Dienstag, 5. Dezember 2017

Lektüremonat November 2017.


Der Literaturrückblick für den Monat November, wie gewohnt beschränkt auf die fiktionalen Lesefrüchte.

Paul Léautaud: Literarisches Tagebuch 1893-1956.

Léautaud (1872-1956), jahrzehntelanger Redakteur und vor allem Theaterkritiker des „Mercure de France“, war ein eigenwilliger Kauz, der am Rande von Paris in einem kleinen Anwesen mit teils über fünfzig Tieren lebte – sie im Erdgeschoss, er im ersten Stock –, zunehmend das Aussehen eines Clochards annahm und je älter, desto schroffer in seinen Urteilen wurde. Die Veröffentlichung seines Tagebuchs, teils noch zu Lebzeiten, war eine Sensation. Der Band aus der legendären rowohlt-Reihe „das neue buch“ versammelt eine Auswahl, deren Reiz vor allem das Wiederbegegnen mit vielen Größen der französischen Literatur von Huysmans über Apollinaire, von Gide bis Bréton, von Claudel bis Valéry ist, begleitet von den wenig zurückhaltenden Beobachtungen Léautauds. Für LiebhaberInnen der französischen Kultur.

Heliodor: Die äthiopischen Abenteuer von Theagenes und Charikleia.

Der gebildete Römer schätzte natürlich seinen Vergil und Ovid, aber wenn er etwas zur Entspannung lesen wollte, griff er sicher lieber zu Autoren wie Heliodor, über den wir wenig wissen, außer seiner typischen Multikulti-Herkunft: er war ein Phönizier, der im Römischen Reich auf griechisch schrieb – über Ägypten und Äthiopien zur Zeit der Perser. Deshalb hieß sein Abenteuerroman ursprünglich schlicht „Aethiopica“ und bietet alles, was von so einem Werk in der Spätantike erwartet wurde: Das Liebespaar Charikleia und Theagenes gerät von Beginn an (der prompte Einstieg sind die Überreste eines Gemetzels) von einem Schlamassel ins nächste: Raubüberfälle, Entführungen, Intrigen, Verwechslungen, Gefangenschaft, Folter, Todesurteile – um am Ende dann doch glücklich zu enden. Die kolportagehafte Aneinanderreihung von Schicksalsschlägen, gemischt mit subtiler Erotik und sehr viel Exotik hat auch gut 1700 Jahre später nichts von Ihrem Reiz verloren.    

Aelian: Die tanzenden Pferde von Sybaris. Tiergeschichten.

Und gleich noch ein äußerst beliebtes Genre der Römer, Anthologien von Anekdoten, denn Aelian (um 170 – 230), eigentlich Claudius Aelianus, schrieb keine Fabeln, sondern sammelte „Eigenheiten der Tiere“, wie das Buch im Original hieß – er veröffentlichte auch ein Pendant mit „Bunten Geschichten“ über Menschen. Das verwundert vielleicht, denn Aelianus war ein stadtrömischer Philosoph, der sophistischen Richtung angehörend, andere Werke widmen sich der Vorsehung oder klagten Kaiser Elagabal an, doch auch aus dem Wissen über Tiere sollten die Mitmenschen ihre Lehren ziehen. Und so reihte Aelianus Kurioses und Erstaunliches, Bizarres und Wunderliches aus der Tierwelt ungeordnet aneinander, noch heute ein absolutes Lesevergnügen und Schmuck für jedes Partygespräch – und wenn sich der Zuhörer an Geschichten wie zum Beispiel derjenigen vom Seeigel stört, den man laut Aelianus in seine Einzelteile zerlegen und dann ins Wasser werfen kann, wo er wieder von allein zusammenwächst, dann antworte man ihm einfach mit dessen eigenen Worten: „Es ist meine Eigenheit, dass ich nicht Sklave des Urteils oder des Gutdünkens anderer bin.“  
 


Hans Fallada: Der eiserne Gustav.

Wer Fallada (1893-1947) schon lange kennt, wundert sich noch immer, dass er erst über das Ausland vermittelt endlich auch in Deutschland reichlich spät die verdiente Anerkennung der Kritik erhält. Ein großes Publikum hatte er schon immer, was vielleicht zu früheren Fehlurteilen beitrug. Der Klappentext der Taschenbuchausgabe von 1979 nennt Falladas Roman „volkstümlich“ und verweist auf die Verfilmung mit Heinz Rühmann (1958), beides symptomatisch für die Verkennung. Denn der eiserne Gustav ist keineswegs ein jovialer Kutscher mit Berliner Schnauze, sondern das Portrait eines starren Überlebten, der vom Mythos seiner preußischen Militärzeit nicht loskommt und damit seine Familie und das Glück seiner Kinder zerstört. In seiner unübertrefflichen Art schildert Fallada illusionslos das Leben der Kleinbürgerschicht am unteren Gesellschaftsrand zwischen 1914 und 1928, deren Sicherheiten ebenso verschwinden wie Gustav Hackendahls Droschkengewerbe. 

George Orwell: Mein Katalonien. Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg.

Sechs Monate kämpfte George Orwell (1903-1950) auf Seiten der Republik im spanischen Bürgerkrieg, nach einer Verwundung kehrte er zurück nach England und verfasste – was den besonderen Reiz des Buches ausmacht – 1938 seinen Bericht über das Erlebte, noch bevor das demokratische Spanien untergegangen war. Eine der üblichen Kriegsmemoiren darf man von Orwell nicht erwarten, nicht nur fehlt jeglicher Heroismus, die meiste Zeit ist geprägt von Langeweile und Verdruss: über die mangelnde Ausrüstung, Planung, die Streitereien der Republikaner in der Etappe. Es wird kaum gekämpft in diesem Buch und wenn, dann recht erfolglos. Orwell war beeindruckt von der Solidarität der Miliz an der Front, aber enttäuscht von den Zerwürfnissen der Politiker in Barcelona. Detailliert beschreibt er die Machtkämpfe, die letztlich von den Kommunisten initiiert, jede Aussicht auf den Sieg gegen Franco verunmöglichen sollten. Orwell zog daraus die Konsequenz, vor dem Stalinismus genau so zu warnen wie vor den europäischen Faschismen. Er blieb ein mahnender Außenseiter – der im Buch immer auch die Subjektivität seiner Beobachtungen hervorhob. Sollte wieder und wieder gelesen werden.  

Egon Erwin Kisch: Geschichten aus sieben Ghettos.

Ein Band aus einer der verdienstvollsten Buchreihen überhaupt, Fischers „Bibliothek der verbrannten Bücher“, die viele Schätze der Exilliteratur gehoben und bewahrt hat. Kisch (1885 – 1948), der unerreichte Meister der literarischen Reportage, reiht Erzählungen über jüdisches Leben aus vielen Jahrhunderten, in der tragikomischen Mischung aus Witz und Katastrophe, die sich bewusst zu sein scheint, dass noch viel Schlimmeres kommen würde – allein die Veröffentlichung des Bandes 1934, natürlich nur noch im Ausland möglich, war ein Statement des engagierten Schriftstellers Kisch, und unter der erzählerischen Leichtigkeit verbirgt sich bereits die Bedrohung – tatsächlich wird vieles, was Kisch hier schildert, wenige Jahre später vollends verschwunden sein.  

Sylvie Germain: Tobie des marais.

Tobie aus den Sümpfen ist der jüngste Spross einer Familie, deren verstorbene Mitglieder verschwinden – sie fallen ins Meer, in die Massengräber der Nazis, ihr Schicksal bleibt oft ungeklärt wie ihre Körper unauffindbar. Sarra ist dagegen mit einem anderen fatalen Problem konfrontiert: jeder Junge, der sie küsst, verfällt unweigerlich dem Tod. Der geheimnisvolle Raphael taucht auf, führt die beiden Gezeichneten zueinander und erlöst damit sie und ihre Familien. Angelehnt an biblische Vorbilder schreibt Sylvie Germain (geb. 1954) einen ziemlich ungewöhnlichen tragisch-melancholischen Gegenwartsroman in wechselndem drastischen und poetischen Realismus mit liebevoller Charakterisierung ihrer Figuren.    
 
Lektüremonat Oktober 2017.                    

 

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