Montag, 8. Januar 2018

Lektüremonat Dezember 2017.


 
Erich Maria Remarque: Der Feind. Erzählungen.

Remarque: Der Feind.

Das schmale Bändchen versammelt mehrere teils vorher unveröffentlichte Erzählungen Remarques (1898-1970) zur Thematik des 1.Weltkriegs. Hervorgehoben ist zumeist nicht die Konzentration auf das Frontgeschehen, sondern die zerstörerische Wirkung der traumatischen Erlebnisse für den Einzelnen und damit für die Gesellschaft insgesamt in der Zeit nach dem Krieg – die warnende Wirkung Remarques betont er in den Geschichten oft deutlich, sein Anliegen war das „Nie wieder!“. Gehör fand er damit in seinem Heimatland nicht, wo er zur Hassfigur der nationalistischen Rechten wurde, die längst den nächsten Krieg vorbereitete. Es bleibt den folgenden Generationen überlassen, Remarques Erbe und Haltung zu bewahren. 

The Mammoth Book of Vampire Stories by Women.

Eingeleitet von niemand Geringeren als der legendären Ingrid Pitt, versammelt dieser Band der niemals dünnen Mammoth-Reihe englischsprachige Vampirerzählungen überwiegend des 20. Jahrhunderts aus weiblicher Sicht und Feder. Wie das bei Anthologien nun mal so ist, schwankt die Qualität: neben Perlen liegt manches zum Überblättern, insgesamt aber ein sehr guter Überblick zwischen Splatter und Avantgarde, amüsantem Trash, gehaltvoller und erzählerisch gekonnt umgesetzter Idee. Gute-Nacht-Lektüre für Schlaflose. 

Hans Herbert Grimm: Schlump.

Ein Roman, der unter dem Erfolg von Remarques „Im Westen nichts Neues“ gelitten hat und infolgedessen völlig in Vergessenheit geriet. Hans Herbert Grimms (1896-1950) Antikriegsbuch kommt, wie schon der Titel suggeriert, anfangs wie ein Schelmenroman daher, doch der junge Schlump hat diesen Namen ohne sein Zutun von einem Polizisten erhalten und ebenso ergeht es ihm im Folgenden, als er – freiwillig – aus Naivität in die absurden Strudel des Weltkriegs hineingerät, die sich jedoch als zunehmend brutaler und bedrohlicher herausstellen. Schlump bleibt seltsam außen vor, während die Welt um ihn herum zerbricht, er rettet sich in Frauengeschichten und kleinere Gaunereien, so dass es ihm gelingt, auch mehrere Fronteinsätze und Verletzungen zu überleben, Hass auf den Feind ist ihm komplett fremd. Das in lakonischer Sprache verfasste Buch wurde nun nach über achtzig Jahren wieder aufgelegt und fügt der Antikriegsliteratur zum Ersten Weltkrieg ein außergewöhnliches Zeugnis hinzu – mitsamt dem originalen graphisch genialen Buchumschlag. 

Brian Moore: Katholiken.

Bücher, die in einer inzwischen vergangenen Zukunft spielen, wirken immer etwas seltsam. Brian Moores (1921-1999) kurzer Roman erschien im Jahr 1972 und handelt von einem amerikanischen Priester des Jahres 2000, der im Auftrag Roms in ein abgelegenes irisches Kloster reist, das sich gegen die Reformen der Kirche wehrt und auf Wunsch der Bevölkerung an alten Riten und Traditionen festhält. Moore verhandelt folglich keine Science-Fiction und es fällt auch gar nicht recht auf, dass es keine Computer und Handys gibt, weil es irrelevant ist. Stattdessen wird ein zeitloser und schon gar nicht rein religiöser Konflikt präsentiert, zwischen vermeintlichem Fortschritt und angeblichem Konservatismus. Moores Kirche ist zwar noch katholisch, aber sehr ökumenisch, zahlreiche trennende Traditionen wurden im Sinne der Versöhnung abgeschafft. Die Mönche, keineswegs religiöse Fanatiker, sind überaltert, teils starr, teils tief im Glauben verankert und verbunden mit den Gläubigen des Umlandes. Sie verkörpern ein einfaches, bescheidenes Leben. Doch das neue Rom setzt sich mit subtiler Drohung durch, auch das Kloster wird sich den Zeitläuften nicht verschließen können. Moores Roman nimmt nicht Partei – der Priester ist sympathisch, aber setzt er nicht das entkernte Neue selbst doktrinär durch? Und hat sich das Modell der Mönche nicht tatsächlich überholt? Novizen gibt es schon lange nicht mehr. Aber liegen sie deshalb mit ihrem Festhalten am Überlieferten falsch? Sehr nachdenklich machender, kontroverser Text über ein ständiges Dilemma.  

Thomas Lehr: 42.

Eine Besuchergruppe überlebt einen Unfall im Genfer CERN – per Zufall sind 70 Menschen in individuelle Zeitblasen eingeschlossen, während die Welt um sie herum um 12h 47min 42s stehengeblieben ist, das Ausmaß der Katastrophe und ihre Dauer sind ihnen unbekannt. Doch nach fünf Jahren gibt es eine kurze Bewegung – für drei Sekunden – und damit Hoffnung auf Befreiung. Thomas Lehr (geb. 1957) weiß seine erzählerischen Pointen gut zu setzen, seine sprachlichen dagegen eher nicht. Offenbar aus Angst davor, er käme in Verdacht, reine Science-Fiction geschrieben zu haben – als ob das verwerflich wäre – erzählt er in einer angestrengten „literarischen“ Sprache, die das Vergnügen an der spannenden Geschichte bald abflauen lässt, bis hin zu grotesk plumpen Wortspielen. Auch inhaltlich wird man der vielen Redundanzen und zweifelhaften Männerphantasien irgendwann überdrüssig. Fazit: verschenkter Plot, der das erzählerische und philosophische Potential nicht ausschöpft, man greife besser zu einem Roman von  J.G. Ballard. 

Per Olof Sundman: Die Untersuchung.

Nordschweden in den 1950er Jahren. Der Gemeinderat und örtliche Vorsitzende des Temperenzausschusses muss die gesetzlich geforderte Untersuchung wegen möglichen Alkoholmissbrauches gegen den Bauleiter des neuen Kraftwerkes durchführen. Obwohl es ihm nicht an Selbstbewusstsein und Indizien fehlt, ist sich Erik Olofsson unsicher, wie er sich dem Mann nähern soll, der aus einem ganz anderen Milieu stammt als er: Südschwede, Städter, Akademiker. Soll, muss oder darf er ihn gerade nicht anders behandeln als die ihm vertrauten Dorfbewohner? Mit kargen Mitteln erzählte Studie Sundmans (1922-1992), spannend und atmosphärisch. 

Anna Seghers: Die Hochzeit von Haiti. Karibische Geschichten.

Natürlich erinnert der Band nicht von ungefähr an Kleists Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“, deren Hintergrund Anna Seghers (1900-1983) hier gewissermaßen aus mehreren anderen Perspektiven schildert. In nüchterner Diktion berichtet sie aus der Sicht einiger Beteiligter vom Scheitern der Sklavenrevolten auf Haiti – unter dem berühmten Toussaint Louverture – in Guadeloupe und Jamaika und damit über das Ende der Französischen Revolution in den Kolonien mit ihren Ideen von der Gleichheit der Menschen. Eine Geschichte des Verrats von Idealen in Geschichten, die einen leicht resignativen Zug erkennen lassen. 

Pavel Kohout: Die Einfälle der heiligen Klara.

Eine böhmische Kleinstadt 1966. An der Schule gibt es einen Skandal: Alle SchülerInnen der 8. Klasse haben bei der Mathearbeit hervorragend abgeschnitten. Doch dahinter verbirgt sich ein noch größeres Mysterium. Die naive Mitschülerin Klara hat vorher die Aufgaben gekannt – weil sie ihr „eingefallen“ waren. Es stellt sich bald heraus, dass Klara noch viele Dinge „einfallen“, die kurz darauf tatsächlich eintreten. Was ihr ziemlich egal ist, beschäftigt bald alle Einwohner, die Lottospieler, die Gläubigen und vor allem die staatlichen Behörden. Dann sagt Klara auch noch ein Erdbeben voraus… Bitterböse und sehr lustige Satire des tschechischen Autors Pavel Kohout (geb. 1928) – man ahnt, warum er das Land verlassen musste. 

Una Troy: Ein Sack voll Gold.

Die hochangesehene Industriellenfamilie und die ortsfremden Außenseiter einer Kleinbürgerfamilie in einem irischen Dorf sind auf ungute Weise enger miteinander verbandelt, ohne es zu wissen. Komplikationen, Komplikationen. Unterhaltungsroman von Una Troy (1910-1993), nicht einmal eine gute Bahnlektüre, da die vorbeiziehende Landschaft meist spannender ist. Wer bis zuletzt durchhält, darf noch ein bisschen zusätzlich unmotivierten Kitsch miterleben. 

Mario Giordano: Karakum. Abenteuer in der Salzwüste.

Jugendroman von Mario Giordano (geb. 1963) nach dem Drehbuch des gleichnamigen Films von Arend Agthe. Robert soll seinen Vater auf dessen Baustelle in Turkmenistan besuchen. Doch der kann ihn nicht am Flughafen abholen, sondern schickt den LKW-Fahrer Pjotr. Gemeinsam mit dessen Neffen geht es durch die Wüste – eine gefährliche Fahrt. Dann gibt auch noch der LKW den Geist auf und der zwielichtige Pjotr verschwindet… Spannend, das grundlegende Element der Verständigungsschwierigkeiten zwischen den beiden Kindern (und deren Überwindung) geht im Buch allerdings etwas verloren. 

Das letzte Buch des Jahres 2017:
Renate Welsh - Einmal sechzehn und nie wieder.
Renate Welsh: Einmal sechzehn und nie wieder.

Zum Glück, möchte man sagen. Was nicht am Buch der österreichischen Autorin (geb. 1937) liegt, sondern an dem Alter, in dem alles so kompliziert und tragisch überhöht erscheint. Dass wir uns hier im Österreich der 1970er Jahre befinden, bemerkt man lediglich an einigen politischen Äußerungen und an den Röcken, die die Mädchen tragen. Ansonsten war die Pubertät damals auch nicht schöner. Coming-of-Age-Roman für die Jugend.            

Lektüremonat November 2017


      

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