheiten ebenso
verschwinden wie Gustav Hackendahls Droschkengewerbe.
George
Orwell: Mein Katalonien. Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg.
Sechs
Monate kämpfte George Orwell (1903-1950) auf Seiten der Republik im spanischen
Bürgerkrieg, nach einer Verwundung kehrte er zurück nach England und verfasste
– was den besonderen Reiz des Buches ausmacht – 1938 seinen Bericht über das
Erlebte, noch bevor das demokratische Spanien untergegangen war. Eine der
üblichen Kriegsmemoiren darf man von Orwell nicht erwarten, nicht nur fehlt
jeglicher Heroismus, die meiste Zeit ist geprägt von Langeweile und Verdruss:
über die mangelnde Ausrüstung, Planung, die Streitereien der Republikaner in
der Etappe. Es wird kaum gekämpft in diesem Buch und wenn, dann recht
erfolglos. Orwell war beeindruckt von der Solidarität der Miliz an der Front,
aber enttäuscht von den Zerwürfnissen der Politiker in Barcelona. Detailliert
beschreibt er die Machtkämpfe, die letztlich von den Kommunisten initiiert,
jede Aussicht auf den Sieg gegen Franco verunmöglichen sollten. Orwell zog
daraus die Konsequenz, vor dem Stalinismus genau so zu warnen wie vor den
europäischen Faschismen. Er blieb ein mahnender Außenseiter – der im Buch immer
auch die Subjektivität seiner Beobachtungen hervorhob. Sollte wieder und wieder
gelesen werden.
Egon
Erwin Kisch: Geschichten aus sieben Ghettos.
Ein
Band aus einer der verdienstvollsten Buchreihen überhaupt, Fischers „Bibliothek
der verbrannten Bücher“, die viele Schätze der Exilliteratur gehoben und
bewahrt hat. Kisch (1885 – 1948), der unerreichte Meister der literarischen
Reportage, reiht Erzählungen über jüdisches Leben aus vielen Jahrhunderten, in
der tragikomischen Mischung aus Witz und Katastrophe, die sich bewusst zu sein
scheint, dass noch viel Schlimmeres kommen würde – allein die Veröffentlichung
des Bandes 1934, natürlich nur noch im Ausland möglich, war ein Statement des
engagierten Schriftstellers Kisch, und unter der erzählerischen Leichtigkeit verbirgt
sich bereits die Bedrohung – tatsächlich wird vieles, was Kisch hier schildert,
wenige Jahre später vollends verschwunden sein.
Sylvie
Germain: Tobie des marais.
Tobie
aus den Sümpfen ist der jüngste Spross einer Familie, deren verstorbene Mitglieder
verschwinden – sie fallen ins Meer, in die Massengräber der Nazis, ihr
Schicksal bleibt oft ungeklärt wie ihre Körper unauffindbar. Sarra ist dagegen
mit einem anderen fatalen Problem konfrontiert: jeder Junge, der sie küsst,
verfällt unweigerlich dem Tod. Der geheimnisvolle Raphael taucht auf, führt die
beiden Gezeichneten zueinander und erlöst damit sie und ihre Familien.
Angelehnt an biblische Vorbilder schreibt Sylvie Germain (geb. 1954) einen
ziemlich ungewöhnlichen tragisch-melancholischen Gegenwartsroman in wechselndem
drastischen und poetischen Realismus mit liebevoller Charakterisierung ihrer
Figuren.